1.1 (ma11p): Die Bildung des ersten Kabinetts Marx

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Die Bildung des ersten Kabinetts Marx

Der Sturz des Kabinetts Stresemann durch eine heterogene Oppositionsmehrheit aus Sozialdemokraten, Deutschnationalen, Bayerischer Volkspartei und Kommunisten am 23. November 1923 lähmte die Handlungsfähigkeit der Reichsregierung in einem Augenblick, in dem Entscheidungen von weittragender Bedeutung getroffen werden mußten. Die bedrängte Lage des besetzten Gebiets, die Handhabung des militärischen Ausnahmezustandes, die Durchführung der eben erst eingeleiteten Währungsreform und die äußerst kritische Situation der Staatsfinanzen stellten die Reichspolitik vor Aufgaben, die von einem nur geschäftsführenden Kabinett nicht gemeistert werden konnten. Indessen waren die Bemühungen um eine schnelle Beendigung der Regierungskrise angesichts der verschärften parteipolitischen Gegensätze und der bis in die einzelnen Fraktionen hineinreichenden Meinungsverschiedenheiten in der Koalitionsfrage mit außerordentlichen Schwierigkeiten verbunden. Da eine Erneuerung der Anfang November auseinandergebrochenen Großen Koalition zwischen den bürgerlichen Mittelparteien (DDP, Zentrum, DVP) und der SPD von vornherein aussichtslos schien, konzentrierten sich die Verhandlungen in den Tagen nach der Demission Stresemanns auf die Bildung eines rein bürgerlichen Kabinetts mit oder ohne deutschnationale Beteiligung1. Von den bisherigen Regierungsparteien tendierte die DVP am stärksten zur Einbeziehung der Deutschnationalen in die Koalition. Dagegen bestanden im Zentrum und bei den Demokraten erhebliche Bedenken gegen ein Regierungsbündnis mit der DNVP, wenngleich sich auch in diesen Parteien ein deutlicher Zug nach rechts bemerkbar machte.

Nachdem die Zentrumsfraktion es abgelehnt hatte, den neuen Kanzler zu stellen und die Führung der Koalitionsverhandlungen zu übernehmen2, wurde am 24. November der volksparteiliche Abgeordnete Siegfried v. Kardorff von seiten des Zentrums und der DDP dem Reichspräsidenten als geeigneter Kanzlerkandidat empfohlen. Kardorff nahm sogleich Kontakt zu den Deutschnationalen auf, die ihm jedoch die erbetene Unterstützung verweigerten, wobei der Umstand eine Rolle spielte, daß Kardorff nach dem Kapp-Putsch aus der DNVP ausgetreten war. Nach Beratung mit seiner Fraktion gab Kardorff daraufhin[VIII] seinen Verhandlungsauftrag zurück3. Auf eine Anregung Stresemanns, zuerst die Deutschnationalen mit der Regierungsbildung zu betrauen, hatte der Reichspräsident wegen unerfüllbarer Bedingungen der DNVP nicht eingehen wollen. Ebert, der inzwischen zu der Überzeugung gelangt war, daß eine schnelle Einigung der Parteien nicht zustande kommen würde, beauftragte am 25. November den parteilosen Reichsminister a. D. Heinrich Albert mit der Bildung eines nicht fraktionsgebundenen Kabinetts, doch scheiterte Alberts Versuch schon im Ansatz an der ablehnenden Haltung der Parteien4. Die vorübergehend auftauchende Kandidatur des Innenministers Jarres (DVP), der bei der DNVP und den Rechtsverbänden Sympathien besaß, mußte wegen unüberwindlicher Bedenken des Zentrums und der DDP fallengelassen werden.

Schließlich einigte man sich auf den christlichen Gewerkschaftsführer Adam Stegerwald, und am 27. November nahmen die Fraktionen der bürgerlichen Arbeitsgemeinschaft des Reichstags direkte Koalitionsgespräche mit der DNVP auf. Dabei zeigten die Deutschnationalen eine bemerkenswerte Konzessionsbereitschaft: Sie erklärten, sich auf den Boden der Weimarer Verfassung stellen zu wollen, sie akzeptierten den bisher von ihnen bekämpften Stresemann als Außenminister und bestanden nicht mehr auf der sofortigen „Zerreißung“ des Versailler Vertrags. Die Verhandlungen scheiterten dann aber daran, daß die DNVP die Aufnahme deutschnationaler Minister auch in die preußische Regierung verlangte, während die bürgerlichen Regierungsfraktionen in Preußen nicht gewillt waren, die Koalition mit den Sozialdemokraten aufzulösen5.

Damit hatte sich der Gedanke der „Bürgerblock“-Regierung als undurchführbar erwiesen, und es blieb nichts anderes übrig, als die Rekonstruktion der bürgerlichen Koalition der Mitte zu versuchen. Stegerwald stellte seine Sondierungen am 29. November ein und empfahl dem Reichspräsidenten, das Kanzleramt einer Persönlichkeit zu übertragen, die innenpolitisch weniger umstritten sei als er6. Eine solche Persönlichkeit fand sich in dem Zentrumsvorsitzenden Marx, dem es schon am 30. November gelang, ein Minderheitskabinett auf der Basis der bisherigen Koalition aus DDP, Zentrum und DVP zusammenzustellen. Die Bayerische Volkspartei entsandte ein Mitglied ihrer Reichstagsfraktion (Emminger) als „Fachminister ohne parteipolitische Bindung“ in die Regierung Marx7. Eine förmliche Koalitionsvereinbarung wurde nicht getroffen8.

[IX] Wilhelm Marx9, am 15. Januar 1863 als Sohn eines Volksschulrektors in Köln geboren, hatte eine erfolgreiche Richterlaufbahn absolviert und zuletzt die Stelle eines Senatspräsidenten am Berliner Kammergericht bekleidet, bevor er mit der Übernahme des Kanzleramts aus dem preußischen Justizdienst ausgeschieden war. Sein Aufstieg als rheinischer Zentrumspolitiker war eng verknüpft mit intensiver Betätigung auf kultur- und schulpolitischem Gebiet und mit starkem Engagement im katholischen Vereinswesen. Als Vorkämpfer der Konfessionsschule leitete Marx die von ihm 1911 begründete „Katholische Schulorganisation“, und 1922 übernahm er auch den Vorsitz des „Volksvereins für das katholische Deutschland“. Infolge langjähriger Abgeordnetentätigkeit verfügte er über eine große parlamentarische Erfahrung. Von 1899 bis 1920 hatte er dem preußischen Abgeordnetenhaus angehört, seit 1910 war er Mitglied des Reichstags. Nach dem Tode Trimborns wurde Marx im September 1921 zum Vorsitzenden der Zentrumsfraktion des Reichstags und im Januar 1922 zum Vorsitzenden der Zentrumspartei gewählt.

Die Urteile seiner Mitarbeiter und der zeitgenössischen Beobachter über Bedeutung und Grenzen seiner Persönlichkeit zeigen eine weitgehende Übereinstimmung10. Er galt nicht als Staatsmann im anspruchsvollen Sinne des Wortes. Der schlichten, bedächtigen Art seines Auftretens und seiner Rede fehlten mitreißender Schwung und massenwirksame Ausstrahlung. Auch vermißte man bei ihm gelegentlich Entschlußkraft und entschiedenen Führungswillen. Hingegen rühmte man allgemein sein freundliches, liebenswürdiges Wesen, seine Besonnenheit und Sachlichkeit, seine unbedingte Loyalität und Zuverlässigkeit – Eigenschaften, die ihm auch bei politischen Gegnern ein hohes Maß an persönlichem Respekt verschafften. Entsprechend der Mittlerfunktion, die dem Zentrum im Parteiensystem und in den wechselnden Koalitionen der Weimarer Republik zufiel, trat Marx als konsequenter Verfechter eines politischen Mittelkurses auf, was ihn als Leiter eines bürgerlichen Minderheitskabinetts besonders geeignet erscheinen lassen mochte. Er bemühte sich um eine faire Zusammenarbeit mit der parlamentarischen Opposition und besaß gute Kontakte vor allem zu den gemäßigten Führern der Sozialdemokratie. Die ihm als Kanzler nach Verfassung und Geschäftsordnung zustehende Richtlinienkompetenz handhabte Marx mit der ihm eigenen Behutsamkeit. Seinen Ministern räumte er in der Führung ihrer Ressorts einen verhältnismäßig weiten Spielraum ein. Stresemann und Luther, die beiden überragenden Figuren des Kabinetts, fanden in ihm eine zuverlässige Stütze ihrer Politik. Seine Stärke lag in der Anbahnung politischer Kompromisse, im Ausgleichen sachlicher Gegensätze und persönlicher Differenzen. Er schätzte die offene Aussprache[X] und das geduldige Verhandeln mit dem Ziel der gütlichen Einigung. Bei den überaus zahlreichen Kabinettsberatungen hielt sich Marx in der Regel zurück und begnügte sich mit der Rolle des Verhandlungsleiters, doch verzichtete er nicht darauf, bei Fragen von grundsätzlicher Bedeutung seine eigene Überzeugung zur Geltung zu bringen. Die große Aufgabe seiner Kanzlerschaft sah er in der Durchführung des Dawes-Plans und in der Befreiung seiner rheinischen Heimat vom Druck alliierter Sanktionen. Am Verhandlungserfolg der deutschen Delegation auf der Londoner Konferenz im August 1924 war er neben Stresemann und Luther maßgeblich beteiligt.

Die Ministerliste der Regierung Marx ist mit der des letzten Stresemann-Kabinetts weitgehend identisch. Auf ausdrücklichen Wunsch des Zentrums, dem sich die DVP und die DDP anschlossen, übernahm Gustav Stresemann die Leitung des Auswärtigen Amts11, das er schon als Kanzler kommissarisch geführt hatte, so daß die außenpolitische Kontinuität gesichert war. Karl Jarres, wegen seiner Vorschläge zur Lösung der Rheinlandkrise im Herbst 1923 von seinen Gegnern als „Versackungspolitiker“ apostrophiert, war erst am 11. November 1923 von Stresemann zum Innenminister ernannt worden; er behielt dieses Amt auch unter Marx und bekleidete daneben die Stelle eines Vizekanzlers. Hans Luther, der sich als Finanzminister im zweiten Kabinett Stresemann durch sachkundige Führung seines Ressorts und durch die energische Inangriffnahme der Währungsreform allgemeine Anerkennung erworben hatte, wurde erneut an die Spitze des Reichsfinanzministeriums berufen. Die dienstältesten Mitglieder des Kabinetts waren Reichswehrminister Otto Geßler und Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns; beide verwalteten ihr Amt ununterbrochen seit dem Jahre 1920. Rudolf Oeser wurde als Verkehrsminister bestätigt. Anton Höfle wurde wieder Postminister und übernahm zusätzlich die kommissarische Leitung des erst unter Stresemann geschaffenen Reichsministeriums für die besetzten Gebiete. Der ostpreußische Rittergutsbesitzer Gerhard Graf v. Kanitz blieb Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, da der deutschnationale Reichstagsabgeordnete Schiele die ihm von Marx angebotene Übernahme des Landwirtschaftsressorts auf Veranlassung seiner Fraktion abgelehnt hatte12. Die einzigen Neulinge im Kabinett waren Hamm und Emminger. Eduard Hamm, von 1919 bis 1922 bayerischer Handelsminister und unter Cuno Staatssekretär in der Reichskanzlei, erhielt den Posten des Wirtschaftsministers. Der bayerische Jurist und BVP-Abgeordnete Erich Emminger wurde zum Reichsjustizminister berufen; mit seinem Eintritt in das Kabinett verband sich die Hoffnung auf eine baldige Beilegung des Verfassungskonflikts zwischen dem Reich und Bayern. Staatssekretär in der Reichskanzlei wurde der bisherige Ministerialdirektor im preußischen Wohlfahrtsministerium Franz Bracht, und als Pressechef holte sich Marx den Direktor der „Germania“ Karl Spiecker. In dem so zusammengesetzten Kabinett war das Zentrum durch den Reichskanzler und die Minister Brauns und Höfle vertreten, die DDP durch Geßler,[XI] Oeser und Hamm, die DVP durch Stresemann und Jarres, die BVP durch Emminger. Luther und Graf Kanitz waren parteilos; Kanitz hatte bis zu seinem Eintritt in die Reichsregierung der DNVP angehört.

Zu den vordringlichsten Aufgaben des neuen Kabinetts gehörten die Fortführung der Währungsreform sowie die Sanierung der Staatsfinanzen. Zur Aufrechterhaltung der Währungsstabilität mußte vor allem der Reichshaushalt durch rigorose Ausgabensenkungen und drastische Einnahmensteigerungen wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Außerdem galt es, das durch die Inflation zerrüttete Wirtschaftsleben in normale Bahnen zu lenken und die Arbeitsproduktivität zu erhöhen. Vom Erfolg dieser Maßnahmen hing in entscheidendem Maße die Konsolidierung der innenpolitischen Verhältnisse ab.

Fußnoten

1

In den Akten der Reichskanzlei befinden sich außer einigen Zeitungsausschnitten keine Vorgänge über die Neubildung der Reichsregierung.

2

So hatte sich der Zentrumsvorsitzende Wilhelm Marx am 24.11.23 vormittags geweigert, einen Auftrag Eberts zur Regierungsbildung anzunehmen; Erinnerungsbericht Marx’ „Meine Berufung zum Reichskanzleramt am 1. Dezember 1923“ (geschrieben im Juli 1933) im Nachl. Marx , Nr. 57 (s. Anm. 9). Vgl. auch Germania Nr. 321 vom 24.11.23.

3

Über die Beauftragung und die Sondierungen Kardorffs einige Aufzeichnungen bzw. Schriftwechsel in den Akten der Deutschen Volkspartei – R 45 II /57  – und im Nachl. Siegfried  v. Kardorff, Nr. 16. Vgl. auch Die Zeit Nr. 269 vom 27.11.23.

4

Germania Nr. 323 vom 26. 11. und Nr. 324 vom 27.11.23; Die Zeit Nr. 269 vom 27. 11. und Nr. 270 vom 28.11.23.

5

Germania Nr. 324 vom 27. 11., Nr. 325 vom 28. 11. und Nr. 326 vom 29.11.23; Die Zeit Nr. 271 vom 29. 11. und Nr. 272 vom 30.11.23; Archiv der Deutschen Volkspartei, Berlin 1924, S. 25 ff.

6

Vgl. die Erklärung Stegerwalds in: Der Deutsche, Nr. 281 vom 1.12.23.

7

Mitteilung der Reichstagsfraktion der BVP in: Germania Nr. 328 vom 1.12.23.

8

Vgl. hierzu die Ausführungen des DDP-Abg. Haas in der Reichstagssitzung vom 5.12.23 (RT-Bd. 361, S. 12  311 ).

9

Der Nachlaß wird im Historischen Archiv der Stadt Köln aufbewahrt. Detailliertes Inventar: Der Nachlaß des Reichskanzlers Wilhelm Marx, bearb. von Hugo Stehkämper, Teil I–IV, Köln 1968 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln, Heft 52–55).

10

Vgl. etwa Otto Geßler, Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit, Stuttgart 1958, S. 382; Max v. Stockhausen, Sechs Jahre Reichskanzlei, Bonn 1954, S. 99, 139 f.; Karl Spiecker, Ein Jahr Marx. Die Rettung Deutschlands, Berlin 1925; Johannes Fischart, Das alte und das neue System, Bd. 4, Berlin 1925, S. 267 ff.; Wilhelm Keil, Erlebnisse eines Sozialdemokraten, Bd. 2, Stuttgart 1948, S. 290.

11

Vgl. das Schreiben Marx’ an Stresemann vom 24.11.23 und die Antwort Stresemanns vom 28.11.23 in: Stresemann, Vermächtnis I, S. 247 f.

12

Schreiben Schieles an Marx vom 29. und 30.11.23 im Nachl. Marx , Nr. 58.

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