1.3 (str1p): Das zweite Kabinett der Großen Koalition und sein Scheitern an den Konflikten des Reiches mit Bayern und Sachsen

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Die Kabinette Stresemann I und II. Band 1Gustav Stresemann und Werner Freiherr von Rheinhaben Bild 102-00171Bild 146-1972-062-11Reichsexekution gegen Sachsen. Bild 102-00189Odeonsplatz in München am 9.11.1923 Bild 119-1426

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Das zweite Kabinett der Großen Koalition und sein Scheitern an den Konflikten des Reiches mit Bayern und Sachsen

Die Große Koalition war ein zerbrechliches Gebilde. Das erste Kabinett Stresemann hatte eine Lebensdauer von acht Wochen, aus dem zweiten schieden die Sozialdemokraten bereits nach knapp vier Wochen wieder aus. Allerdings erzielte das Ermächtigungsgesetz73, das eine verfassungsändernde Mehrheit voraussetzte74, am 13. Oktober im Reichstag mit 316:24 eine größere Anzahl von Stimmen für die Regierung Stresemann als das Vertrauensvotum zwei Monate zuvor. Stresemann war auch entschlossen, zu handeln. Für den Fall eines Erfolges der von Deutschnationalen und Kommunisten im Reichstag betriebenen Obstruktion hatte Stresemann vom Reichspräsidenten die Auflösungsordre erbeten und erhalten75. Das Arbeitszeitproblem, an dem das erste Kabinett zerbrochen war, wurde aber lediglich beiseite geschoben und nicht gelöst. Es ist bezeichnend, daß die Neuformulierung des Ermächtigungsgesetzes den Fraktionsführern überlassen worden war. Auf Verlangen des Arbeitsministers kam die Ermächtigung für den sozialen Bereich wieder hinein, aber unter ausdrücklicher Ausklammerung der Regelung der Arbeitszeit76. Ihre nun vorgesehene gesetzliche Regelung wurde vom Kabinett eingeleitet und, um für sie Zeit zu gewinnen, durch Verordnung aufgrund des Ermächtigungsgesetzes am 29. Oktober eine befristete Verlängerung der Demobilmachungsverordnungen über die Arbeitszeit bis zum 17. November verfügt77. Der Reichstag vermochte jedoch die Aufgabe einer gesetzlichen Regelung der Arbeitszeit nicht zu lösen. Daher trat am 17. November mit Ablauf der verlängerten Demobilmachungsverordnungen ein Zustand ein, der arbeitszeitrechtlich dem der Vorkriegszeit entsprach. Es gab im Kabinett Stimmen, die das gut fanden und dafür eintraten, „für ein Jahr die Dinge laufen zu lassen“78. Auf Vorschlag von Brauns verfiel man auf den Ausweg, eine Regelung mit Hilfe einer Notverordnung aufgrund des Art. 48 anzustreben. Die Frage blieb[XXXVII] jedoch offen. Erst am 21. Dezember wurde schließlich durch die bürgerliche Regierung Marx wiederum nicht durch Gesetz, sondern durch Verordnung aufgrund des ihr am 8. Dezember 1923 erteilten erweiterten Ermächtigungsgesetzes die Arbeitszeit geregelt79. Diese Verordnung, die durch tarifliche Vereinbarung oder durch behördliche Anordnung eine Erhöhung der Arbeitszeit bis zu 10 Stunden unter grundsätzlichem Festhalten am Achtstundentag vorsah, schloß sich im übrigen eng an die im Kabinett Stresemann geleisteten Vorarbeiten, d. h. an einen am 13. Oktober angenommenen und am 22. Oktober dem Reichstag zugeleiteten Gesetzentwurf an80.

73

Dok. Nr. 116; 117.

74

Dok. Nr. 109.

75

Dok. Nr. 128; 120.

76

Dok. Nr. 115; RGBl. I, S. 153, Ermächtigungsgesetz vom 13.10.1923.

77

Dok. Nr. 130; 132; RGBl. S. 1037; hierzu die rückblickende Darstellung von Brauns im Reichstag am 26.2.1924, Bd. 361, S. 12480 ff.

78

Dok. Nr. 259; Jarres, ähnlich Luther.

79

Kabinett Marx, Dok. Nr. 25; RGBl. S. 1249.

80

Dok. Nr. 132; Text des Entwurfs RT-Drucksache Nr. 6279, Bd. 380.

Die Zusammenarbeit im Kabinett wurde im zweiten Kabinett Stresemann durch die ungelöste Arbeitszeitfrage nicht mehr belastet. Dafür schob sich als Koalitionsproblem das Doppelverhältnis des Reiches zu Bayern und Sachsen in den Vordergrund. Bayern, das die Regierung Cuno bis zuletzt unterstützt hatte, zeigte sich gegenüber der Großen Koalition Stresemanns von vornherein ablehnend81. Die starke sozialdemokratische Beteiligung an der Regierung gefährdete nach bayerischer Auffassung sowohl eine „national kraftvolle Staatsführung“ wie die Wahrung „bayerischer politischer und wirtschaftlicher Belange“. Stresemann war demgegenüber um das bayerische Wohlwollen bemüht, so in einem Schreiben an den Ministerpräsidenten Knilling vom 18. August82. Er betonte die Unausweichlichkeit der Großen Koalition und rechtfertigte mit dem Hinweis auf das sozialdemokratische Zugeständnis, Geßler weiterhin als Reichswehrminister zu tolerieren, die Berufung des Sozialdemokraten Sollmann zum Innenminister. Dieser gab dem am 24. August nach München reisenden Kanzler eine Zusammenstellung der Gravamina des Reiches gegen Bayern mit auf den Weg83. Sie gipfelte in den Vorwürfen, daß durch die bayerischen „Volksgerichte“ die „Rechtshoheit des Reiches auf das schwerste gefährdet“ sei, daß die bayerische Regierung den Art. 48 RV verfassungswidrig anwende, um „gegen das Reich Politik zu machen“, daß sie die nationalsozialistischen Sturmtrupps toleriere trotz ihrer vom Staatsgerichtshof festgestellten Verfassungsfeindlichkeit und daß die Unmöglichkeit, in Bayern Verfassungsfeinde strafrechtlich zu verfolgen, das Land geradezu zu einem „Asyl für Staatsverbrecher“ gemacht habe. Stresemann sprach mit Knilling und dem Führer der Fraktion der BVP im bayerischen Landtag Heinrich Held am 25. August in Mittenwald. Die Unterredung war „erst sehr erregt, später sehr freundlich“84. Schon damals schloß der Kanzler gegenüber Freunden nicht aus, daß es einmal „hart auf hart“ gehen werde. Für den Augenblick aber glaubte er, einen „modus vivendi“ hergestellt zu haben85. Von einem „Einverständnis in allen Fragen“, wie Stresemann vor dem Kabinett als Ergebnis seiner Reise berichtete, konnte aber keine Rede sein, legte doch schon am folgenden Tage die[XXXVIII] bayerische Regierung Verwahrung gegen die Notverordnung des Reichspräsidenten vom 10. August ein. Bayern sah in der alleinigen Zuständigkeit des Reichsinnenministers für Verbot und Beschlagnahme periodischer Druckschriften einen „Eingriff in die Justiz- und Polizeihoheit der Länder“86. Zehn Tage später folgte ein Protest gegen die Handhabung der noch unter dem Reichskanzler Cuno unter Mitwirkung der BVP vom Reichstag beschlossenen Besitzsteuern87. Die innere Entwicklung in Bayern erfüllte die Regierung mit wachsender Sorge88. Der bevorstehende Abbruch des passiven Widerstandes machte Stresemann und die ihn angeblich bestimmenden marxistischen Hintermänner zum Ziel ungezügelter deutschnational-völkischer, konservativ-bayerischer und nationalsozialistischer Angriffe. Eine gangbare Alternative zum Weg des Verhandelns mit Frankreich, den Stresemann gehen wollte, konnte die deutschnationale Proklamation vom 19. September89 freilich ebensowenig aufzeigen wie die Bayerische Regierung, die vor einem „zweiten Versailles“ warnte90. Zwar mußte auch Knilling in einer Besprechung der Ministerpräsidenten mit dem Reichskanzler am 25. September zugeben, „daß die Finanzlage des Reiches eine Beendigung des Widerstands erheische“, schlug aber in Übereinstimmung mit deutschnationalen Forderungen vor, gleichzeitig den Versailler Vertrag aufzukündigen91. Er stand dabei unter dem Druck einer wilden nationalsozialistischen Agitation in München, von der nicht sicher war, ob sie in Putschaktionen ausmünden würde. Daher proklamierte die Knilling-Regierung am 26. September unmittelbar nach dem Abbruch des passiven Widerstandes unter Zuhilfenahme des Art. 48 der Reichsverfassung den Ausnahmezustand in Bayern92 und verbot eine Reihe von Kundgebungen, die Hitler für die von ihm befehligten „Kampfbünde“ angesetzt hatte. Durch das Vorgehen Bayerns sah sich Stresemann veranlaßt, auch für das Reich noch in der Nacht vom 26. zum 27. September durch das eilig zusammengerufene Kabinett den seit Tagen vorbereiteten Ausnahmezustand beschließen zu lassen. Die ausführende Gewalt wurde dem Reichswehrminister, ihre tatsächliche Handhabe dem Chef der Heeresleitung und durch ihn den Wehrkreisbefehlshabern übertragen, u. a. für Bayern General von Lossow und für Sachsen Generalleutnant Müller93.

81

Dok. Nr. 6.

82

Dok. Nr. 11.

83

Dok. Nr. 21; vgl. Dok. Nr. 25, Anm. 3.

84

Vermächtnis, Bd. 1, S. 99.

85

Bericht über die Reise, Kabinettssitzung 27.8.1923, Dok. Nr. 25.

86

Dok. Nr. 28; Zurückweisung durch Stresemann, Dok. Nr. 54.

87

Dok. Nr. 48; 51, Ic.

88

Kabinettssitzung 13.9.1923, Dok. Nr. 55,7.

89

Ursachen und Folgen, Bd. 5, Nr. 1076.

90

Dok. Nr. 57; 59; 65.

91

Dok. Nr. 79; vgl. Hergt in der Besprechung mit den Parteiführern vom gleichen Tage Dok. Nr. 80.

92

VO vom 26.9.1923, veröffentlicht am 27.9.1923; E. R. Huber (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte 3, Nr. 278c.

93

Kabinettssitzung vom 27.9.1923, Dok. Nr. 83, dort Anm. 10 über die Kabinettssitzung in der Nacht zum 27.9.1923.

An der Frage nach dem Verhältnis von Reichs- und bayerischem Ausnahmezustand schieden sich im Kabinett die Geister. Nach Auskunft des Reichsjustizministers Radbruch war „die Bayerische Regierung verpflichtet, die Verordnung unverzüglich auf Anfordern außer Kraft zu setzen“. Die sozialdemokratischen Minister forderten dies, während Stresemann zu bedenken[XXXIX] gab, „wenn man nicht die Sicherheit habe, daß Bayern diesem Ersuchen unverzüglich stattgebe, so sei es besser, daß man ein derartiges Ersuchen erst gar nicht an die bayerische Regierung richte.“ Mit einem Nachgeben Bayerns war aber nicht zu rechnen94. Der Fall Lossow, die Verhinderung des Abtransportes von Reichsbankgold aus Nürnberg und die Sistierung des Republikschutzgesetzes in Bayern verschärften Ende September die Lage95. Stresemann blieb auch jetzt, im Kabinett von bürgerlicher Seite her unterstützt, bei der Meinung, daß im Hinblick auf die innen- und außenpolitische Lage des Reiches alles vermieden werden müsse, was die Regierung mit dem Vorwurf belasten könne, Anlaß zum Bruch mit Bayern gegeben zu haben. Die Alternative zu einer Politik der Verständigung, „eine Reichsexekutive in Bayern mit Truppenmacht“, erklärte Geßler für ausgeschlossen. Auch die sozialdemokratischen Minister waren in der Kabinettssitzung vom 1. Oktober96 in Verlegenheit anzugeben, was denn nun eigentlich unternommen werden könne, um den Reichswillen in Bayern durchzusetzen. Ein Vorschlag Radbruchs, den Staatsgerichtshof anzurufen, wurde von Sollmann geteilt, von Hilferding verworfen, und auch Ebert, der dem Ministerrat vom 1. Oktober präsidierte, versprach sich nichts davon. Was in Bayern geschah, empfanden die Sozialdemokraten zu Recht in erster Linie als gegen sich selbst gerichtet97. Der die erste Krise der Regierung Stresemann auslösende Vorstoß der DVP-Fraktion vom 2. Oktober zielte mit dem Vorschlag einer personalen Veränderung des Kabinetts und der Hereinnahme der Deutschnationalen in die Regierung in die gleiche Richtung. Dem Antagonismus der Flügelparteien der Koalition in der Arbeitszeitfrage entsprach ihre gegensätzliche Einstellung gegenüber Bayern. Die sozialdemokratische Forderung, den bayerischen Ausnahmezustand von Reichs wegen aufzuheben, wurde vom Fraktionsführer der DVP in jener Parteiführerbesprechung entschieden zurückgewiesen98.

94

Dok. Nr. 84; 87.

95

Dok. Nr. 93; 94; 96. – Gleichzeitig mit dem Fall Lossow traten zusätzliche Spannungen zwischen Bayern und dem Reichswehrministerium auf, da General v. Epp, Infanterieführer der 7. Division, wegen Begünstigung nationalsozialistischer Umtriebe veranlaßt worden war, sein Entlassungsgesuch einzureichen (BA, Nachlaß v. Epp ).

96

Dok. Nr. 97.

97

So Schmidt in der Kabinettssitzung vom 30.9.1923, Dok. Nr. 94.

98

Dok. Nr. 99.

Konfliktträchtiger als das Verhältnis zu Bayern war schon im ersten Kabinett Stresemann für den Zusammenhalt der Koalition das Verhältnis zu Sachsen, weil sich dort die gleichen Parteien, die sich im Reich unter Stresemann in der Regierung zusammengefunden hatten, in schärfster Opposition gegenüberstanden. Es hat wohl in der sächsischen DVP nicht ganz an Bestrebungen gefehlt, nach dem Vorgang von Preußen und dem Reich auch dort mit den Sozialdemokraten zusammenzuarbeiten. Auch Stresemann hätte eine solche Entwicklung begrüßt99. Aber die Partei in Sachsen dachte anders. Ihr schien Zeigner in einem „pathologischen Hörigkeitsverhältnis“ zu den Kommunisten zu stehen100. Am allerwenigsten wäre die sächsische Sozialdemokratie zu einer[XL] Großen Koalition bereit gewesen, trotz gelegentlicher anderer Äußerungen des in seinen Meinungen von der jeweiligen Situation stark abhängigen Zeigner. Der unter dem starken Einfluß der ehemaligen USPD-Anhänger stehende Parteitag der sächsischen SPD hatte am 4. März 1923 sogar eine Koalition mit den Demokraten abgelehnt und statt dessen ein Zusammengehen mit den Kommunisten empfohlen. In Berlin hielten die sozialdemokratischen Mitglieder des Kabinetts die Annäherung ihrer sächsischen Genossen an die Kommunisten für alles andere als glücklich. Die dennoch bestehende sozialdemokratische Parteisolidarität in der sächsischen Frage stand trotz Vorbehalten gegenüber der Person und der Politik Zeigners im Konflikt mit Koalitionsrücksichten im Reich. Die sächsische Regierung war zudem parlamentarisch legitimiert, und die von Zeigner gegen die Reichswehr erhobenen Vorwürfe wegen illegaler Ausbildung von Zeitfreiwilligen und Kontakten zu nationalistischen Organisationen hatten einen realen Kern100a. Aber solche Vorwürfe wiederholt und öffentlich gegen das Reich zu schleudern, das von außen und innen her bedroht war, erschien Stresemann nicht weniger als dem zuständigen Reichswehrminister Geßler als Landesverrat101. Es kann auch kein Zweifel daran bestehen, daß die unter kommunistischer Initiative gebildeten proletarischen Hundertschaften – in Preußen wurden sie von Severing verboten – alles andere waren als zuverlässige Hüter der in Weimar geschaffenen republikanischen Ordnung102; kein Zweifel auch, daß die in den Akten der Reichskanzlei gehäuften Beschwerden über Terrorakte in Sachsen103 bei vielleicht manchen Übertreibungen auf reale Mißstände und die Unfähigkeit oder mangelnde Gewilltheit der staatlichen Organe hinwiesen, den bürgerlichen Frieden zu schützen. Wiederholte Anläufe, durch persönliche Aussprachen und Vereinbarungen zwischen Geßler bzw. Stresemann und Zeigner den Konflikt zwischen dem Reich und dem Land Sachsen abzufangen, führten zu keinem Erfolg und endeten immer wieder in gegenseitigen Vorwürfen104. Geßler drängte früh auf eine Aktion. Er forderte am 22. August die Einleitung eines Strafverfahrens gegen Zeigner105. Stresemann hielt dies allerdings, nach einem Gutachten von Radbruch, für politisch untunlich. Er war auch bemüht, den gegen Sachsen gerichteten Affront abzumildern, der sich aus einer Erklärung Geßlers ergab, daß er für sich selbst und die ihm unterstellten Behörden jeden Verkehr mit der Regierung Zeigner ablehne106. Im Reichswehrministerium war bereits im März, wenige Tage nach der Bildung der Regierung Zeigner die Einsetzung eines Reichskommissars für Sachsen erörtert worden107. In der DVP-Fraktion wurden Mitte September Stimmen laut, die ein energisches Vorgehen forderten. „Sachsen und Thüringen exekutieren“, verlangte Stinnes.[XLI] Die kommunistische Gefahr, vor der Abgeordnete aus Sachsen und Thüringen warnten, wurde von Stresemann ernst genommen, aber nicht überschätzt. „Der Kommunismus würde nicht drei Tage regieren“, erklärte er in der Fraktion. Doch war auch er der Meinung, man sollte „lieber das Prävenire spielen“, jedoch „bis zum letzten Augenblick“ die Reichsexekution aufsparen108. Ähnlich wie die bayerische Regierung verwahrte sich auch die sächsische gegen die Verordnung des Reichspräsidenten zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vom 10. August. Sie sah darin einen unbefugten Eingriff des Reiches in die Polizeihoheit des Landes109. Daß der Konflikt zwischen Zeigner und Geßler die Existenz der Koalition in Frage stellte, wurde schon am 11. September in einer Besprechung von Ministern und Abgeordneten von sozialdemokratischer Seite offen ausgesprochen110.

99

Dok. Nr. 26.

100

Dok. Nr. 23.

100a

Vgl. hierzu die Materialsammlung Lieber, Anhang 1.

101

Dok. Nr. 17; 117.

102

Hierzu der im Auftrage des Reichswehrministers verfaßte Bericht des Reichskommissars für Überwachung der öffentlichen Ordnung vom 19.10.1923, Dok. Nr. 152.

103

Als Beispiel Dok. Nr. 75.

104

Dok. Nr. 7; 26; 51.

105

Dok. Nr. 17.

106

Dok. Nr. 17.

107

Ibid., Anm. 6.

108

Nachlaß Stresemann , Bd. 87, Abdruck in Vermächtnis, Bd. 1, S. 117 f. mit Auslassungen.

109

Schreiben des sächsischen Ministerpräsidenten Dr. Zeigner an den Reichsinnenminister Sollmann, 7.9.1923, in: E. R. Huber (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 3, Nr. 266.

110

Dok. Nr. 53.

Drei Wochen später während der ersten Krise der Regierung Stresemann kündeten die sächsischen Kommunisten am 5. Oktober ihre Absicht an, demnächst in die von ihnen bisher unterstützte Regierung Zeigner einzutreten. Bot der inzwischen nach Abbruch des passiven Widerstandes verkündete Reichsausnahmezustand Möglichkeiten, dem zuvorzukommen? Geßler forderte am 6. Oktober in der ersten Sitzung des zweiten Kabinetts Stresemann ein Vorgehen gegen den sächsischen Landtag, von dem er neue schwere Angriffe gegen die Reichswehr erwartete. Er drohte sogar mit seinem Rücktritt und – indem er erklärte, er könne in diesem Falle „für die Haltung der Reichswehr keine Gewähr übernehmen“ – in versteckter Weise mit der Militärdiktatur. Die sozialdemokratischen Minister wiesen das Einschreiten gegen ein Länderparlament scharf zurück und beklagten die Diskrepanz im Verhalten der Reichsregierung gegenüber Bayern und Sachsen111. Geßler aber steigerte seine Forderungen: Die Reichsregierung solle „die sächsische Regierung absetzen und einen Reichskommissar ernennen. Die Reichsexekutive müsse gegen Sachsen angewendet werden“112. Es war das Programm, dessen Durchführung später den Bruch der Großen Koalition herbeiführte. Zugleich kündete Geßler Maßnahmen gegen den renitenten General von Lossow an, der sich geweigert hatte, den an ihn als den Träger der vollziehenden Gewalt in Bayern ergangenen Befehl, das Erscheinen des Völkischen Beobachters zu verbieten, durchzuführen113. Lossow konnte sich in seinem Widerstand auf v. Kahr stützen, der seit seiner Ernennung zum Generalstaatskommissar am 26. September über die Exekutive in Bayern verfügte. Stresemann taktierte nach beiden Seiten hinhaltend in dem Bemühen, der Koalition für die Durchführung ihrer währungs-, außen- und reparationspolitischen Hauptaufgabe noch einen zeitlichen Spielraum zu erhalten. Dies werde von bayerischer Seite anerkannt,[XLII] wußte der Reichsvertreter Haniel aus München zu berichten114. Sogar Hitler sei, trotz VB-Verbots, an einem Ausgleich mit dem Reichswehrministerium gelegen115. Haniel unterstrich seine Mahnungen zum Einvernehmen mit Bayern durch den Hinweis, daß auch der Führer der bayerischen Sozialdemokraten Erhard Auer davor warne, „jetzt etwas hier in Angriff zu nehmen, von dem man nicht die absolute Gewißheit habe, es durchsetzen zu können“116. Aber in Bayern wie in Sachsen verschärften sich die Probleme, zunächst in Dresden. Nach dem am 10. Oktober erfolgten Eintritt der Kommunisten in die sächsische Regierung hatte der Inhaber der vollziehenden Gewalt, Generalleutnant Müller, Maßnahmen ergriffen, die Sollmann am 17. Oktober im Kabinett als „eine Provokation der gesamten Sozialdemokratie“ bezeichnete117.

111

Dok. Nr. 115.

112

Dok. Nr. 117.

113

Aufforderung Seeckts an Lossow 9.10.1923, seinen Abschied zu nehmen, Deuerlein, Hitlerputsch, Dok. Nr. 31; Verwahrung Knillings dagegen, ibid., Dok. Nr. 34.

114

Dok. Nr. 135; 138.

115

Dok. Nr. 143.

116

Dok. Nr. 129.

117

Dok. Nr. 144.

Was war geschehen? Bei der Umbildung der sächsischen Regierung am 10. Oktober hatten die kommunistischen Abgeordneten Paul Böttcher und Fritz Heckert das Finanz- und das Wirtschaftsministerium übernommen. Sie besaßen damit Schlüsselpositionen zur Beeinflussung der sächsischen Landespolitik im Sinne der von der KPD vertretenen wirtschaftlich-gesellschaftlichen Zielvorstellungen. Außerdem war der Vorsitzende der KPD Brandler als Ministerialdirektor in die sächsische Staatskanzlei berufen worden. Seine Tätigkeit hier diente nach seiner eigenen Aussage im wesentlichen der Feststellung von Waffenlagern, die zur Bewaffnung der proletarischen Hundertschaften verwendet werden sollten118. Die neue Regierung hatte sich als „die Regierung der republikanischen und proletarischen Verteidigung“ stilisiert. Alle Anzeichen sprechen jedoch dafür, daß darüber hinaus von dem kommunistischen Koalitionspartner in der „Arbeiterregierung“ revolutionäre Ziele mit revolutionären Methoden verfolgt wurden. Hatte es doch schon in den kurz nach dem französischen Ruhreinfall auf dem 8. Parteitag der KPD verabschiedeten „Leitsätzen zur Taktik der Einheitsfront und der Arbeiterregierung“ geheißen, daß diese „ein Versuch der Arbeiterklasse“ sei, „im Rahmen und vorerst mit den Mitteln der bürgerlichen Demokratie, gestützt auf proletarische Organe und proletarische Massenbewegungen, Arbeiterpolitik zu treiben, während die proletarische Diktatur bewußt den Rahmen der Demokratie sprengt… Der Kampf für die Arbeiterregierung darf die Propaganda der Kommunisten für die Diktatur des Proletariats nicht schwächen, denn die Arbeiterregierung wie jede Position des Proletariats im Rahmen des bürgerlichen demokratischen Staates ist nur ein Stützpunkt, eine Etappe des Proletariats in seinem Kampfe um die politische Alleinherrschaft“119. Am 13. Oktober, einen Tag nach der Regierungserklärung[XLIII] der Arbeiterregierung, hatte Generalleutnant Müller die Auflösung der proletarischen Hundertschaften als einer „gewalttätigen Minderheit“, die die Bevölkerung terrorisiere, angeordnet120. In dem darauf erfolgten Protestschreiben der sächsischen Regierung wurde der Reichsregierung vorgehalten, daß sie den proletarischen Selbstschutz in Sachsen verbiete, während es den rechtsradikalen Verbänden in Bayern nicht verwehrt werde, offen die Republik zu bekämpfen121. In dieser Kritik am Verhalten der Reichsregierung stimmten die sozialdemokratischen Reichsminister mit der sächsischen Regierung überein.

118

Vgl. den von Brandler gegebenen Bericht in: Protokoll des Fünften Kongresses der Kommunistischen Internationale, Bd. 1 (Hamburg 1924, Neudruck 1967), S. 218–236.

119

H. Weber (Hg.), Der deutsche Kommunismus. Dokumente 1915–1945 (1973), Nr. 52; über die damaligen Richtungskämpfe innerhalb der KPD, die Moskauer Hintergründe des geplanten Aufstandes und dessen Nichtzustandekommen ders., Die Wandlung des deutschen Kommunismus, Bd. 1 (1969). S. 43 ff., dort weitere Literatur. – Über Waffenlieferungen an Kommunisten Dok. Nr. 83; offizielle Beurteilung kommunistischer Revolutionsabsichten durch den Reichskommissar für Überwachung der öffentlichen Ordnung Dok. Nr. 152; zu dem kommunistischen Aufstandsversuch in Hamburg am 23. 10. s. Dok. Nr. 168.

120

Die aus dem Bürgertum kommenden Klagen, unter deren Eindruck die Reichsexekutive handelte, werden aus anderem Blickwinkel von der DDR-Forschung bestätigt; vgl. H. Gast, Die proletarischen Hundertschaften 1923, in: ZfG 4 (1956) und R. Wagner, Zur Frage der Massenkämpfe in Sachsen im Frühjahr und Sommer 1923, ibid.

121

Dok. Nr. 147.

Während in Sachsen, wie Stresemann in der Kabinettssitzung vom 19. Oktober ankündigte, zusätzliche Reichswehrtruppen einrücken sollten, begnügte man sich Bayern gegenüber mit der Amtsenthebung des Generals von Lossow und der Betrauung eines Nachfolgers mit der Führung der dortigen Division. Alle bürgerlichen Minister rieten zur Vermeidung des Bruchs. Von dem Wunsch nach einem Ausgleich mit Bayern war dementsprechend das Schreiben geleitet, das Stresemann am 20. Oktober an Knilling richtete122. Auch Brauns schaltete sich als Vermittler ein123. Die Regierung in München jedoch versteifte sich in ihrem Widerstand gegen Berlin. Auf die schriftlich erfolgte Amtsenthebung Lossows reagierte sie als „Treuhänderin des deutschen Volks“124 mit der „Inpflichtnahme“ der bayerischen Truppen. Außerdem setzte sie die Dienstenthebung von Lossows „außer Wirksamkeit“. Dies war, mit den Worten eines Befehls, den von Seeckt an die Reichswehr richtete, „ein gegen die Verfassung gerichteter Eingriff in die militärische Kommandogewalt“125. Sogar Haniel, der Reichsvertreter in München, sprach jetzt von einem „unleugbaren bayerischen Verfassungsbruch“, warnte aber dennoch vor Zwangsmaßnahmen gegen Bayern mit der möglichen Folge, dadurch einem Bündnis zwischen Vaterländischen Verbänden und Nationalsozialisten Vorschub zu leisten, die den Versuch unternehmen könnten, „nach Berlin zu marschieren, um dort Ordnung zu schaffen“. Eine solche Entwicklung zu verhindern, sei aber gerade der Zweck der Verhängung des Ausnahmezustandes durch Knilling gewesen126.

122

Dok. Nr. 154; vgl. hierzu Aufzeichnungen Stresemanns über verschiedene Unterredungen mit dem bayerischen Gesandten v. Preger in Vermächtnis, Bd. 1, S. 168–175.

123

Dok. Nr. 157; 159.

124

Dok. Nr. 170.

125

Schulthess, S. 199.

126

Dok. Nr. 161.

Welche Gegenmaßnahmen des Reiches waren möglich? Hierüber verhandelte das Kabinett am 22. und 23. Oktober127, während die Reichswehr an der sächsischen und thüringischen Grenze gegen Bayern Truppen konzentrierte.[XLIV] Einig war man sich darin, die Dinge beim Namen zu nennen. In einem Aufruf der Reichsregierung wurde das Verhalten Bayerns als „Bruch der Reichsverfassung“ bezeichnet128. Erörtert wurden drei einzelne oder kombinierte Maßnahmen: Appell an den Staatsgerichtshof, Aufhebung des bayerischen Ausnahmezustandes, Sperrung der Bezüge für die bayerischen Truppen. Zu einem definitiven Beschluß kam es jedoch in keinem Falle. Dem Drängen der Sozialdemokraten und dem Zorn Geßlers über die von Bayern gedeckte Insubordination von Lossows standen Bedenken entgegen, die vor allem Brauns zum Ausdruck brachte, der es nicht zum Bruch kommen lassen wollte. Man schob schließlich die fälligen Entscheidungen hinaus, indem man den Konflikt vor das Forum der Länder brachte. Am 24. Oktober gaben vor den in Berlin versammelten Ministerpräsidenten und Gesandten der Länder Stresemann und von Preger ihre Plädoyers, von Preger defensiv und mit der Verlesung von Texten der ausgewechselten Noten operierend, Stresemann in einer vehementen rhetorischen Attacke gegen den bayerischen Anspruch, das national zuverlässige Deutschland gegen eine national unzuverlässige Reichsregierung darzustellen. Er klagte Bayern an, der eben in Gang kommenden politisch-moralischen Weltoffensive gegen das immer noch verhandlungsunwillige Frankreich durch die Diskreditierung der Reichsregierung in den Rücken gefallen zu sein, ein Dolchstoß – so könnte man die Quintessenz der Rede formulieren – von seiten derjenigen, die sich als die Gralshüter nationaler Gesinnung betrachteten, gegen die im schwersten Kampf um die Wahrung nationaler Interessen stehende Reichsregierung. Das Ergebnis war ein voller Erfolg für Stresemann: Die Länder stellten sich einmütig auf den Standpunkt der Reichsregierung und verlangten den Rücktritt von Lossows. Was aber sollte das Reich nach der Meinung der Länder nun tun? Der württembergische Staatspräsident von Hieber, der die Anregung zu dieser Zusammenkunft gegeben hatte, meinte nicht nur im eigenen Namen zu sprechen, wenn er an die Reichsregierung die Bitte richtete, „möglichst bald in direkte Verhandlungen mit Bayern einzutreten“129. Kein Land empfahl, etwa eine Reichsexekution durchzuführen. Wieder also stand das Kabinett vor der Frage, wie es weiter vorgehen wolle130. Eine abermalige Aufforderung an die bayerische Regierung, die verfassungsmäßigen Zustände als Voraussetzung für die Aufnahme von Verhandlungen wiederherzustellen131, konnte nicht genügen. Geßler setzte durch, daß in dem Promemoria an die Bayerische Regierung vom 27. Oktober die Sperrung der Bezüge für die 7. Division angekündigt wurde. Sollmann handelte entsprechend für die Polizei. Landwirtschaftsminister von Kanitz war der einzige im Kabinett, der dafür plädierte, daß die Reichsregierung, gestützt auf die reichstreuen Divisionen, militärischen Druck anwende, um ein Nachgeben der bayerischen Regierung zu erzwingen.

127

Dok. Nr. 163; 167.

128

Schulthess, S. 200.

129

Dok. Nr. 174.

130

Dok. Nr. 184.

131

Dok. Nr. 185.

Eine Möglichkeit, den Nationalisten den Wind aus den Segeln zu nehmen und die Position der Reichsregierung gegenüber Bayern zu festigen, schien sich[XLV] für die bürgerlichen Kabinettsmitglieder aber nun gerade aus der sich zuspitzenden sächsischen Frage zu ergeben. Geßler schlug in der Kabinettssitzung vom 27. Oktober vor, die Regierung Zeigner abzusetzen und bis zur Bildung einer neuen Regierung ohne Kommunisten die Regierungsgewalt einem Staatskommissar zu übertragen132. Die Verfassungsmäßigkeit eines solchen Vorgehens, vom Reichsjustizminister Radbruch verneint, wurde von Ministerialdirektor Meissner aus der Präsidialkanzlei bejaht133. Es erschien den bürgerlichen Kabinettsmitgliedern zudem zweckmäßiger, jetzt sofort aus eigener Initiative mit der von Geßler vorgeschlagenen drastischen Maßnahme gegen Sachsen vorzugehen, als ein nach dieser Richtung hin gestelltes eventuelles bayerisches Ultimatum an die Reichsregierung abzuwarten. Brauns erklärte geradezu, „daß der gefährlichste Feind für den Bestand der Reichsregierung der Kommunismus sei; gegen diesen müsse man sich daher zuerst wenden“. Für die Sozialdemokraten stellte sich durch „ein solches einseitiges Vorgehen“ die Koalitionsfrage. Sie verlangten, zunächst den Versuch zu machen, Zeigner zum freiwilligen Rücktritt zu bewegen in der Überzeugung, daß dieser hierzu bereit sein werde. Erst dann könnten weitere Schritte unternommen werden. Auch sie erhoben also keinen Einwand gegen die Zielsetzung einer Regierungsbildung ohne Kommunisten. Einem Kompromißvorschlag des Reichspräsidenten folgend, wurde gegen die Bedenken einiger bürgerlicher Minister an die Regierung Zeigner statt der Verfügung ihrer sofortigen Absetzung die ultimative Aufforderung zu kurzfristigem Rücktritt gerichtet, während allerdings gleichzeitig die Vorbereitungen für eine Reichsexekution weitergehen sollten. An der Formulierung des Schreibens134 an Zeigner beteiligten sich auch Radbruch und Sollmann. In der Begründung der Rücktrittsforderung hieß es, daß „die Teilnahme kommunistischer Mitglieder an dieser Landesregierung … mit verfassungsmäßigen Zuständen unvereinbar“ sei. Die Ablehnung der Demissionsforderung durch Zeigner135 löste sofort, wie es der im Kabinett festgelegten taktischen Linie gemäß dem Vorschlag Eberts entsprach, die am 29. Oktober durchgeführte Reichsexekution aus: die Ermächtigung des Reichskanzlers durch den Reichspräsidenten, die sächsische Landesregierung „ihrer Stellung zu entheben und andere Personen mit der Führung der Geschäfte zu betrauen“, die Bestellung des ehemaligen der DVP angehörenden sächsischen und Reichsjustizministers Heinze zum Reichskommissar und die Absetzung der sächsischen Regierung durch diesen. Ein als Protest hiergegen ausgerufener Generalstreik schlug fehl. Die sozialdemokratisch-kommunistische Koalition löste sich auf, und Zeigner erklärte am 30. Oktober gegenüber dem Landtag seinen Rücktritt. Nachdem am 31. Oktober mit Unterstützung durch die Demokraten der sozialdemokratische Abgeordnete Fellisch zum Ministerpräsidenten gewählt worden war, verordnete der Reichspräsident am 1. November die Beendigung der Reichsexekution und damit der Tätigkeit des Reichskommissars.

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Dok. Nr. 186.

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Dok. Nr. 187.

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Dok. Nr. 188.

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Dok. Nr. 191.

[XLVI] Die Gründe, die infolge dieser Geschehnisse am 2. November zur Auflösung der Großen Koalition im Reich führten, liegen einmal bei den Sozialdemokraten, zum anderen bei den bürgerlichen Parteien136. Die sozialdemokratischen Minister distanzierten sich alsbald nach der Absetzung der Regierung Zeigner nachträglich von der im Kabinett gemeinsam mit den bürgerlichen Ministern am 27. Oktober vereinbarten Taktik. Sie wollten zwar dem ultimativen Brief an Zeigner, nicht aber der Konsequenz hieraus, der Reichsexekution, zugestimmt haben. Von vornherein fürchteten sie, von ihrer Fraktion desavouiert zu werden und sich in Gegensatz zu der Mehrzahl der Arbeiterschaft zu setzen137. Die Einwände der Parteiführung waren – abgesehen von dem Protest gegen den provokatorischen Stil des mit klingendem Spiel durchgeführten Vollzugs der Absetzung – nicht von irgendeiner Sympathie für das Verbleiben der kommunistischen Mitglieder in der sächsischen Regierung bestimmt. Müller erklärte in der Parteiführerbesprechung mit Stresemann am 29. Oktober geradezu, daß ihm deren Verhaftung lieber gewesen wäre als die Reichsexekution gegen Zeigner138. Er glaubte, daß Zeigner sich der kommunistischen Minister ohnedies habe entledigen und selber zurücktreten wollen139. Daß mit der Durchführung der Reichsexekution ein Parteifreund Stresemanns beauftragt worden war, nachdem Geßler ursprünglich die Notwendigkeit betont hatte, eine politisch nicht gebundene Persönlichkeit zu berufen, hielten die Sozialdemokraten für einen schweren politischen Mißgriff und die Absetzung Zeigners durch den Reichskommissar für einen Mißbrauch der Bevollmächtigung durch den Reichspräsidenten, die nur dem Reichskanzler erteilt worden sei140. Dennoch – so Müller in jener Parteiführerbesprechung – könne das Geschehene für die SPD-Fraktion vielleicht noch tragbar sein unter der Voraussetzung, daß das Reich in Bayern, nachdem dort die Aufforderung der Reichsregierung vom 27. Oktober nach Wiederherstellung verfassungsmäßiger Zustände ebensowenig Erfolg gehabt hatte141 wie die Rücktrittsaufforderung an Zeigner vom gleichen Tage, mit der gleichen Schärfe wie gegen die sächsische Regierung vorgehen werde. Diese Bedingung für den Fortbestand des Kabinetts machte sich die SPD-Fraktion am 31. Oktober zu eigen. Ob sie, um die Durchführung einer Reichsexekution in Bayern zu erzwingen, gegebenenfalls auch einen Bürgerkrieg in Kauf zu nehmen gewillt war, bleibt offen. Als weitere Bedingung für die Fortführung der Koalition forderte sie, nachdem nun in Sachsen wieder eine ordnungsgemäße parlamentarische Regierung gebildet war, die Aufhebung des militärischen Ausnahmezustands. Da dies von den bürgerlichen Ministern abgelehnt wurde, kam es in einer heftigen Kabinettsauseinandersetzung zum Bruch. Sollmann ging am 2. November „zum Angriff“ über142. Er geißelte die „mittelalterlichen Judenaustreibungen in Bayern“ – Judenhetze[XLVII] und Ausweisungen, auf die schon der Fraktionschef der DVP Scholz in der Parteiführerbesprechung vom 29. Oktober hingewiesen hatte –143, äußerte Zweifel an der wirklichen Bereitschaft aller Kabinettsmitglieder, den Weg der Verhandlungen mit Frankreich zu Ende zu gehen, um das Rheinland zu retten, und stellte erneut die Zuverlässigkeit der Reichswehr in Frage. Es kam zu scharfen Repliken von Geßler, der den Sozialdemokraten vorwarf, durch ihre Haltung werde der Kampf gegen die „faschistische Bewegung“ erschwert, und namentlich von Brauns, der empört wegen einer Verdächtigung seiner nationalen Zuverlässigkeit den Kabinettssaal verließ144.

136

Dok. Nr. 191196204; 206; 209; 212; 215.

137

Dok. Nr. 186; 192.

138

Dok. Nr. 193.

139

Ibid., Anm. 6.

140

Dok. Nr. 209.

141

Dok. Nr. 201; 207.

142

Dok. Nr. 215, Anm. 9.

143

Dok. Nr. 193; 211.

144

Dok. Nr. 215.

Auf seiten der bürgerlichen Koalitionsmitglieder im Kabinett wurde das Ausscheiden der Sozialdemokraten in der gegebenen Situation teils mit Bedauern, vorwiegend aber mit Erleichterung aufgenommen. Brauns, Geßler und Luther sahen hierin geradezu die Voraussetzung dafür, daß es im Verhältnis zu Bayern nicht zum Äußersten zu kommen brauchte und daß die bayerische Regierung vielleicht sogar zu Konzessionen bereit sein könnte.

Stresemann war in der Krise nach Kräften bemüht gewesen, das Auseinanderbrechen der Großen Koalition, die er als sein eigenes Werk betrachtete, zu verhindern. Deshalb hat er den Reichskommissar Heinze am kurzen Zügel gehalten, die von Heinze beabsichtigte Suspendierung des Parlaments und Ernennung einer Regierung unterbunden und dafür gesorgt, daß dem sächsischen Landtag freie Hand gelassen wurde, auf parlamentarischem Wege unter vermittelnder Einschaltung führender demokratischer und sozialdemokratischer Politiker eine neue Regierung zu bilden145. Diese wandte sich sogleich wegen der Reichsexekution mit einer Klage gegen Reichspräsident und Reichskanzler an den Staatsgerichtshof146. Der mit Beendigung der Reichsexekution am 1. November so schnell seiner Funktionen wieder enthobene Reichskommissar Heinze richtete in der Fraktion der DVP am 6. November mit Zustimmung des rechten Flügels die heftigsten Vorwürfe gegen Stresemann, der ihm in den Arm gefallen sei147. Die gleichen Anschuldigungen wurden im Reichswehrministerium laut geäußert148. Stresemann, der versucht hatte, einen koalitionsgemäßen Mittelkurs zu steuern, die Kommunisten aus der Regierung zu entfernen aber gegen den Willen der politischen Rechten und des Militärs dem Landtag seine parlamentarischen Rechte zu lassen, war tief enttäuscht, daß die SPD, obwohl „die Dinge in Sachsen in Ordnung kamen“, am 2. November ein Ultimatum stellte, das er mit allen bürgerlichen Kabinettskollegen für unannehmbar hielt, weil das Reich nicht die Macht besaß, „einen Bruch Bayerns mit Gewalt zu verhindern“149.

145

Dok. Nr. 206.

146

Dok. Nr. 226; Gegenschrift der Reichsregierung, Dok. Nr. 282.

147

Nachlaß Stresemann , Bd. 87.

148

Dok. Nr. 251, Anm. 2.

149

Dok. Nr. 215.

In Thüringen entwickelten sich die inneren politischen Verhältnisse und das Verhältnis zum Reich ähnlich wie in Sachsen. Auch hier gab es im Landtag[XLVIII] eine Mehrheit der beiden sozialistischen Parteien SPD und KPD. Auch hier waren die Kommunisten, und zwar seit dem 16. Oktober, an der Regierung unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Fröhlich beteiligt. Auch hier gab es proletarische Hundertschaften und Kontrollausschüsse. Die thüringische Regierung engagierte sich allerdings nicht im gleichen Maße wie die sächsische in reichspolitischen Fragen. Thüringen spielte daher für den Prozeß der Koalitionspolitik im Reich nicht annähernd die gleiche Rolle wie Sachsen. Nachdem die thüringische Regierung am 30. Oktober ihre Solidarität mit der Regierung Zeigner nach der Reichsexekution bekundet hatte150, wurden auf Druck des Reiches auch hier die Kommunisten aus der Regierung hinausgedrängt. Dies geschah nach dem Ausscheiden der Sozialdemokraten aus der Reichsregierung.

150

Dok. Nr. 204.

Extras (Fußzeile):