2.112 (ma31p): Nr. 112 Der Reichsminister des Auswärtigen an Staatssekretär Pünder. 9. November 1926

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[314] Nr. 112
Der Reichsminister des Auswärtigen an Staatssekretär Pünder. 9. November 1926

R 43 I /421 , Bl. 5–7 Umdruck

[Zum Schreiben des Reichswirtschaftsministers vom 30.10.261.]

Über die in dem obenbezeichneten Schreiben des Herrn Reichswirtschaftsministers erwähnten, die gesetzliche Regelung der Ein- und Ausfuhr sowie der Herstellung und Lagerung von Kriegsgerät im Inland betreffenden Fragen, über die nach Ansicht des Herrn Reichswirtschaftsministers eine Kabinettsentscheidung herbeigeführt werden muß, hat inzwischen eine Chefbesprechung zwischen dem Herrn Reichswirtschaftsminister und mir stattgefunden, wobei der gesamte Fragenkomplex einer vorbereitenden eingehenden Erörterung unterzogen worden ist.

Was zunächst die Frage A (Schreiben des Herrn Reichswirtschaftsministers vom 30. Oktober 1926, Seite 2 unten) anlangt, so habe ich dabei meiner Auffassung dahin Ausdruck gegeben, daß diese Frage zweifellos im Sinne der ersten Alternative bejaht werden muß: In Ansehung der derzeitigen Lage erscheint eine Ergänzung des Gesetzes vom 26. Juni 1921 über die Ein- und Ausfuhr von Kriegsgerät unbedingt erforderlich. Der Herr Reichswirtschaftsminister weist in seinem Schreiben selber auf die offiziellen Zusagen hin, welche die Reichsregierung seit 1921 mehrfach sowohl hinsichtlich einer Ergänzung dieses Gesetzes als auch hinsichtlich der gesetzlichen Festlegung eines Verbotes bzw. einer Beschränkung für die Herstellung und den Besitz von Kriegsgerät im Inlande gegenüber den alliierten Regierungen abgegeben hat. Dazu kommt, daß seit mehr als zwei Monaten mit Zustimmung aller beteiligten Reichsressorts unter maßgebender Mitwirkung des Reichswirtschaftsministeriums sowie unter weitgehender Zuziehung von Vertretern der Industrie mit der I.M.K.K. umfangreiche, bis tief ins Einzelne gehende Verhandlungen im Gange sind, welche gerade die künftige gesetzliche Regelung zum Gegenstand haben. Bei dieser Sachlage erscheint es nicht möglich, jetzt die Erklärung abzugeben, daß wir eine gesetzliche Ergänzung des Gesetzes vom 26. Juni 1921 überhaupt nicht vornehmen wollen. Eine solche Erklärung könnte die Botschafterkonferenz zu der Feststellung nötigen, daß wir uns grundsätzlich weigern, die in Abschnitt VI und VII der Entwaffnungsnote vom 4. Juni 1925 enthaltenen wichtigen Forderungen2 zu erfüllen, und damit zweifellos zum offenen Konflikt führen, wodurch die Zurückziehung der I.M.K.K. unmöglich gemacht würde. Eine derartige Haltung der Reichsregierung würde um so weniger verständlich sein, als die Verhandlungen mit der I.M.K.K. bereits in weitgehendstem Maße zu einer Einigung geführt haben, die den Wünschen der deutschen Industrie Rechnung trägt.

[315] Zu den Fragen B, a und b (siehe Schreiben des Herrn Reichswirtschaftsministers vom 30. Oktober 1926 S. 3) ist allgemein zu bemerken, daß der oberste Grundsatz bei den Verhandlungen stets der gewesen ist, und auch weiterhin bleiben muß, eine Fassung der gesetzlichen Regelung zu erreichen, welche die berechtigten Interessen der Industrie wahrt. Dies ist bisher durch langsames, schrittweises Überwinden der Widerstände bei der Gegenseite auch in weitem Umfange gelungen. Dabei ist aber folgendes zu berücksichtigen. Das unmittelbar nach Erlaß des Gesetzes vom 26. Juni 1921 einsetzende Verlangen der Alliierten nach Ergänzung wurde in der Folgezeit von der Reichsregierung dilatorisch behandelt, weil es damals aussichtslos erschien, gegenüber den weitgehenden Forderungen der Gegenseite eine Regelung durchzusetzen, die unseren Wünschen Rechnung getragen hätte. Während dieses Zeitraums hat sich die Industrie praktisch an den Zustand, wie er durch das Gesetz von 1921 eingeführt wurde, gewöhnt, während sie andererseits die von ihrem Standpunkte aus begreifliche Besorgnis hegt, daß eine neue gesetzliche Regelung für sie eine gewisse Verschlechterung bedeuten würde. Sie gibt sich daher der Hoffnung hin, daß es möglich sein werde, durch weiteres Hinziehen den Erlaß des Gesetzes verschleppen oder wohl gar ganz verhindern zu können. Ich halte diese Erwartung nicht für berechtigt. Die Bereinigung des Entwaffnungsproblems ist inzwischen so weit gefördert, daß das Hinziehen einer ergänzenden Regelung des Begriffs Kriegsgerät jetzt nur das weitere Verbleiben der Kontroll-Kommission zur unmittelbaren Folge haben müßte. In diesem Wunsch, ein ergänzendes Gesetz zu vermeiden, macht die Industrie gewisse nachstehend dargelegte Einzelforderungen geltend, die im Hinblick auf Artikel 168 ff. des Vertrags von Versailles diplomatisch nicht vertretbar sind.

Nach alledem erscheint es meines Erachtens geboten, nunmehr einen Beschluß der Reichsregierung herbeizuführen, der die schleunige Beendigung der immer noch schwebenden Verhandlungen über den Begriff Kriegsgerät im Sinne der folgenden Darlegungen ermöglicht.

Dieses vorausgeschickt, ist im einzelnen zu den strittigen Fragen folgendes zu bemerken:

1. Ein- und Ausfuhr von Kriegsgerät.

In der dem Schreiben des Herrn Reichswirtschaftsministers vom 30. Oktober 1926 beigefügten Resolution des Vorstands des Reichsverbands der Deutschen Industrie3 ist unter c noch die Frage der Pistolen und Revolver genannt. In dieser Frage ist inzwischen eine grundsätzliche Einigung mit der I.M.K.K. herbeigeführt worden, die den Interessen der betreffenden Industrie entspricht.

Die Frage der Schiffsmaschinen (Ziffer 1 des Schreibens des Herrn Reichswirtschaftsministers auf Seite 2) liegt der Botschafterkonferenz zur Entscheidung vor. Eine uns günstige Lösung erscheint durchaus möglich4.

[316] In der Frage der Kriegsspezialmaschinen (Ziffer 2 ebenda) besteht auf deutscher und alliierter Seite ein grundsätzlicher Gegensatz der Rechtsauffassungen hinsichtlich der Sonderteile und des Sonderzubehörs. Unstreitig ist dabei, daß die Sonderteile und das Sonderzubehör, die von der Gegenseite als ausfuhrverbotenes Kriegsgerät angesehen werden, ausschließlich zur Herstellung von Waffen und Munition verwendbar sind. Nach unserer Ansicht umfaßt der Begriff Kriegsgerät im Artikel 170, wo von dessen Ein- und Ausfuhr die Rede ist, nicht die Maschinen und Maschinenteile, die zur Herstellung von Kriegsgerät verwendbar sind. Dies ergibt sich für uns durch argumentum e contrario aus Artikel 169, wo Waffen, Munition und Kriegsgerät einerseits und die für die Anfertigung von Kriegsgerät bestimmten Werkzeuge und Maschinen andererseits getrennt aufgeführt sind. Eine Möglichkeit, mit der I.M.K.K. hierüber zu einer Einigung zu gelangen, scheint nicht vorhanden. Über diesen Punkt wird daher noch mündlich mit der Botschafterkonferenz zu verhandeln sein. Erst wenn das Ergebnis dieser weiteren, in Paris zu führenden Verhandlungen feststeht, wird die Reichsregierung einen Beschluß darüber fassen können, ob in diesem Punkte den Wünschen der deutschen Industrie oder denjenigen der Alliierten nachzugeben sein wird.

Die Frage der Einzelteile (Ziffer 3 des Schreibens des Herrn Reichswirtschaftsministers) ist gleichfalls schwierig und auch ungeklärt. Die Industrie steht auf dem Standpunkt, daß unterschiedslos alle Teile, also auch die wesentlichen Bestandteile, frei bleiben müssen. Dieser Standpunkt in seiner Unbedingtheit ist nach außen hin nicht zu vertreten; er würde z. B. dazu führen, daß Kanonen beliebig ausgeführt werden könnten, sobald sie in Teile zerlegt sind. Den Wünschen der Industrie könnte höchstens soweit Rechnung getragen werden, daß der Versuch gemacht würde, bei einigen Positionen der Kriegsmaterialliste eine Ausnahme zu erwirken.

Auch für Halbfabrikate (Ziffer 4 ebenda) fordert die Industrie völlige Freiheit. Auf diesem Gebiete ist es uns bisher gelungen, eine erhebliche Einschränkung der ursprünglichen Forderungen der I.M.K.K. zu erreichen. Sie verlangt jetzt nur noch ein Verbot, wenn es sich um Halbfabrikate für Waffen und Munition (außer Pistolen) handelt und diese Halbfabrikate entweder offenkundig für Kriegsfabrikation bestimmt oder bereits soweit vorgearbeitet sind, daß sie nur noch zur Kriegsfabrikation verwendet werden können. Es ist vielleicht nicht ganz ausgeschlossen, bei der I.M.K.K. noch einige weitere Zugeständnisse hinsichtlich weiterer Ausnahmen sowie in der Formulierung durchzusetzen. Dagegen wird die völlige Freiheit für Halbfabrikate nicht zu erreichen sein.

2. Herstellung und Lagerung von Kriegsgerät im Inlande. (Schreiben des Herrn Reichswirtschaftsministers Ziffer 5).

Gegen ein solches Verbot erhebt die Industrie im einzelnen ähnliche Bedenken wie bei der Ein- und Ausfuhr. Diese Bedenken können hier nicht als gerechtfertigt angesehen werden, da ein wirtschaftliches Bedürfnis nach Herstellung und Besitz von Kriegsgerät im Inlande nicht besteht.

Darüber hinaus ist aber neuerdings eine weitere Schwierigkeit insofern entstanden, als die Industrie sich grundsätzlich jedweder gesetzlichen Bestimmung[317] auf diesem Gebiete mit der Begründung widersetzt, in Artikel 168 ff. des Vertrags von Versailles sei kein ausdrückliches Verbot der Herstellung und des Besitzes von Kriegsgerät im Inlande enthalten. Dieses Argument ist nicht stichhaltig. In Artikel 168 ist bestimmt, daß die Anfertigung von Waffen, Munition und Kriegsgerät nur in den genehmigten Fabriken erfolgen darf und daß alle anderen hierfür dienenden Fabriken geschlossen werden müssen. Der Umfang dessen, was die genehmigten Fabriken an Kriegsgerät für die Reichswehr herstellen dürfen, ist in Artikel 164 ff. des Vertrags festgelegt. Artikel 169 bestimmt, daß alles seinerzeit über das zulässige Maß hinaus vorhandene Kriegsgerät abgeliefert werden muß. Artikel 170 schließlich verbietet die Herstellung von Kriegsgerät für die Ausfuhr. Hiernach enthält der Vertrag von Versailles leider zweifellos eine in sich völlig geschlossene Reihe von Vorschriften, die für den Besitz und die Herstellung von Kriegsgerät im Inlande, soweit nicht die für die Reichswehr vorgesehenen Mengen in Frage kommen, keinen Raum läßt. Dazu tritt noch die allgemeine Bestimmung im Artikel 178, wodurch alle Mobilmachungsmaßnahmen verboten werden. Die Auffassung der Industrie, daß ein Verbot von Besitz und Herstellung von Kriegsgerät im Inland im Vertrag von Versailles nicht besteht, ist also nicht vertretbar. Die Vertreter der Industrie haben übrigens selbst erklärt, daß ihre Auffassung nicht etwa dem Sinn des Vertrags entspreche, sondern lediglich dahin gehe, daß der Vertrag eine Wortlücke enthalte, die für uns ausgenutzt werden müsse. Es erscheint aussichtslos und schon deshalb nicht möglich, der Industrie auf diesem Wege zu folgen5.

Da die Angelegenheit überaus dringlich ist, bitte ich auch meinerseits, sie auf die Tagesordnung der nächsten Kabinettssitzung zu setzen6. […]

Stresemann

Fußnoten

1

Dok. Nr. 103.

2

Siehe: Materialien zur Entwaffnungsnote. Berlin 1925, S. 17 und 37.

3

Siehe Dok. Nr. 103, Anm. 6.

4

Zu dieser Frage und zu den folgenden Fragen siehe: ADAP, Serie B, Bd. I,2, Dok. Nr. 195, Anlage Ziffer VIII.

5

Gegen diese Ausführungen des RAM erhebt der RWiM in einem Schreiben an den StSRkei vom 15.11.26 verschiedene Einwände. Insbesondere wendet sich der RWiM gegen eine Beschränkung der Ausfuhr von Kriegsspezialmaschinen (auch der Sonderteile und des Sonderzubehörs), von Halbfabrikaten und von wesentlichen Einzelteilen, da sonst der dt. Industrie umfangreiche Exportaufträge verloren gingen. Außerdem zitiert der RWiM aus einem an ihn gerichteten Schreiben der Industrie, in dem die von der IMKK geforderte gesetzliche Beschränkung der Herstellung und Lagerung des für Inlandszwecke bestimmten Kriegsmaterials abgelehnt wird, da der VV eine ausdrückliche Verpflichtung hierzu nicht enthalte (R 43 I /421 , Bl. 108–110).

6

Zur Kabinettsberatung siehe Dok. Nr. 118, P. 2.

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