2.198.1 (feh1p): [Deutsches Reparationsangebot auf der Londoner Konferenz]

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[Deutsches Reparationsangebot auf der Londoner Konferenz]

<Der Herr Reichskanzler machte den Versammelten Mitteilung über die letzten aus London eingegangenen Nachrichten und gab in kurzen Zügen die Stellungnahme des Kabinetts dazu bekannt und erwähnte hierbei auch den Vorschlag Rathenau, den dieser vielleicht später selber noch im einzelnen entwickeln könne4. Nachdem von verschiedenen Seiten Anfragen gestellt und beantwortet waren, erteilte er das Wort dem Reichsbankpräsidenten Havenstein5.>

4

Zur Vorgeschichte s. Dok. Nr. 197.

5

Bis zu dieser Stelle war das Protokoll handschriftl. abgefaßt.

Havenstein: Im Kabinett und bei den Verhandlungen mit den Sachverständigen habe er ausgeführt, daß die Höchstleistung Deutschlands während 30 Jahren je 1 Milliarde Goldmark zinslos sein könne. Das bedeute bei Diskontierung mit 8% auf die Gegenwart einen Betrag von 11¼ Milliarden. Der Vorschlag des Kabinetts in London6 betrage das Dreifache der von den Sachverständigen als tragbar bezeichneten Summe. Es ständen sich 30 Milliarden6a gegen seiner Auffassung nach 11¼ Milliarden gegenüber. Darauf müßten noch die Vorleistungen angerechnet werden, 17–18 Milliarden, die der gemischte Gerichtshof voraussichtlich auf 10 Milliarden festsetzen würde7. Es ergebe sich demnach eine[537] Kapitalbelastung von 40 Milliarden. Die mögliche Jahresleistung würde sich nach der Anleihe richten, die wir erhielten, für die wir, falls sie nicht steuerfrei sein würde, mindestens 10% bezahlen müßten. Die Londoner Vorschläge gingen über die Tragbarkeit hinaus. Der von Simons inoffiziös gemachte Vorschlag8 wolle noch weiter gehen, indem er den Gegenwert für die Ausfuhrprozente, einen Besserungsschein und die Annahme der Pariser Forderungen bedeute. Außerdem würde verlangt, daß durch diesen Vertrag der Friedensvertrag ausgedehnt werde (§ 18). Nachdem aber einmal, wenn auch inoffiziös, der Vorschlag in London gemacht sei, frage man sich, ob man Simons nicht stärken müsse. Daher sei das Kabinett der Meinung, daß es richtig wäre, auf das Provisorium einzugehen. Es sollten vorgeschlagen werden für die ersten 5 Jahre 5 x 3 Milliarden, von denen 8 Milliarden durch eine internationale steuerfreie Anleihe gedeckt werden sollten. Voraussetzung sei: 1.) Zustandekommen der internationalen steuerfreien Anleihe von 8 Milliarden; 2.) Abgeltung aller Entschädigungen für die fünfjährigen Leistungen für Besatzung, Kohlen, belgische Schuld9; 3.) Handelsfreiheit und keine Antidumping-Gesetze10; 4.) Verbleiben Oberschlesiens beim Reich. Unter diesen Bedingungen sei das Kabinett mit dem Vorschlag einverstanden. Er bedeute einen maskierten Rückzug. Weiter sei noch die Frage zu erwägen, ob man noch über einen Besserungsschein verhandeln solle oder ob man unter Ablehnung des ebengenannten Vorschlags den sogenannten Rathenauschen Vorschlag auf Übernahme der amerikanischen Forderungen an England und Frankreich in Höhe von 45 Milliarden Goldmark verfolgen solle11. Der letztere Vorschlag habe etwas Verlockendes an sich; denn eine neue Anleihe auf dem Weltmarkt unterzubringen, sei zur Zeit schwer. Aber die Zinsbedingungen ständen noch nicht fest, außerdem würde sie eine Belastung von jährlich 1,8–1,9 Milliarden Goldmark für mehrere Jahrzehnte für uns darstellen. Voraussetzung wäre, daß auf diesem Wege eine weitere Besetzung deutschen Gebietes aufgeschoben, wir frei von allen Sach- und Geldleistungen würden, uns die Handelsfreiheit gewährt und Oberschlesien uns verbliebe für den Fall, daß die Abstimmung für uns entschiede.

6

Zu dem Vorschlag des Kabinetts in London s. RT-Drucks. Nr. 1640, Bd. 366, S. 149 –151.

6a

) In der Vorlage heißt es irrtümlich „50 Milliarden“.

7

Gemäß Art. 304 und 305 VV sollten zwischen Dtld. und den all. Ländern eine Reihe von gemischten Schiedsgerichtshöfen errichtet werden, die bei Streitfragen in Reparationsangelegenheiten zu entscheiden hatten. Von diesen Schiedsgerichtshöfen hatten sich inzwischen gebildet: im Jahre 1920 der dt.-frz., der dt.-griech. und der dt.-brit. Schiedsgerichtshof (RGBl. 1920, S. 525 , 1741 , 1871); im Jahre 1921 der dt.-japan. und der dt.-belg. Schiedsgerichtshof (RGBl. 1921, S. 95  und 107 ).

8

Zu dem Vorschlag s. Dok. Nr. 196, Anm. 1.

9

Zur belg. Schuld s. Dok. Nr. 1, Anm. 8.

10

Gemeint waren wohl Zollmaßnahmen gegen den dt. Export.

11

Zu dem Vorschlag Rathenaus s. Dok. Nr. 197, Anm. 4.

Stresemann: Helfferich habe festgestellt den Widerspruch Simons’ jetzt gegenüber seiner Stuttgarter Erklärung12. Er bedaure, daß Vorschlag – wenn auch inoffiziös – gemacht sei, da er alle Nachteile des Pariser Abkommens habe. Über uns schwebe nicht nur das Damoklesschwert der 226 Milliarden, wir hätten auch keine Sicherheit, daß nicht im Falle der Besserung unseres Exports nach 5 Jahren die Alliierten mit Rücksicht auf den wachsenden Wohlstand gegenüber unserer jetzigen Leistungsfähigkeit größere Forderungen stellten.[538] Wir träten vollständig auf den Boden der Pariser Forderungen. Auch das Kabinett und die Parteien hätten sich für die Nichtannahme der Pariser Beschlüsse eingesetzt. Die Forderungen seien unmöglich; er freue sich, daß das Kabinett sie nunmehr für unannehmbar erkläre. Damit würden wir zum Abbruch gelangen. Der dritte Vorschlag habe einen gesunden Kern, im übrigen sei er mit dem jetzigen Vorschlag des Kabinetts einverstanden.

12

RAM Simons hatte während seines Aufenthalts in Süddeutschland u. a. auch eine Rede in Stuttgart gehalten, in der er mehrfach betont hatte, daß die Pariser Reparationsvorschläge der Alliierten unannehmbar seien. Siehe dazu auch Dok. Nr. 179, Anm. 1.

Spahn: Zwei Ziele hätten wir im Auge zu behalten: 1) keinen plötzlichen Abbruch, vielmehr Hinziehung, wofür der amerikanische Vorschlag günstig erscheine; 2) Erreichung eines Definitivums, um Aufraffung des Wirtschaftslebens zu erreichen. Schlägt vor, Provisorium abzulehnen, den Vorschlag Rathenaus aber nach London zu drahten.

Müller: Wenn Simons zu seinem Vorschlag gekommen sei, dann sei es nur verständlich aus der Gesamtsituation. Sanktionen seien ernst zu nehmen, bedeuten Anfang der Zerschlagung Preußens. Er verstehe die Vorschläge Simons’ aus der Situation heraus. Prinzipiell sei er für Festsetzung der Gesamtsumme. Falls dies nicht möglich sei, müsse an ein Provisorium gedacht werden. Kontrolle des Außenhandels sei unmöglich; sei mit dem Havensteinschen (Kabinetts-) Vorschlag einverstanden. Empfiehlt, den Vorschlag mit Amerika in die Debatte zu werfen, um dadurch uns in eine günstigere Situation zu bringen. Einen Erfolg verspreche er sich nicht.

Schiffer zieht an sich endgültige Regelung vor; da sie heute unwahrscheinlich sei, würde er sich mit Provisorium abfinden, empfiehlt aber einen Kompromißvorschlag zu machen, denn wir würden für das, was wir jetzt vorschlagen, für alle Zukunft gebunden sein. Mit Anleihe von 8 Milliarden einverstanden. Mit Abbürdung der gegnerischen Leistungen einverstanden. Gedanke sei jedoch reiflich zu prüfen und in London zu erklären, daß wir bereit seien, sofort darüber zu verhandeln.

Reichskanzler weist hin auf die Gesamtfestsetzung einerseits, die wünschenswert sei, empfiehlt aber andererseits Rücksicht auf den von Simons gemachten Vorschlag des Provisoriums.

Hergt weist darauf hin, daß offenbar die ganzen Vorschläge der Regierung nicht genügend durchgearbeitet gewesen und daß die Parteiführer nicht genügend informiert worden seien.

Reichskanzler weist darauf hin, daß Simons nicht von einer Übereinstimmung der Sachverständigen gesprochen hätte. Um zu einem Resultat zu kommen, sei eine Unterkommission von Sachverständigen gebildet worden, auf deren Gutachten hin wir dann die Vorschläge gemacht hätten13.

13

Zu den Sachverständigen und zur Ausarbeitung der dt. Gegenvorschläge zur Londoner Konferenz s. Dok. Nr. 181, Anm. 2.

Hergt erwartet eine genügende Aufklärung über die Stellung der Sachverständigen. Den zweiten Vorschlag des Telegramms Nr. 5014 betrachte er als erledigt und unannehmbar. Prinzipiell stelle er sich gegen ein Provisorium und begrüßt den amerikanischen Vorschlag, um aus der Verlegenheit, in die uns der Gegenvorschlag gebracht habe, herauszukommen. Hält es für bedenklich, wenn[539] heute auf den Gedanken des Besserungsscheins zu intensiv eingegangen würde. Sieht Bedenken darin, daß hierdurch die Grundlagen Simons’ verlassen würden. Zu dem provisorischen Vorschlag des Telegramms Nr. 50 Absatz 1 erklärt er, daß er prinzipiell gegen ein Provisorium sei, im übrigen aber entgegen den Ausführungen von Havenstein der Auffassung sei, daß die Sache nach 5 Jahren nicht res integra sei, sondern daß wir nach 5 Jahren mit der ganzen Anleihe belastet seien; hält es für ein schweres Bedenken in der Art der Aufmachung, auf die Forderungen der Gegner einzugehen. 3 Milliarden jährlich sei das Petitum der Gegner, sei aber auch die Forderung bei dem Provisorium. Schlägt vor, Provisorium nicht von hier aus zu fordern; erklärt sich für Vorschlag Rathenau, Definitivum (Amerika).

14

Zu diesem Telegramm s. Dok. Nr. 196, Anm. 1.

Spahn empfiehlt, nicht Provisorium vorzuschlagen, sondern nur den amerikanischen Vorschlag zu machen.

Stresemann: Nachdem Lloyd George die Mitwirkung bei der steuerfreien Anleihe abgelehnt habe15, würden wir unsere psychologische Situation erschweren, wenn wir jetzt damit kämen. Taktisch richtig sei es, Zeit zu gewinnen. Schließt sich daher Vorschlag Spahn an, hält eine Einigung für nicht möglich, glaubt, daß man es Simons überlassen müsse, wie man aus der Situation herauskönne.

15

Das Risiko für die geplante Anleihe sollte allein bei Dtld. liegen. Siehe dazu Dok. Nr. 196, Anm. 1.

Helfferich meint, daß es ihm, wie die Dinge lägen, am sympathischsten wäre zu erklären, daß es uns trotz heißesten Bemühens nicht möglich sei, über unsere Leistungsfähigkeit hinauszugehen. Wegen Oberschlesien empfiehlt er aber Retardierung der Entwicklung. Nur deshalb glaubt er, den Vorschlag Rathenau empfehlen zu sollen, obwohl er fürchtet, daß Lloyd George ihn mit Hohn zurückweisen würde und daß wir mit ihm noch schlechter fahren würden. Zum zweiten Vorschlag führt er aus, daß es gefährlich sei, wenn man auf ihn zurückgreifen müsse. Die Zahl von 3 Milliarden sei gefährlich für alle Zukunft.

Rathenau entwickelt eingehend seinen Vorschlag bezüglich der Übernahme der Forderungen Amerikas an Frankreich und England16. Vorschlag der Regierung mute eigentümlich an, weil eine Diskontierung mit 8% nur bei Barzahlung üblich sei, nicht aber, wenn man den Betrag schuldig bleibe.

16

Zum Vorschlag Rathenaus s. Dok. Nr. 197, Anm. 4.

Müller glaubt, nicht empfehlen zu können, daß Delegation keinen Vorschlag macht; ist der Auffassung, daß man mehr sagen müsse. Gegen völliges Fallenlassen des zweiten Vorschlags im Telegramm Nr. 50 spricht, daß solange mit Lloyd George darüber verhandelt ist.

Helfferich kritisiert den Vorschlag Rathenaus, ist aber der Ansicht, daß das Angebot gemacht werden soll.

Schiffer hat den Eindruck, daß wir mit einer Ablehnung aller Vorschläge zu rechnen haben. Die Hauptsache sei, uns eine Tür offen zu halten und uns nicht in ungünstiger Weise zu binden. Hält den Vorschlag Rathenau für erwägenswert, glaubt aber, daß er besser unter der Hand herangebracht werden müsse.

[540] Havenstein kritisiert den Vorschlag Rathenaus, bezeichnet ihn als verführerisch, bittet aber doch, sich klarzumachen, daß dieser Vorschlag Deutschland auf etwa 22 Jahre mit Jahresleistungen von 2,4 Milliarden belaste. Dazu wäre notwendig, daß unsere Ausfuhr auf 22 Milliarden steige. Er halte ihn für nicht durchführbar, empfiehlt aber trotzdem, mit Rücksicht auf die Lage, ihn zu machen.

Die Sitzung wurde hierauf vom Herrn Reichskanzler geschlossen.

Die Mitglieder des Kabinetts traten sofort zur endgültigen Beratung der an Simons zu gebenden Instruktion zusammen17.

17

Siehe dazu Dok. Nr. 199.

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