2.171 (ma31p): Nr. 171 Aufzeichnung des Staatssekretärs Pünder über Verhandlungen zur Neubildung der Reichsregierung. 19. Januar 1927

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Nr. 171
Aufzeichnung des Staatssekretärs Pünder über Verhandlungen zur Neubildung der Reichsregierung. 19. Januar 1927

Nachl. Pünder, Nr. 95, Bl. 86–88

Im Anschluß an die gestrige Sitzung des Vorstandes der Sozialdemokratischen Fraktion hatte der Abgeordnete Hermann Müller am Abend eine erneute Besprechung mit dem Herrn Reichskanzler und dem Unterzeichneten erbeten. Hierbei führte Hermann Müller etwa Folgendes aus:

[503] Er habe seitens des Herrn Reichskanzlers gestern die Mitteilung entgegengenommen, daß die Große Koalition ausgeschlossen sei. Ferner heute die weitere Mitteilung, daß die Deutschnationalen nicht geneigt seien, eine solche Mitte irgendwie zu stützen. Infolgedessen käme doch für eine Regierung der Mitte, selbst wenn auch irgendwelche Bindungen nach links hin nicht zugestanden werden sollten, nur noch eine Stützung durch die Linke in Frage. Dadurch entstehe die weitere Frage, wie nun eine solche dauernde tatsächliche Tuchfühlung zwischen Mitte und Links praktisch ausgestaltet werden solle. Er wäre dankbar, wenn er hierüber am heutigen Vormittag vom Herrn Reichskanzler noch eine Mitteilung erhalten könnte. Eine weitere Rückfrage ging dahin, wie etwa nach Ansicht des Herrn Reichskanzlers in persönlicher Hinsicht das Kabinett der Mitte aussehen werde.

Da Herr Dr. Scholz am Abend nicht mehr zu erreichen war, wurde mit ihm seitens der Reichskanzlei eine Rücksprache mit dem Herrn Reichskanzler für heute, 10 Uhr vorm. in der Reichskanzlei vereinbart.

In dieser Besprechung legte der Herr Reichskanzler Herrn Dr. Scholz die Rückfrage des Herrn Abg. Müller vor. Herr Dr. Scholz führte hierin etwa folgendes aus:

Der gestrige Reichsparteivorstand der Volkspartei habe sich eingehend mit der gesamten politischen Lage befaßt, aber keine Beschlüsse gefaßt. Fest stehe beschlußmäßig nach wie vor bisher nur die Ablehnung der Großen Koalition; stimmungsmäßig könne er aber ergänzend Folgendes mitteilen: Die Deutsche Volkspartei halte es jetzt unbedingt an der Zeit, mit den Deutschnationalen über Bildung einer Bürgerlichen Mehrheitsregierung in Verhandlung zu treten. Wie diese Mehrheitsregierung aussähe, sei noch zu erörtern; er halte es jedenfalls auf Grund genauer Kenntnis der Dinge doch noch für sehr gut möglich, daß die Deutschnationalen sich gegebenenfalls auch mit einer Beteiligung in etwas loserer Form, durch sogenannte à la suite-Stellung und Vertretung durch einen Vertrauensmann im Kabinett, begnügen würden. Nach Ansicht der Volkspartei müsse jedenfalls dieser Versuch zuerst unternommen werden. Erst nach dem etwaigen Scheitern dieses Versuches käme für die Volkspartei wieder eine Erörterung über die Schaffung einer Bürgerlichen Mitte in Betracht.

Der Herr Reichskanzler führte demgegenüber aus, daß das Zentrum gerade vom umgekehrten Standpunkt ausgehe. Nach seiner Meinung müsse erst der ernstliche Versuch der Schaffung einer Bürgerlichen Mitte gemacht werden, und erst nach dem Scheitern dieses Versuches sei auch für das Zentrum eine neue Lage geschaffen, mit der es sich mit voller Absicht bisher noch nicht befaßt habe. Daher habe auch der Auftrag des Herrn Reichspräsidenten an ihn mit seiner vollen Zustimmung sich nur auf die Schaffung einer Mittelregierung erstreckt1.

1

Siehe Dok. Nr. 168, Anm. 1.

Nachdem durch die weitere beiderseitige Aussprache sich eine gemeinsame Linie der Auffassungen des Zentrums und der Volkspartei nicht zeigte, führte der Unterzeichnete etwa folgendes aus:

[504] Der Herr Reichskanzler sei jedenfalls heute mittag genötigt, irgendeine Erklärung an den Abgeordneten Müller abzugeben. Wenn nun diese Erklärung nach den vorherigen Ausführungen des Herrn Dr. Scholz dahin gehen würde, daß die Verhandlungen über Schaffung einer Mitte mit Tuchfühlung an die Sozialdemokratie abgebrochen werden müßten und Verhandlungen über die Schaffung einer Bürgerlichen Mehrheitsregierung beginnen würden, so scheint mir dadurch für die gesamte bürgerliche Mitte eine sehr ungünstige taktische Lage geschaffen. Die Sozialdemokraten würden dann der Notwendigkeit enthoben, einen Beschluß über die praktische Ausgestaltung der Tuchfühlung zu fassen und könnten sagen, daß sie trotz starker Erklärung zu Verhandlungsbereitschaft kurz vor Beendigung der Verhandlungen von der Mitte brüsk abgewiesen worden seien. M. E. wäre es zweckmäßiger, wenn die Sozialdemokratie über die Ausgestaltung der Tuchfühlung einen Beschluß fassen würde und daß diese Vorschläge den Parteien der Mitte unterbreitet würden. Es sei dann jederzeit noch möglich, daß die etwa von der Sozialdemokratie gestellten Bedingungen abgelehnt würden.

Herr Dr. Scholz erkannte die Richtigkeit vorstehender Schlußfolgerungen an. Er stellte deshalb in Aussicht, daß die Volkspartei heute mittag keine die weiteren Verhandlungen des Herrn Reichskanzlers mit der Sozialdemokratie störenden Beschlüsse fassen und die Stellungnahme der Sozialdemokratie abwarten würde.

Im Anschluß an die Besprechung mit Herrn Dr. Scholz berichtete der Herr Reichskanzler dem Herrn Reichspräsidenten. Neues brachte diese Besprechung nicht.

Gegen 12 Uhr mittags fand sodann im Reichstage eine weitere Aussprache des Herrn Reichskanzlers mit Herrn Abg. Hermann Müller unter Beteiligung des Unterzeichneten statt. Der Herr Reichskanzler beantwortete die Rückfrage des Herrn Abg. Müller von gestern abend etwa folgendermaßen:

Er habe über diese Rückfrage mit Herrn Dr. Scholz gesprochen und ihn davon in Kenntnis gesetzt, daß er als Beauftragter des Herrn Reichspräsidenten bei dem Versuch um Bildung der Regierung der Mitte noch in Verhandlung mit der Sozialdemokratie begriffen sei. Er habe hierbei ausgeführt, die Sozialdemokratie wünschte angesichts der völlig ablehnenden Haltung der Deutschnationalen hinsichtlich einer etwaigen Regierung der Mitte eine möglichst klare Stellungnahme der Mittelparteien zu der sich hierdurch naturgemäß ergebenden dauernden Tuchfühlung mit der Linken. Herr Dr. Scholz habe ihm darauf erklärt, nach dieser Richtung liege noch kein Beschluß der Volkspartei vor, insbesondere auch noch kein ablehnender. Er, der Reichskanzler, möchte nun auch seinerseits Herrn Abg. Hermann Müller veranlassen, daß zunächst sich die Sozialdemokratie darüber Gedanken mache, wie sie sich selbst diese dauernde Tuchfühlung in der praktischen Arbeit ausgestaltet denke. Er werde das Ergebnis der diesbezüglichen sozialdemokratischen Entschließungen dann den Mittelparteien unterbreiten und diese dann zu einer klaren Stellungnahme veranlassen.

Herr Abg. Hermann Müller nahm diese Mitteilung entgegen und ließ in keiner Weise erkennen, daß er etwa dieses taktische Vorgehen als unberechtigt[505] ansehe. Zum Schlusse stellte er nur die weitere Frage wegen der etwaigen personellen Zusammensetzung der etwaigen Regierung der Mitte, worauf der Herr Reichskanzler bezüglich der Person des Ministers Geßler erwiderte, daß ihm von einem freiwilligen Rücktritt des Herrn Ministers nichts bekannt sei, er ihm auch nicht wahrscheinlich scheine2.

2

Ein Vermerk des RegR Pukaß vom 19.1.27, der noch am 19. 1. StS Pünder und RK Marx vorgelegt wurde, lautet: „Herr Ministerialdirektor Zechlin telephoniert soeben aus dem Reichstag folgendes: Herr Hilferding hätte ihm zu der Unterredung des Herrn Reichstagspräsidenten Löbe mit Herrn Reichsminister Geßler mitgeteilt, daß Herr Geßler Herrn Löbe erklärt hätte, er ginge gern, wenn er von dem neuen Herrn Reichskanzler einen Wink [„Wink“ geändert aus „Brief“] bekäme. Für ihn wäre die Situation äußerst schwierig, da er bei der Verabschiedung Seeckts von dem Herrn Reichspräsidenten die Zusicherung erbeten und auch erhalten hätte, daß er – Minister Geßler – im Amt bleiben würde. Herr Ministerialdirektor Zechlin erlaubt sich den Vorschlag zu machen, daß Herr Reichskanzler Marx mit Herrn Reichstagspräsidenten Löbe zur Klarstellung des Sachverhalts eine Unterredung herbeiführt. Herr Hilferding hat Herrn Zechlin zu dem Beschluß der Sozialdemokratischen Fraktion [siehe Dok. Nr. 172, Anm. 3] erklärt, daß sie keinen anderen Beschluß hätten fassen können, weil Herr Reichskanzler Marx ihrem Unterhändler [Hermann Müller] nicht gesagt hätte, daß Herr Minister Geßler gehen oder bleiben würde. Wäre ihnen das eine oder andere fest zugesagt, dann hätte sie – die Sozialdemokratische Fraktion – auch einen positiven Beschluß gefaßt.“ (Nachl. Pünder , Nr. 95, Bl. 84). Vgl. dazu Stürmer, Koalition und Opposition in der Weimarer Republik, S. 186.

Pünder

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