2.115 (mu21p): Nr. 115 Der Reichswehrminister an den Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft. 28. Januar 1929

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Nr. 115
Der Reichswehrminister an den Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft. 28. Januar 1929

R 43 I /1799 , Bl. 232-235 Abschrift1

1

Die Abschrift trägt einen roten „Geheim“-Stempel.

[Betrifft: Siedlungswesen in Ostpreußen.]

Sehr geehrter Herr Kollege!

Ihre im Reichskabinett über die Hilfsmaßnahmen für den Osten vorgebrachten Ausführungen2, denen ich durchaus beipflichte, veranlassen mich, in Anbetracht der Bedeutung der wirtschaftlichen Entwicklung der östlichen Grenzgebiete für ihre Erhaltung und gegebenenfalls ihre Verteidigung, Ihnen meine Auffassungen zu einigen dieser Probleme darzulegen. Ich bin mir bewußt, daß ich gerade Ihnen dabei nichts Neues bringe. Mir kommt es vielmehr auf die sich für mich daraus ergebenden Folgerungen an.

2

Siehe hierzu Dok. Nr. 78, P. 1; evtl. hatte sich Dietrich auch in der Besprechung des Haushalts für das RIMin., Dok. Nr. 105, P. 2, zur Ostpreußen-Frage geäußert.

I.

Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Lage und Landesverteidigung.

Zunächst nehme ich Bezug auf meine in der Kabinettssitzung vom 18. Oktober 283 vom Reichskabinett gebilligten Ausführungen, daß zusammen mit unserer Wehrmacht der natürlichste und beste Schutz unserer Ostgebiete ein lebendiger Wall von deutschen Bauern im Rahmen einer gesunden Wirtschaft sei.

3

Siehe hierzu Anm. 1 zu Dok. Nr. 42.

Mit den übrigen Kabinettsmitgliedern glaube ich mich einig, daß die bisherigen Hilfsmaßnahmen für den Osten, sowohl die Subventionspolitik für die Landwirtschaft wie die Siedlungspolitik, nicht den erwarteten Erfolg gebracht haben. Vielmehr hat sich aus den verschiedensten Gründen die Lage der Landwirtschaft krisenhaft verschärft. In weiten Kreisen der Grenzbevölkerung wurde dadurch vielfach die gefährliche Auffassung erzeugt, von Reich und Staat verlassen zu sein. Diese Entwicklung wird an der Grenze mit der Liebe der Bewohner zur Heimat unvermeidlich auch den Abwehrwillen gegenüber[393] dem Polentum zunehmend erschüttern. Ein sichtbarer Ausdruck der Unzufriedenheit und Mißstimmung ist die starke Abwanderung. Diese muß bei den Zurückbleibenden das Gefühl der Vereinsamung steigern. Sie bedeutet eine zunehmende Entblößung verschiedener, ohnehin sehr dünn bevölkerter Grenzstriche, vor allem aber hat sie das Hereinziehen und die Förderung des polnischen Elements, wenn auch zunächst hauptsächlich nur als Saisonarbeiter, zur Folge4. Die sich aus dieser Gestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse ergebende staats- und nationalpolitische Gefährdung unserer Grenzgebiete betrifft vor allem Interessen des Reiches.

4

Der StSRkei orientierte einige Monate später den RIM und den RArbM über ein Schreiben des RWeM vom 4.5.1929 (nicht in R 43 I ermittelt), wonach die Besiedlung der Grenzdomänen im Kreise Flatow nur langsam vorangehe und der Kulturkampf zwischen Polen und den immer stärker abwandernden Deutschen durch die Gründung polnischer Minderheitenschulen zunehme (R 43 I /725 , Bl. 134-136).

II.

Die bisherige Ostpolitik.

Ohne eine einzelne Stelle belasten zu wollen, habe ich den Eindruck, daß bisher trotz Bereitstellung erheblicher öffentlicher Mittel eine große und einheitliche Linie in der Behandlung der Ostfragen gefehlt hat. Dies kommt zum Ausdruck z. B. in der vielfachen Konkurrenz zwischen Reich und Preußen. Das Reich scheint mir in Anbetracht seiner lebenswichtigen Interessen in der Bearbeitung der Ostfragen nicht glücklich organisiert, um jederzeit seinen maßgebenden Einfluß sicherzustellen. Es teilen sich m. E. zu viele Stellen in die Bearbeitung. Dadurch wird außerdem noch die Möglichkeit bürokratischer Hemmungen und Reibungen wesentlich vermehrt.

Dieser wenig einheitlichen Organisation des Reiches gegenüber ist zu beachten, daß namhafte preußische Stellen, die auf die praktische Durchführung aller Maßnahmen den größten Einfluß haben, wiederholt eine ausgesprochen einseitige Stellungnahme zu einzelnen der vorliegenden landwirtschaftlichen Probleme des Ostens kundgetan haben. Hier besteht die Gefahr schädlicher Rückwirkungen auf lebenswichtige Belange des Reiches. Mir liegt es völlig fern, etwa einen neuen Konflikt mit Preußen heraufzubeschwören. Vielmehr kommt es mir nur darauf an, die Notwendigkeit zu betonen, daß sich das Reich einen seinen Interessen an der Entwicklung im Osten entsprechenden Einfluß sicherstellt. Dies erscheint sachlich um so mehr berechtigt, als letzten Endes der Erfolg aller Hilfsmaßnahmen für den Osten abhängig ist von der allgemeinen Wirtschafts- und Agrarpolitik des Reiches.

III.

Von den Gesichtspunkten des Reichsinteresses aus will ich kurz Stellung nehmen zu den beiden gegenwärtigen Hauptproblemen:

1. Der Sanierung und Erhaltung lebensfähiger landwirtschaftlicher Betriebe.

2. Dem Ausbau des Siedlungswesens.

Auf eine bevorzugte Behandlung Ostpreußens bei allen kommenden Maßnahmen muß ich gerade auch von meinem Standpunkt aus das größte Gewicht legen.

[394] Zu 1. Wenn auch die bisherige Besitzverteilung im Osten aus wirtschaftlichen, sozialen und nationalpolitischen Gründen vielfach nicht mehr haltbar ist, so ist doch für die Ernähungspolitik und Volkswirtschaft des Reiches die Erhaltung einer den Bedürfnissen des Reiches entsprechenden Anzahl lebensfähiger landwirtschaftlicher Großbetriebe von grundlegender Bedeutung.

Von diesem Standpunkt aus dürfte es daher geboten erscheinen, daß das Reich sich einen maßgeblichen Einfluß auf die viel erörterten „Aufnahme“- Pläne der Preußenkasse sichert, um seine übergeordneten Interessen dabei mit wahrzunehmen und um auf jeden Fall eine gefährliche Beunruhigung und Mißtrauen gegen die Sachlichkeit von Regierungsmaßnahmen gerade unter den eingesessenen Kreisen der Grenzbevölkerung zu verhindern. Dazu erscheinen mir Garantien erforderlich, daß nur aussichtslos verschuldete Betriebe zur Aufnahme gelangen, daß jede Bodenspekulation, die letzten Endes die übrig bleibenden Betriebe schädigen würde, bei dieser Aktion ausgeschaltet wird und daß schließlich jede direkte oder indirekte Förderung des Polentums dabei vermieden wird.

Zu 2.

a) Allgemeines zur Ostsiedlung.

Gerade auf dem Gebiet des Siedlungswesens hat sich m. E. bisher die oben gekennzeichnete, wenig einheitliche Organisation des Reiches und die Konkurrenz zwischen Reich und Preußen besonders nachteilig ausgewirkt. Ich erinnere beispielsweise an die Finanzierungsfrage, die heute noch keine endgültige und befriedigende Lösung erfahren hat. Des weiteren verweise ich auf die vielfach ganz besonders beklagten bürokratischen und ressortmäßigen Hemmungen für die Siedlung, die sich aus der Vielheit der beteiligten Behörden zwangsläufig ergeben haben.

Ich fasse kurz die wichtigsten Aufgaben unserer Grenzsiedlungspolitik zusammen:

Neben der Schaffung zahlreicher Bauernstellen kommt je nach örtlichen Verhältnissen und Bedingungen auch die weitere Förderung der Anlieger- und Landarbeitersiedlung als ein wichtiges Mittel gegen die Abwanderung in Frage. Aus wirtschaftlichen und psychologischen Gründen erscheint es weiter erforderlich, daß auch die Bestimmungen über die Erhaltung und den Erwerb vorhandener Bauernwirtschaften in den Grenzgebieten den Siedlungsbestimmungen mehr angepaßt werden. Hand in Hand mit der Siedlung ist eine planmäßige Organisation des Verkehrs- und Absatzgebietes ins Auge zu fassen. Für die Grenzgebiete ist dazu noch von großer Wichtigkeit die Vorbereitung der kulturellen Betreuung der Siedler, ohne diese dafür finanziell zu belasten.

In Anbetracht der besonders schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse unserer Grenzgebiete und ihrer bedrohten Lage bedürfen die Finanzierungsbedingungen einer umgehenden endgültigen Festlegung und eines noch wesentlich mehr werbenden Charakters.

Die Erreichung der nationalpolitischen und sozialen Zwecke unserer Siedlungspolitik ist demnach völlig abhängig von den wirtschaftlichen Erfolgen[395] der Siedler. Für diese ist, abgesehen von günstigen Siedlungsbedingungen, in erster Linie maßgebend die allgemeine Rentabilität unserer Landwirtschaft. Unsere Siedlungspolitik hat daher nur Aussicht als ein organischer Bestandteil unserer Agrarpolitik. Die Neuheit des ganzen Problems und die Verschiedenartigkeit der Belange gerade bei der Grenzsiedlung weisen aber ganz besonders hin auf die Notwendigkeit einer einheitlichen, mit weitgehenden Befugnissen ausgestatteten Leitung der Siedlungspolitik, um ein Siedlungsprogramm auf weite Sicht durchzuführen.

b) Die Soldatensiedlung.

Mein Ministerium ist noch besonders interessiert an der Ansiedlung ausscheidender Wehrmachtsangehöriger. Bisher wurden unter Mitwirkung des Reichsarbeitsministeriums etwa 70 Soldaten angesiedelt. Der Siedlungsfonds des Reichswehrministeriums reicht noch für 150–200 weitere Siedler. Eine fortlaufende Ergänzung dieser Mittel steht bis jetzt nicht in Aussicht.

Die nach Ablauf ihrer zwölfjährigen Dienstzeit ausscheidenden Soldaten können, auf weite Siedlungsgebiete verteilt, einen wertvollen Zuwachs zur Stärkung des Deutschtums an der Grenze bilden.

Das Reich hat gegenüber diesen ausscheidenden Soldaten sehr ernst zu nehmende Versorgungsverpflichtungen, gleichzeitig aber auch ein großes Interesse, den Andrang zur Beamtenlaufbahn nach Möglichkeit zu verringern. Die Siedlung bietet dazu eine günstige Gelegenheit, einen Teil des besonders wertvollen ländlichen Ersatzes wieder auf das Land zurückzuführen. Durch den Unterricht auf den landwirtschaftlichen Heeresfachschulen können solche Soldaten fachlich durchaus auf die Aufgaben der Siedlung vorbereitet werden. In finanzieller Hinsicht ist von Bedeutung, daß jeder nach zwölf Jahren ausscheidende Wehrmachtsangehörige rund 7000 RM Übergangs- und Abfindungsgebührnisse mitbringen kann.

Um aber die Soldaten in größerer Anzahl zum Verzicht auf die vor allem erstrebte Beamtenlaufbahn und zur Grenzsiedlung zu bewegen, sind ausnahmsweise günstige Bedingungen erforderlich und auch berechtigt. Für Ihre wohlwollende und sachkundige Unterstützung in der Frage der Soldatensiedlung wäre ich Ihnen, sehr geehrter Herr Kollege, besonders dankbar. Die großzügige und planmäßige Eingliederung einer noch weiter auszubauenden Soldatensiedlung in die allgemeine Siedlungspolitik ist geeignet, die Maßnahmen zum Schutze unserer Grenzen besonders zu fördern.

IV.

Folgerungen.

Abschließend stelle ich zur Erwägung, ob nicht entsprechend der staatspolitischen Bedeutung der heutigen Krisis im Osten und einer sachlichen und einheitlichen Förderung aller Hilfsmaßnahmen der Einfluß des Reiches sicherer und umfassender gewährt werden kann durch eine Zusammenfassung der Bearbeitung sowohl der Sanierungsmaßnahmen wie der Siedlungspolitik bei einer Reichsstelle. Meines Erachtens kommt dafür in erster Linie das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft in Frage, um so mehr, als dieses[396] in nächster Zeit ohnehin mit einem großzügigen landwirtschaftlichen Notprogramm für den Osten hervortreten will5.

5

Auf dem Anschreiben an die Rkei notierte StS Pünder am 13.2.1929: „Eine Überleitung der Siedlungsfragen vom RArbMin. zum REMin. wird sich nicht durchsetzen lassen. Im übrigen sind die Vorschläge (die übrigens auch nicht neu sind) sehr beachtenswert.“

Ich wäre Ihnen, sehr geehrter Herr Kollege, sehr dankbar für eine gefällige Gegenäußerung zu diesem Vorschlag. Für den Fall Ihres Einverständnisses beabsichtige ich, offiziell damit an das Reichskabinett heranzutreten.

Der Herr Reichskanzler erhält Abschrift von vorstehenden Ausführungen.

Mit der Versicherung meiner vorzüglichen Hochachtung bin ich

Ihr sehr ergebener

gez. Groener

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