1.3 (mu11p): Reichswehr, Freikorps und Einwohnerwehren

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Das Kabinett Müller IHermann Müller Bild 146-1979-122-28APlakat der SPD zur Reichstagswahl 1920Plak 002-020-002Wahlplakat der DNVP Plak 002-029-006Wahlplakat der DDP Plak 002-027-005

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Reichswehr, Freikorps und Einwohnerwehren

Während der Konferenz von Spa sollte die deutsche Regierung nicht allein zum Reparationsproblem Stellung nehmen, sondern sich auch zu anderen Fragen äußern, die das Verhältnis zu den Alliierten belasteten. So waren gegen Angehörige von Baltikumfreikorps und Reichswehrsoldaten, die Mitglieder von Ententekommissionen angegriffen und beleidigt hatten, trotz anderslautender Zusicherungen die Verfahren erst eingeleitet worden, als sie der Kriegsgerichtsbarkeit nicht mehr unterstanden und untergetaucht waren96. In der Zeit der Vorbereitung auf die Konferenz von Spa wurde dies von den Alliierten, die eine Bestrafung erwarteten, ebenso ungünstig ausgelegt, wie die Verzögerung der Verfahren gegen die als Kriegsverbrecher angeklagten deutschen Personen, deren Namen von den Ententemächten, die auf eine Auslieferung verzichtet hatten, der deutschen Regierung übergeben worden waren. Hier forderte Minister Geßler, daß das Reich die Verteidigungskosten der Angeklagten bis zu ihrer etwaigen Verurteilung übernehme97.

96

Dok. Nr. 77, P. 1.

97

Dok. Nr. 46; 77, P. 1; 97, P. 12.

[XXX] Schwerwiegender für die Konferenz von Spa war allerdings die Frage nach der Abrüstung und der schrittweisen Reduktion des Heeres auf 100 000 Mann. Dieses Problem war in der Zeit der Unruhen und Aufstandsbewegungen von der deutschen Regierung zurückgestellt worden, da sie auf Soldaten und Waffen nicht verzichten konnte. Aber nach dem Kapp-Putsch bestanden die Alliierten und General Nollet, der Chef der Interalliierten Militärkontrollkommission, auf der Durchführung der Bestimmungen des Versailler Vertrags und Reichskanzler Müller stimmte ihnen zu. Sogleich machte Geßler darauf aufmerksam, daß die Polizei die Entwaffnung der Bevölkerung durchführen müsse; die Zeitfreiwilligen seien von der Reichswehr aufgefordert worden, ihre Waffen abzuliefern. Allerdings sei die Entwaffnung nur dann sinnvoll, wenn auch die kommunistischen Organisationen nicht länger bewaffnet seien. Seeckt stimmte seinem Minister zu, wies aber auch auf die Schwierigkeiten hin, an die Waffen zu gelangen, die sich nicht in Händen der Ordnungskräfte des Reichs befänden. Wie an sie heranzukommen sei, war ein Problem, über das unterschiedliche Ansichten herrschten. Ausführlich wurde der Vorschlag des Magdeburger Oberpräsidenten Hörsing diskutiert, der einen Strafkatalog für unbefugten Waffenbesitz sowie Belohnung für die Auslieferung und Mitteilung über geheime Waffenbestände vorschlug. Bei allen Überlegungen erwies es sich jedoch, daß rechte und linke Gruppen der Bevölkerung versuchen würden, Waffen auch weiterhin zurückzuhalten. Der preußische Innenminister Severing meinte, daß es erst nach dem 1. Mai und nach den Reichstagswahlen leichter werde, an diese Waffen zu gelangen. Ob die Alliierten sich mit der Erklärung der Reichsregierung begnügen würden, daß sie nicht wisse, wohin seit dem Waffenstillstand von 1918 die Masse der Waffen geraten sei, schien fraglich. Und sicher war, daß die Begründung, Geschütze würden zur Verteidigung Ostpreußens benötigt, in Spa nicht vorgetragen werden dürfe98.

98

Dok. Nr. 41; 65; 79; 92, P. 8; 129, P. 1 u. 2.

Solange die Furcht bestand, daß es zu Aufständen und Ausschreitungen linksextremer Organisationen kommen könne, bereitete die Verminderung des Heeres auf 100 000 Mann Schwierigkeiten99. Zwar bestand die allgemeine Wehrpflicht nicht mehr, seitdem die Verfassung des Kaiserreichs durch die von Weimar ersetzt worden war, aber die Herabsetzung des aktiven Heeres auf zunächst 200 000 Mann erfolgte erst zum 15. Mai 1920, da Seeckt auf eigene Verantwortung im März eine Aussetzung der Entlassungen verfügt hatte100. Um zumindest nicht bei den Alliierten den Eindruck entstehen zu lassen, daß als Heeresersatz wieder das Scharnhorstsche „Krümpersystem“ zur Anwendung gelange, veranlaßte der Reichskanzler den Reichswehrminister, daß die neben der Reichswehr bestehenden Organisationen aufgelöst wurden. Von diesem[XXXI] Beschluß wurden neben den Einwohnerwehren die Freikorps und die Zeitfreiwilligen betroffen. Geßler erklärte dazu, er habe bereits die Entlassung der Zeitfreiwilligen verfügt und Vollzugsmeldung angeordnet. Auch die Freikorps wurden aufgelöst, allerdings in mehreren Fällen nur nominell, weil sie als Kadereinheiten für das Heer und die Marine in die Reichswehr übernommen wurden101. Da das Kabinett der Ansicht war, in Spa werde die Möglichkeit bestehen über die neuen Heeresformen zu sprechen und sich dabei gegen das Söldnerheer zu wenden, nahm der Reichswehrminister im 200 000-Mann-Heer keine Kündigungen vor, sondern beantragte, daß diese Truppenstärke vorerst bis zum 10. Oktober 1920 beibehalten werden solle102.

99

Dok. Nr. 97, P. 8; 129, P. 1. Hierbei spielten nicht allein die Erfahrungen, die im Ruhrgebiet und in Thüringen gesammelt worden waren, eine Rolle. Offensichtlich sind auch Fälschungen vorgenommen worden, die auf kommunistische Aufstandspläne schließen lassen sollten mit dem Ziel, die Truppenreduktion aufzuschieben. Eine solche Fälschung ist das angebliche Protokoll einer KP-Tagung vom 26./27.4.20, das in engl. Übersetzung vorliegt in DBFP 1st ser. vol. IX, pp. 525 sq.

100

Dok. Nr. 97, P. 8.

101

Dok. Nr. 79; 118, P. 1.

102

Dok. Nr. 129, P. 1; 131, P. 5.

Auch der Umfang der Sicherheitspolizei sollte in Spa zur Sprache gebracht werden. Es hatte sich gezeigt, daß im Ruhrgebiet, aber auch in den Ostprovinzen Reichs- und Landesregierung nicht auf diese kasernierten Polizeitruppen verzichten konnten, weil sie in der Lage waren, die Ordnung wiederherzustellen, ohne Unruhen unter den Gegnern der Rechtsparteien auszulösen103. Die Sicherheitspolizei unterstand zwar den Ländern, aber sie war in eine gewisse Konkurrenz zur Reichswehr geraten, nachdem die preußische Regierung gefordert hatte, daß sie die gleiche Unterbringung und Versorgung erfahren müsse wie die Reichswehr104.

103

Dok. Nr. 136; vgl. auch unten Anm. 218.

104

Dok. Nr. 41; 60, P. 8; 118, P. 2.

Nach dem Kapp-Putsch war der sozialdemokratische Arbeitersekretär Stock zum Unterstaatssekretär im Reichswehrministerium ernannt worden. Die Integration des Zivilisten in das Wehrressort gelang jedoch nicht. Stock konnte sich nur an der Reinigung des Ministeriums von Kapp-Anhängern beteiligen. An der Reorganisation des Ressorts durfte er nicht teilnehmen und erfuhr Einzelheiten hierüber nur aus der Presse; damit war auch seine Absicht gescheitert, Beamte in den Schaltstellen des Reichswehrministeriums einzustellen, um zu verhindern, daß im Fall eines neuen Staatsstreichversuchs den verfassungsfeindlichen Offizieren materielle Hilfe gewährt würde104a. Von Seeckt wird der Plan ausgegangen sein, den zivilen Kontrollfunktionen des Unterstaatssekretärs mit einem Generalquartiermeister entgegenzuwirken. In einer Haushaltsbesprechung wandelte zwar das Kabinett die Position des Generalquartiermeisters in das Amt eines Staatssekretärs um, aber dessen erster Inhaber wurde Generalmajor von Feldmann105. Dieser Offizier hatte am Tag des Kapp-Putsches vor Offizieren des Ausrüstungsamtes erklärt, der Versuch des Staatsstreichs sei „töricht“, weil Neuwahlen ohnehin „einen ganz erheblichen Ruck nach rechts“ bringen würden und die neuen Männer auch noch mit der Verantwortung für die Lebensmittelversorgung belastet seien, die in den kommenden Monaten besonders kritisch werde. Nun könne „die Gegenseite“, d. h. die legale Regierung und die Verfassungsparteien, sagen, „so[XXXII] schlimm wäre es nie gekommen, wenn ihr den Putsch nicht gemacht hättet“. Feldmann hatte seine Ausführungen, die kaum als ein warmes Bekenntnis zur Weimarer Republik interpretiert werden können, immerhin mit den Worten geschlossen: „Neue Leidenschaften werden aufgewühlt werden. Deutschland kommt in neuen Mißkredit106.“

104a

Dok. Nr. 42, P. 23; 119.

105

Dok. Nr. 119.

106

BA: NL Mentzel  9.

Es kann nicht wundern, daß bei den Gewerkschaften und auch in einigen Ländern der Eindruck entstand, daß trotz der scharfen Worte in der Regierungserklärung Hermann Müllers107 und trotz der Weisung Eberts, daß Minister Geßler Verfahren gegen Putschisten einleiten und verfassungstreue Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften seine Anerkennung aussprechen solle108, die erforderlichen Untersuchungen nur zögernd eingeleitet wurden. Demgegenüber waren die Putschgegner der Ansicht, daß republikfeindliche Dienststellen gelobt und die mit den Gewerkschaften getroffenen Vereinbarungen über die Heeresreorganisation nicht eingehalten worden seien109. Verstärkt wurde dieser Eindruck fortdauernder Rechtsradikalität durch das Verhalten einiger Freikorps und Reichswehreinheiten, die mit aller Deutlichkeit ihrer Feindschaft gegenüber der Weimarer Republik Ausdruck gaben110. Auch die Auflösung staatsfeindlicher Freikorps war keine Gewähr für die Sicherheit der Republik, da Beweise beigebracht werden konnten, daß die entlassenen Verbände als geschlossene Einheiten auch weiterhin auftraten, z. B. in Pommern getarnt als Landarbeiter. Hinweise auf diese für den Staat gefährliche Situation wurden nur wenig beachtet111.

107

NatVers. Bd. 332, S. 4932 .

108

Dok. Nr. 13.

109

Dok. Nr. 6; 34; 127.

110

Dok. Nr. 23; 105.

111

Dok. Nr. 60, P. 8; 118, P. 1. Diese Verbände bildeten später die Basis für die Schwarze Reichswehr.

Berlin und damit auch die Reichsregierung erschienen jedoch einer erneuten Gefährdung nicht direkt ausgesetzt zu sein, da die Freikorps Erhardt und Löwenfeldt, die als die gefährlichsten galten, in das Munsterlager gebracht worden waren, um dort aufgelöst zu werden. Auf dem Truppenübungsplatz Döberitz, von dem der Kapp-Putsch seinen Ausgang genommen hatte, waren unter dem ehemaligen Chef der Heeresleitung General Reinhardt Truppen aus dem Reich zusammengezogen worden, an deren Verfassungstreue und Zuverlässigkeit kein Zweifel bestand112. Dennoch blieb ein Gefühl der Unsicherheit zurück. Berichte über bevorstehende Putsche und Kritiken an der Reichswehr waren nicht geeignet, die Kluft zwischen den Parteien und der Presse der Weimarer Koalition und der Wehrmacht zu beseitigen.

112

Dok. Nr. 86; 118, P. 2.

Immerhin haben Geßler und Seeckt versucht, der Reichswehr den Platz zu weisen, der ihr im Staat zukam. So erklärte der Reichswehrminister vor der Nationalversammlung am 29. März 1920: „Kein Teil unserer öffentlichen Verwaltung ist durch das verbrecherische Abenteuer von Kapp und Lüttwitz mehr erschüttert worden als unsere Landesverteidigung. Die Reichswehr steht[XXXIII] mitten im Brennpunkt der Krisis, die unser armes Volk erneut in einen Fieberzustand geworfen hat. Es hat sich nicht nur zwischen weiten Kreisen des Volks und der Reichswehr eine breite Kluft aufgetan, sondern auch die Reichswehr ist durch den Wahnsinn des geplanten Staatsstreichs aufs schwerste erschüttert worden.“ Geßler sah es als seine Aufgabe an, einen Gesundungsprozeß bei der Reichswehr einzuleiten: „Die Konsequenzen aus den Erfahrungen, die bei dem Lüttwitzschen Abenteuer gemacht wurden, mußten zu diesem Zweck rasch gezogen werden. Führer, die nicht rückhaltlos auf dem Boden der Verfassung stehen und im kritischen Augenblicke des Staatslebens Politik auf eigene Faust machen, sind unmöglich.“ Der Reichswehrminister kündete Untersuchungen und Gerichtsverfahren an und führte dazu aus: „Auch die Reichswehr ist ebenso gut wie irgendein anderer Berufszweig ein Teil des deutschen Volkes und hat wie alle Angehörigen des deutschen Volkes Anspruch auf ein geordnetes Rechtsverfahren113.“

113

NatVers. Bd. 332, S. 4953  f.

Nach einer Besprechung mit dem Reichspräsidenten forderte der amtierende Chef der Heeresleitung, General von Seeckt, das Offizierkorps auf, der Entwicklung von Staat und Volk zu folgen. Die Reichswehr müsse sich am Staatsaufbau beteiligen und sich darin einen eigenen Raum schaffen; sie dürfe aber nicht im Mißtrauen verharren. Nicht nur die Kritik an der Reichswehr, auch die Anerkennung durch die Regierung und deren Sorge um die Bedingungen des Bestehens und Fortbestehens des Heeres müßten der Truppe bekanntgemacht werden. Seeckt verlangte, daß von der Reichswehr Verfehlungen aus der Zeit des Kapp-Putsches zuzugeben seien, und kündigte disziplinarische Maßnahmen in den Fällen von Indisziplin und „rohen Ausschreitungen“ an, aber er betonte, ebenso wie später der Reichswehrminister114, daß es keine Gesinnungsschnüffelei geben werde. Angehörige der Reichswehr, die eine Wiederholung des Kapp-Putsches wünschten, forderte Seeckt auf, das Heer zu verlassen, da er jede politische Betätigung von der Wehrmacht fernhalten wollte. Seeckt schloß mit den Worten, die seiner eigenen Rechtfertigung vor dem Offizierskorps dienen mochten: „Es ist nicht zu erwarten, daß ein jeder den Wandel der Zeit in seinem Herzen begrüßt. Durchdrungen muß aber ein jeder von uns von der inneren Überzeugung sein, daß nur wenn der Soldat treu zu seinen verfassungsmäßigen Pflichten steht, der Weg wieder aufwärts führt115.“ Zu pflichtbewußter Arbeit rief im Mai auch Minister Geßler auf und wie Seeckt verlangte er, daß Politik und Agitation aus der Reichswehr herauszuhalten seien116. Geßler meinte auch, es sei günstig, daß die Reichswehr nicht mehr die vollziehende Gewalt innehabe, sondern daß diese nun bei den Zivilbehörden liege. Allerdings wies der Minister auf den Nachteil hin, der daraus der Reichswehr erwachse, daß sie nun nicht mehr selbst wie bisher Zeitungen, die sich[XXXIV] kritisch über militärische Aktionen geäußert hätten, verbieten könne. Nun bleibe nur die Belehrung oder der „dornenvolle Weg“ der Klage und anderer zivilrechtlicher Maßnahmen, die oft nicht das gewünschte Ergebnis hätten. Nicht allein die linksradikale Presse, auch die Zeitungen der Regierungsparteien seien schwer zu behandeln. Ihre Kritik werde aufhören, wenn die Untersuchungen über die Beteiligung am Kapp-Putsch beendet seien117.

114

Dok. Nr. 107.

115

Dok. Nr. 53.

116

In diesem Zusammenhang erhält das Verhalten der RWe-Kreiskommandos 4 gegenüber der Länderabteilung Bayern der Reichszentrale für Heimatdienst einen besonderen Akzent, Dok. Nr. 90.

117

Dok. Nr. 107.

Unter dem ersten Kabinett Müller scheint der Prozeß begonnen zu haben, der die politische Neutralität der Reichswehr anstrebte. Der weitere Verlauf der Geschichte der Weimarer Republik hat jedoch ergeben, daß die Reichswehr sich zu einer Institution entwickelte, die für rechtsradikale und nationalistische Geisteshaltung besonders anfällig war, wenn auch parteipolitische Abstinenz wenigstens formal weitestgehend gewahrt wurde. Seeckt hatte die Reichswehr aufgerufen, das Band des Vertrauens zu Regierung und Bevölkerung wiederherzustellen, aber die Ressentiment lebten auf beiden Seiten fort. Die Erwartung, die Reichswehr könne in den neuen Staat integriert werden, erwies sich als Illusion. Die Forderung zur Selbstkritik erschien nach dem Kapp-Putsch der Masse der Reichswehr unerträglich, da ihnen gleichzeitig zugebilligt wurde, sie hätten nur ihren Befehlen gehorcht. Die Unterstützung, die die Reichsregierung durch die Reichswehr in Thüringen und besonders an der Ruhr erhalten hatte, nahm vor allem die politisch linksorientierten Gruppen der Bevölkerung gegen das Kabinett ein. Obgleich nach der Aufhebung des militärischen Ausnahmezustands die Zivilbehörden wieder alle verfassungsrechtlichen Kompetenzen besaßen118, blieb der Vorwurf bestehen, daß die legale Regierung mit den reaktionären Staatsgegnern zusammengearbeitet habe.

118

Bis 1923 wurde die Reichswehr bei innenpolitischen Auseinandersetzungen nicht mehr eingesetzt, auch nicht während des mitteldeutschen Aufstandes.

Während des Kapp-Putsches hatten die Gewerkschaften auch Anlaß gefunden, an der Verfassungstreue der bürgerlichen Einwohnerwehren zu zweifeln119. Sie forderten daher in den Verhandlungen am 18. und 19. März 1920 ihre Beseitigung. Über diese Frage kam es alsbald zu Differenzen zwischen den Demokraten und den Mehrheitssozialisten. Reichskanzler Müller bezog sich daher auch nicht auf die Gewerkschaftsforderung, als er Anfang April 1920 die Auflösung der Einwohnerwehren im Kabinett vorschlug, sondern er gab als Grund eine entsprechende Notifikation Generals Nollet an, die dieser am Tag vor dem Kapp-Putsch der Reichsregierung zugeleitet hatte. Obgleich Innenminister Koch der Ansicht war, daß die Einwohnerwehren nur in Ostdeutschland, keinesfalls aber im Westen aufgelöst werden sollten120, widersetzte er sich der Erörterung der notwendigen Schritte nicht. Wie Unterstaatssekretär[XXXV] Freund forderte aber der Minister, daß ein Ersatz geschaffen werde, um die Bevölkerung und insbesondere die Landwirtschaft vor Übergriffen und Verbrechen zu schützen. Auch der Reichswehrminister sprach sich für die Auflösung der Einwohnerwehren aus, die unter dem alliierten Druck unumgänglich geworden sei. Er wurde dabei dem Geheimen Legationsrat von Keller unterstützt, der darauf hinwies, daß die Entente die Zentralisation der Wehren mißtrauisch beobachtet habe121. Unter diesen Voraussetzungen forderte das Kabinett den Innenminister auf, die Länder zu unterrichten, daß sie lediglich einen Ortsschutz ohne Gewehre und ohne militärische Übungen zulassen dürften; im übrigen hätten sie die Forderungen Nollets zu beachten122.

119

In einer Besprechung bei dem RPräs. sprach Otto Wiedfeldt von unzuverlässigen Einwohnerwehren im Westen. Er dürfte allerdings die politisch links orientierten Sicherheitswehren gemeint haben, Dok. Nr. 29; vgl. dazu die Äußerungen des Amtsvorstehers Rohde in Dok. Nr. 23. Zur Rolle der Einwohnerwehren s. auch Könnemann, Einwohnerwehren und Zeitfreiwilligenverbände. Diese einseitige Darstellung und Dokumentation erschien erst nach Beginn der Drucklegung dieser Edition.

120

Anm. 1 zu Dok. Nr. 13.

121

Müller hatte von den alliierten Sorgen vor dem „Krümpersystem“ gesprochen.

122

Dok. Nr. 20.

Ein Entrüstungssturm brach auch, als die Länder diese Mitteilung des Innenministers erhielten. Besonders in Bayern nutzten rechtsgerichtete Gruppen die Gelegenheit zu wilden Angriffen auf die Reichsregierung aus123. Auf einer Konferenz in Stuttgart erklärten die süddeutschen Staaten, daß die Auflösung der Einwohnerwehren zugleich die Auflösung der staatlichen Ordnung bedeute. Die Reichsregierung habe sofort mit den Alliierten zu verhandeln. Allerdings waren in Stuttgart auch Gegensätze zwischen den süddeutschen Ländern zutage getreten. Während Bayern die Einwohnerwehren als staatlichen Machtfaktor behalten wollte, sah Hessen der Auflösung ruhiger entgegen, da es der Einwohnerwehren wegen Schwierigkeiten mit den Arbeitern gegeben hatte. Doch erhob der hessische Staatspräsident Ulrich gegen das Reich den Vorwurf, daß es durch die Zentralisierung der Wehren und ihren militärischen Aufbau die Alliierten erst mißtrauisch gemacht habe124.

123

Vgl. den Bericht der Landesabteilung Bayern der Reichszentrale für Heimatdienst über Behauptungen des Ordnungsblockes, Dok. Nr. 90.

124

Dok. Nr. 31; 35; vgl. hierzu W. Benz, Süddeutschland in der Weimarer Republik. S. 275 ff.

Um diese Streitfragen zu klären, führte das Reich mit den süddeutschen Ländern und Preußen, das schon Anfang April die Auflösung dieser Wehren eingeleitet hatte125, am 15. April 1920 eine Besprechung. Bei dieser Gelegenheit wurden nicht nur die unterschiedlichen Auffassungen über die Einwohnerwehren deutlich, sondern es zeigte sich, daß sich Bayern als Sprecher der süddeutschen Länder unter Einschluß Sachsens, jedoch ohne Baden, verstand. Bayerns Vertreter führten aus, die Bevölkerung ihres Landes könne nur durch die Wehren gegen den Kommunismus und Bolschewismus verteidigt werden. Die Auflösungsorder werde Steuerstreiks und bewaffneten Widerstand zur Folge haben. Weniger scharf, aber ebenso eindringlich, äußerte sich der württembergische Staatspräsident Blos. Er erklärte, Süddeutschland wolle nicht von der Politik der Straße in Berlin abhängig werden. Darauf entgegnete der Reichskanzler mit einem Hinweis auf die Gefahren von rechts und auf den Nationalbolschewismus und meinte, die Argumentation Blos’ sei vor der Entente nicht anzuwenden. Der badische Innenminister Remmele berichtete, daß die Einwohnerwehren in seinem Land keine Waffen hätten; diese seien in Depots[XXXVI] niedergelegt worden. Auch die Studentenwehren seien nicht länger bewaffnet126. Nachdrücklich warnte Remmele vor einem berechtigten Anlaß der Entente zu Mißtrauen, falls die Reichswehr Einfluß auf die Wehren erhalte. Reichsminister Koch wies unterstützt von Legationsrat von Keller auf die alliierten Forderungen hin, gleichzeitig erklärte er jedoch, daß ein Einsatz der Reichswehr zur Entwaffnung der bayerischen Bauern nicht in Frage komme. Auch der Reichskanzler kam den bayerischen Wünschen entgegen und erklärte, die Entente solle auf die besondere Situation dieses Landes hingewiesen werden127.

125

Dok. Nr. 20.

126

Vgl. auch A. Remmele, Staatsumwälzung und Neuaufbau in Baden, S. 85 f.

127

Dok. Nr. 41.

Praktisch blieb diese Konferenz ohne ein reales Ergebnis. Wenn auch die Länder die Einwohnerwehren auflösten, so fand sich alsbald ein Ersatz. Zwar waren Arbeiterwehren abgelehnt und in Mittel- und Westdeutschland gewaltsam entwaffnet worden, aber in Bayern wurden von Forstrat Escherich, einem Teilnehmer der Berliner Besprechung, Notwehren gegründet. Dieser Wehrverband reichte von Bayern bis nach Norddeutschland und diente der Bewaffnung der Bauern gegen die Städter, in denen die Vertreter des Linksextremismus gesehen wurden128. Diese Mobilmachung der Bauern durch Escherich zeigt die fatale Entfremdung zweier Bevölkerungsgruppen, die nicht erkennen wollten, daß sie aufeinander angewiesen waren. Von Bayern aus wurde die Konfrontation des konservativen Agrarstaates mit der modernen Industriegesellschaft gefördert.

128

Dok. Nr. 138.

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