2.59.2 (str1p): II. Teil:

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Die Kabinette Stresemann I und II. Band 1Gustav Stresemann und Werner Freiherr von Rheinhaben Bild 102-00171Bild 146-1972-062-11Reichsexekution gegen Sachsen. Bild 102-00189Odeonsplatz in München am 9.11.1923 Bild 119-1426

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II. Teil:

(Reichsministerium und Ländervertreter.)

Der Reichskanzler bat, nochmals in eine Besprechung der politischen Lage bezüglich der Aufgabe des passiven Widerstandes einzutreten. Es sei insbesondere im Hinblick auf die Mitteilungen des Herrn Preußischen Ministerpräsidenten[281] nur noch wenig Zeit übrig, andererseits würde jedoch eine plötzliche Aufgabe des Widerstandes schwere Erschütterungen im Reich hervorrufen, namentlich in Bayern, aber auch in Ostpreußen und an anderen Stellen. Unter diesen Umständen würde es der Reichsregierung von Wert sein, die Herren Ländervertreter zur Lage zu hören.

Der Bayerische Gesandte verwies auf das Schreiben, das die Bayerische Regierung dieser Tage an den Herrn Reichskanzler gerichtet habe31; danach seien die schwersten innerpolitischen Folgen zu befürchten, falls es Frankreich gegenüber zu einer Kapitulation komme. Das Gleiche gälte von einem plötzlichen Aufgeben des passiven Widerstandes; ein solches würde als Waffenstreckung empfunden werden und nach der in einigen Teilen Bayerns, insbesondere München, herrschenden Stimmung eine Auflösung des Reichs bedeuten. Man befürchte ein zweites Versailles32. Die Bayerische Regierung wisse wohl, daß der Widerstand nicht unbeschränkt aufrecht erhalten werden könne, müsse aber verlangen, daß es geschehe, solange es nur ginge.

Der Reichskanzler gab den wesentlichen Inhalt des in Bezug genommenen Schreibens der Bayerischen Staatsregierung durch Verlesen bekannt und bemerkte im Anschluß daran, daß die Anerkennung eines Rechtstitels für das politische Ziel Frankreichs an der Ruhr und am Rhein für die Reichsregierung nicht in Frage komme. Das Kabinett sei dahin einig, daß territoriale Konzessionen unter keinen Umständen in Betracht kämen. Demnach könne von einer Kapitulation nach dieser Richtung hin, d. h. von einer Anerkennung eines im Versailler Vertrag nicht vorgesehenen Rechtes Frankreichs nicht die Rede sein.

Vor Beantwortung des Schreibens wolle er die Entwicklung der nächsten Tage abwarten33. Er könne der Bayerischen Staatsregierung darin nicht zustimmen, daß Verhandlungen mit Frankreich hätten vermieden werden sollen. Die Verantwortung, die auf der Reichsregierung ruhe, würde viel schwerer[282] sein, wenn sie untätig geblieben wäre, und wenn die Folgen, die von der Bayerischen Regierung befürchtet würden, ohne solche Verständigungsversuche einträten. Es sei durchaus möglich, daß eine Situation entstehe, der gegenüber die Reichsregierung mit einem klaren „Nein“ antworten müsse. Solche Haltung könne vor der Welt viel eher vertreten werden, wenn vorher im Anerbieten materieller Lasten das denkbar weiteste Entgegenkommen bewiesen worden sei34. Insbesondere aber sei auch die Lage der Reichsregierung gegenüber der Bevölkerung der abgetrennten Gebiete eine andere, als wenn sie ohne den Versuch der politischen Verhandlungen das Schicksal über sich habe ergehen lassen. Heute könne kein Land und kein Volk der Welt den Vorwurf erheben, daß die Deutsche Regierung sich untätig und nur passiv ablehnend verhalten habe. Das Verhalten der Reichsregierung sei daher richtig gewesen.

Was die Bedingungen der Aufgabe des Widerstandes anlangten, so sei insbesondere die englische Regierung über dieselben unterrichtet und ihre Unterstützung in Aussicht gestellt35.

Der Vertreter Hessens erklärte, mangels vorheriger Fühlungnahme mit seiner Regierung sich nicht bindend äußern zu können. Er glaube aber den Grundlinien der zu befolgenden Politik, wie sie durch den Herrn Reichskanzler skizziert worden seien, beipflichten zu sollen. Hessen sei das durch die Besetzung wohl am stärksten betroffene Land; etwa die Hälfte des Gebiets sei besetzt und die finanzielle Last außerordentlich schwer. Er müsse jedoch die Unterstützung des Reichs und die Würdigung der Notlage des Landes seitens der Zentralressorts dankbar anerkennen. Da wirksame Ersparnisse doch nicht zu erzielen seien, käme nur in Frage, den gegenwärtigen Zustand noch solange zu belassen, bis es dem Herrn Reichskanzler gelänge, eine Basis für die Verhandlungen mit Frankreich zu gewinnen.

Der Preußische Ministerpräsident bat bezüglich der Stellungnahme der Bayerischen Regierung um Aufklärung in folgendem Punkte: Die Bayerische Regierung befürchte im Falle einer Kapitulation den ernsten Widerstand ihrer Bevölkerung, erkenne andererseits aber an, daß eine unbeschränkte Dauer des Widerstandes nicht mehr in Frage komme. Bedeute das, daß eine Regelung, welche gegenüber dem Zustande vom 13. Januar des Jahres einen Rückschritt darstelle, von der Bayerischen Regierung nicht anerkannt werden würde? Wie stelle sich die Bayerische Regierung überhaupt eine etwaige Einigung mit Frankreich vor?

Der Bayerische Gesandte wies in seiner Erwiderung darauf hin, daß nach der Feststellung des Herrn Reichskanzlers die Bayerische Regierung in den Grundlinien mit der Politik der Reichsregierung übereinstimme, ebenso wie sie jedoch bei einer etwaigen Kapitulation für den Bestand des Reiches ernste Sorgen hege, so müsse sie auch gleiche Wirkungen befürchten von einer plötzlichen Aufgabe des Widerstandes. Auf der anderen Seite pflichte er dem Herrn Reichskanzler darin bei, daß alles versucht werden müsse, um mit den Franzosen[283] zu Verhandlungen zu kommen. Vom Ergebnis dieser Verhandlungen werde es abhängen, wie die Bevölkerung sich verhalte. Das wesentliche sei, daß der Herr Reichskanzler erklärt habe, eine Antastung der territorialen Souveränität des Reiches nicht zulassen zu wollen.

Der Reichsminister des Innern stellte die Frage, wie sich die stark nationalistische Bevölkerung der Pfalz wohl verhalten werde, falls unter Zustimmung der übrigen Bevölkerung des besetzten Gebiets die Reichsregierung zu einer Einigung mit Frankreich gelange.

Der Bayerische Gesandte erwiderte, daß bei jeder Regelung in erster Linie auf die Wünsche und Empfindungen der Bevölkerung des besetzten Gebiets Rücksicht genommen werden müsse. Was die Haltung der mehr nationalistisch eingestellten Bevölkerungsteile anlange, so sei es schwer zu sagen, wie diese auf eine etwaige Einigung reagieren würden. Es sei allerdings zum Teil eine stark erregte Stimmung vorhanden; das dürfe aber weder die Reichsregierung noch die Bayerische Regierung bei ihren Beschlüssen beeinflussen36.

Der Reichskanzler faßte das Ergebnis der Erörterung dahin zusammen, daß die Initiative weder vom Reiche noch von der Bevölkerung des besetzten Gebietes ausgehen dürfe, sondern daß beide Teile in vollem Einvernehmen miteinander vorgehen müßten; alle Beschlüsse der Reichsregierung müßten von der Masse der Bevölkerung des besetzten Gebiets getragen sein37.

Der Reichsarbeitsminister stellte fest, daß zwei Phasen der Verhandlungen unterschieden werden müßten: die Präliminarien und die eigentlichen Reparationsverhandlungen. Glaube der Herr Reichskanzler, daß schon nach Abschluß der ersteren, d. h. noch vor Erledigung der eigentlichen Reparationsverhandlungen, mit einer Räumung des Gebiets zu rechnen sei?

Der Reichskanzler erwiderte, daß man bestenfalls bei Beginn der eigentlichen Verhandlungen mit einem Anfang der Räumung rechnen könne. Er denke sich die Note der englischen Regierung vom 20. Juni als mögliche Grundlage des Verfahrens38. Dort heiße es, daß nach Aufhebung des Widerstandes in weitestem Maße die sofortige Zurückführung der Beamten, Ausgewiesenen usw. erfolgen solle. Militärische Räumung dagegen solle stattfinden, sobald die gestellten Pfänder „effektiv“ geworden seien. Die Frage sei, wann Deutschland[284] die effektiven Zahlungen beginnen könne. Habe das Reich erst die wirtschaftliche und verwaltungsmäßige Verfügung über das Gebiet, so sei es auch in der Lage, im Anleihewege und unmittelbar effektive Zahlungen aufzubringen39.

Der Preußische Ministerpräsident wies zum Schluß nochmals daraufhin, daß unter allen Umständen das engste Einvernehmen mit den Vertretern des besetzten Gebiets sicher zu stellen sei, wobei ihnen insbesondere die unhaltbare finanzielle Lage des Reichs wirksam klar gemacht werden müsse.

Fußnoten

31

S. Dok. Nr. 57.

32

Vgl. Anm. 3 zu Dok. Nr. 57. Der Vertreter der RReg. in München von Haniel berichtete am 13.9.23 über die Einstellung der verschiedenen partikularistischen und rechtsradikalen Strömungen in Bayern, man glaube vielfach, „daß ein Augenblick kommen könne, an dem die Einheit des Reichs in seiner jetzigen Gestalt unter einer zu stark nach links gerichteten, für Bayern unerträglichen Berliner Regierung ins Wanken kommen könne. Dies sei dann der Zeitpunkt, an dem die Neugründung des Deutschen Reiches sofort in Angriff genommen werden müsse, wobei die Rolle, die Bayern im besonderen zu spielen habe, sowie die hierbei zur Anwendung zu bringenden Mittel je nach der Parteischattierung naturgemäß verschieden gedacht sind. Über die Gefahren und Hindernisse, die einem solchen Beginnen inner- und außenpolitisch entgegenstünden, scheint man sich allerdings bei keiner der Parteien recht im klaren zu sein und der eigenen Kraft und dem Schicksal das Weitere überlassen zu wollen. – Wenn auch die vorstehend skizzierten Gedankengänge und Pläne meines Erachtens diejenigen sind, die zur Zeit vorherrschen, so soll damit nicht gesagt sein, daß nicht auch andere Gerüchte und Projekte umherschwirren, daß insbesondere nicht auch in manchen Kreisen Reichsverdrossenheit und Partikularismus stärker ihr Haupt erheben. Es sind diese Erscheinungen, die ihren tieferen seelischen Grund haben in dem ungeheuerlichen, sich ständig steigernden außenpolitischen und wirtschaftlichen Druck, der auf jedem einzelnen lastet und ihn dazu treibt, durch die Sache nach einem Schuldigen sowie durch irgendeine Handlung, sich Luft zu machen und diesen Druck abzureagieren. Erscheint es doch für viele Außenstehende ohnehin schier unbegreiflich, mit welch verhältnismäßiger Ruhe und Geduld das Volk seine Lage erträgt“ (R 43 I /2233 , Bl. 203–206).

33

Zur Beantwortung s. Dok. Nr. 65.

34

Zum Entgegenkommen der RReg. s. die Rede des RK vom 12.9.23, in: Vermächtnis I, S. 118, f.; Schultheß 1923, S. 168 ff.

35

S. hierzu die Unterredung Maltzans mit d’Abernon vom 13. o. 14.9.23 und den Empfang zweier konservativer Unterhausabgeordneter durch den RK, in: Vermächtnis I, S. 121 f.

36

Am 16. 9. wandte sich Gesandter v. Preger telefonisch an MinR Kempner, um zu erfahren, ob das RKab. am Vortage doch noch den Abbruch des passiven Widerstandes beschlossen habe. Kempner erwiderte darauf, daß das nicht der Fall sei und auch die sozialdemokratischen Minister derart von Stresemanns Ausführungen beeindruckt gewesen seien, daß sie nicht mehr auf den Standpunkt des pr. Min.Präs. zurückgekommen seien. Darauf bat der bayer. Gesandte, dem RK mitzuteilen: „In Bayern bestände die ernsthafte Befürchtung, daß der Kanzler mit seinen Verhandlungen mit Frankreich scheitern würde, worauf der Bolschewismus in Berlin und Norddeutschland ans Ruder kommen würde. Er, Preger, teile diese Befürchtung nicht. Diese Anschauung sei aber derart fest in die bayerischen Gehirne genagelt, daß hiergegen nach seiner Ansicht etwas geschehen müsse. Vielleicht könne man in irgendeiner Form in die Presse bringen, daß die Regierung Stresemann auch bei einem etwaigem Scheitern der Verhandlungen nicht an einen Rücktritt dächte. Dies würde in Bayern beruhigend wirken.“ Weiter bat der Gesandte um eine Unterredung mit dem RK in dieser Frage (R 43 I /215 , Bl. 71).

37

S. hierzu die Besprechungen am 24. und 25.9.23.

38

S. den Notenwechseln der Alliierten im Anschluß an die dt. Note vom 2. Mai und 7. Juni 1923, RT-Drucks. 6204, Bd. 379  ff.

39

S. hierzu auch die Unterredungen mit den Vertretern Belgiens und Frankreichs (Dok. Nr. 61, 62).

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