1.112 (wir2p): Nr. 347 Der Reichskanzler an den Bayerischen Ministerpräsidenten. 20. August 1922

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Nr. 347
Der Reichskanzler an den Bayerischen Ministerpräsidenten. 20. August 1922

R 43 I /2262 , Bl. 97-100 Abschrift1

[Betrifft: Streitfall zwischen Bayern und dem Reich]

Hochverehrter Herr Ministerpräsident!

Bei den Besprechungen mit den Vertretern der Bayerischen Regierung ist eine Reihe von Rückfragen über den Sinn des Protokolls vom 11. August 19222 vorgetragen worden, das das Ergebnis der bei Ihrer vorigen Anwesenheit gepflogenen Erörterungen enthält.

Die Herren Vertreter haben zunächst angeregt3, daß an die Stelle des süddeutschen Senats ein bayerischer Senat treten solle, dessen Mitglieder nach dem Vorschlage der Landesregierung vom Reichspräsidenten ernannt werden sollen. Dabei soll vorbehalten bleiben, als Laienrichter ausschließlich oder zum Teil Personen vorzuschlagen, die die Befähigung zum Richteramt besitzen.

Der Wunsch nach Errichtung eines Bayerischen Senats hat sich schon bei[1035] den früheren Verhandlungen als für die Reichsregierung unannehmbar herausgestellt. Jedoch wiederhole ich gern die Zusage, daß die Ernennung der Mitglieder des für Süddeutschland bestimmten Senats nach Benehmen mit den beteiligten Landesregierungen erfolgen und daß ihm drei bayerische Laienrichter und eine entsprechende Zahl bayerischer Reichsgerichtsräte angehören wird. Der letzte Satz des Wunsches ist niemals in Frage gezogen worden. –

Es ist ferner der Wunsch ausgesprochen, daß der Senat in einer süddeutschen Stadt tagen solle.

Nach den geltenden Bestimmungen kann der Senat beschließen, daß er Amtshandlungen außerhalb seines Sitzes vornimmt. Die Möglichkeit, daß Sitzungen in einer süddeutschen Stadt stattfinden, ist also gegeben. Und es ist kein Zweifel, daß der Senat von dieser Möglichkeit schon aus Gründen der Zugänglichkeit des Zeugenmaterials und der Kostenersparnis den geeigneten Gebrauch machen wird. –

Die Herren Vertreter haben weiter dem Wunsche Ausdruck gegeben, daß das Begnadigungsrecht in den Fällen, in denen die Zuständigkeit des für Süddeutschland bestimmten Senats gegeben ist, vom Reichspräsidenten im Benehmen mit der Landesregierung oder auf deren Anregung ausgeübt werden soll.

Der Herr Reichspräsident hat, wie ich ausdrücklich feststelle, eine solche Fühlungnahme bereits bei der früheren Besprechung in Aussicht gestellt.

Was den Wunsch betrifft, daß die bayerischen Angelegenheiten bei der Reichsanwaltschaft von einem bayerischen Staatsanwalt mit möglichst weitgehender Selbständigkeit behandelt werden sollen, so besteht kein Bedenken, einen bayerischen Beamten nach der üblichen Fühlungnahme mit der Bayerischen Regierung zur Reichsanwaltschaft einzuberufen und diesen als Referenten des Oberreichsanwalts für bayerische Sachen zu bestellen.

Daß die Überweisung der Strafsachen an die ordentlichen Gerichte der Länder die Regel bilden werde, ist bereits bei den früheren Verhandlungen festgestellt worden. Darüber hinaus ist gewünscht worden, daß mindestens alle Vergehen grundsätzlich an die ordentlichen Gerichte der Länder überwiesen werden sollen, und daß Ausnahmen von diesem Grundsatz nur von Fall zu Fall und nur im gegenseitigen Benehmen der Justizverwaltungen zulässig sein sollen.

Ganze Gebiete, insbesondere grundsätzlich alle Vergehen von der Erledigung durch den Staatsgerichtshof auszuschließen, würde dem Sinne des Gesetzes zuwiderlaufen. Die gewünschte Berücksichtigung bayerischer Gesichtspunkte bei der Frage der Aburteilung durch den Staatsgerichtshof oder der Überweisung an die Länder kann schon durch Maßnahmen der Bayerischen Regierung gewährleistet werden. Ich habe keine Bedenken, wenn die bayerischen Staatsanwaltschaften von der Bayerischen Regierung angewiesen werden, bei der Bearbeitung der Sachen sich gegenüber dem Oberreichsanwalt darüber zu äußern, ob sich die Überweisung an die Landesbehörden empfiehlt, ohne daß jedoch durch dieses Verfahren eine Verzögerung entstehen darf. Diese Äußerungen werden von dem Oberreichsanwalt bei der Prüfung sachgemäß berücksichtigt werden. Dadurch wird das Recht der Landesregierung nicht berührt,[1036] von sich aus Bedenken gegen die Befassung des Staatsgerichtshofs mit einer Sache bei der Reichsregierung geltend zu machen.

<Was den Wunsch der Vermeidung einer Einwirkung auf die Entscheidungen des Staatsgerichtshofs in Verwaltungssachen betrifft, so stelle ich klar, daß auf solche Entscheidungen weder die Reichsregierung noch die beteiligte Landesregierung – sei es unmittelbar, sei es mittelbar durch den Oberreichsanwalt – Einfluß nehmen können. Der Vortrag der Beteiligten vor dem Staatsgerichtshof ist ein der selbständigen Beurteilung des Gerichtshofs unterliegendes Parteivorbringen wie jedes andere und wird hierdurch nicht berührt.

Zum Reichskriminal-Polizeigesetz wird eine genaue Umschreibung der Begriffe „Gefahr im Verzuge“ und „dringendstes Interesse des ganzen Reichs“ gewünscht. Dazu erkläre ich folgendes:

Eine Gefahr im Verzuge ist überall da vorhanden, wo der Aufschub der betreffenden Handlung deren Vornahme überhaupt vereiteln oder doch die Erreichung ihres Zweckes irgendwie gefährden könnte. Dringendstes Interesse des ganzen Reichs ist gegeben, wenn es sich um strafbare Tatbestände von ganz besonderer Wichtigkeit handelt, bei denen die Anstellung sofortiger Ermittlungen durch eigene Vollzugsbeamte für das ganze Reich von größter Bedeutung ist.>4

Der bundesstaatliche Charakter des Reichs, die Staatspersönlichkeit und die Hoheitsrechte der Länder sind bereits in dem Protokoll vom 11. August 1922 anerkannt. In diesem Protokoll ist auch bereits die Zusage enthalten, daß das Reich die Hoheitsrechte der Länder nicht unter Abänderung der verfassungsmäßigen Zuständigkeiten des Reichs an sich ziehen will. Eine allgemeine Zusicherung dahin zu geben, daß die Reichsregierung auch von ihren in der Reichsverfassung bereits begründeten gesetzgeberischen Zuständigkeiten keinen Gebrauch machen wird, bin ich nicht in der Lage. Doch glaubt die Reichsregierung in ihrer früheren Erklärung hinreichend zum Ausdruck gebracht zu haben, daß sie von den noch nicht ausgeschöpften Zuständigkeiten nicht ohne Not und, soweit möglich, nicht ohne Zustimmung des Reichsrats Gebrauch machen wird, und nicht willens ist, bisherige Aufgaben der Länder in die Verwaltung des Reichs durch neue Reichs-Mittel- oder Unterbehörden zu übernehmen.

<Die außenpolitische Lage, Herr Ministerpräsident, hat durch die Entsendung von Mitgliedern der Reparationskommission nach Berlin eine besondere Gestalt angenommen. Es wird der Geschlossenheit der ganzen Nation bedürfen, wenn morgen in die Besprechungen mit den Abgesandten der Reparationskommission eingetreten wird. Ich darf daher der Hoffnung Ausdruck geben, daß die zwischen dem Reich und Bayern schwebende Angelegenheit nunmehr auch formell im Ministerrat durch Aufhebung der bayerischen Verordnung ihre abschließende Regelung findet, nachdem Ihre Herren Vertreter mir zugesagt[1037] haben, den obigen Erklärungen zuzustimmen und für ihre Annahme eintreten zu wollen5.>6

Mit der Versicherung meiner ausgezeichnetsten Hochachtung bin ich Ihr ergebenster

gez. Dr. Wirth.

Fußnoten

1

Verschiedene Entwürfe dazu in R 43 I /2261 , Bl. 273-275, 280-282, 284-287, 288-291, ; vgl. Dok. Nr. 345.

2

Siehe Dok. Nr. 338.

3

Zu den bayerischen Rückfragen siehe Dok. Nr. 344 Anm. 5.

4

Die markierte Stelle hat im Entwurf keine Entsprechung.

5

Am 22.8.1922 berichten die Minister Gürtner und Schweyer im bayerischen Ministerrat über ihre Verhandlungen in Berlin; das Sitzungsprotokoll vermerkt dazu:

„Minister Gürtner verbreitet sich an Hand des Briefes des Reichskanzlers vom 20. August 1922 über die Berliner Besprechungen und kommt zu dem Urteil, daß alles, was im Wege gütlicher Verhandlungen erreicht werden könne, erreicht sei. Er müsse zugeben, daß das Erreichte nicht voll befriedigen könne, weil der Staatsgerichtshof für Bayern nicht vollkommen ausgeschaltet sei. Die Frage, ob der Unterschied zwischen dem Gewollten und dem Erreichten eine tragbare Grundlage für einen Konflikt mit der Reichsregierung bilde, müsse er insbesondere im Hinblick auf den Verlauf der Verhandlungen verneinen. – Minister Dr. Schweyer berichtet hierauf über die übrigen Punkte der letzten Berliner Besprechungen. Auch er kommt zu dem Urteil, daß der Unterschied zwischen dem, was erstrebt worden sei und dem, was zu erreichen gelungen sei, so gering sei, daß eine Möglichkeit, darauf einen Verfassungskonflikt aufzubauen, nicht gegeben sei. – Der Herr Ministerpräsident faßt sein Urteil dahin zusammen, daß im wesentlichen das Mindestprogramm der Koalitionsparteien erreicht worden sei. Die nunmehrige Gestaltung des Staatsgerichtshofs in seinem süddeutschen Senat komme dem, was die Parteien für diesen Bereich gefordert hätten, sehr nahe. Er erläutert im einzelnen die Tragweite der verfassungspolitischen Erklärung der Reichsregierung und betont, daß der Förderalismus einen starken Schritt vorwärts gekommen sei. Er gibt einen kurzen Überblick über die Sitzung des Ministerrats am 21. August 1922, bei der Minister Dr. Krausneck nicht zugegen war. Er betont insbesondere, daß die Regierung jetzt mit aller Energie und Entschiedenheit handeln müsse, selbst auf die Gefahr hin, daß innerpolitische Schwierigkeiten entstünden. Er sei der Auffassung, daß solche Schwierigkeiten nicht zu befürchten seien. Die Aufhebung der bayer. Verordnung müsse unbedingt in allernächster Zeit erfolgen. – Minister Dr. Schweyer betont ebenfalls die Dringlichkeit der Angelegenheit, zumal die Reichsregierung allmählich unter einen starken Druck von Links gesetzt werde. Er müßte es geradezu als Ungezogenheit bezeichnen, wenn die Regierung eine Taktik der Verschleppung treiben wollte. Er müßte es ablehnen, in der Angelegenheit nochmals mit der Reichsregierung in Verhandlungen zu treten. Auch für ihn sei es klar, daß heute noch die Entscheidung fallen müsse, selbst auf die Gefahr einer innerpolitischen Krisis hin. – Minister Gürtner erklärt, daß eine Konfliktspolitik für ihn untragbar sei. Nach seiner Auffassung gebe die Lage zu einer innerpolitischen Krisis keinen Anlaß.“ (GStA München, MA 99 517). In der anschließenden Besprechung des Gesamtministeriums mit den Vertretern der Koalitionsparteien wird eine Einigung erzielt:

„Der Ministerpräsident stellt mit Befriedigung fest, daß die Vertreter der Koalitionsparteien keine Erinnerung gegen den Beschluß des Ministerrats haben. Die Regierung werde sich bemühen, auch nach außen hin alles zu vermeiden, was geeignet wäre, weitere Schwierigkeiten hervorzurufen. Er werde heute noch nach Berlin mitteilen, daß seine Unterschrift unter das Berliner Protokoll eine endgültige geworden sei.“ (GStA München, MA 99 517). Die Bayerische VO wird am 24.8.1922 aufgehoben.

6

Die markierte Stelle hat im Entwurf keine Entsprechung.

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