2.2 (feh1p): Nr. 2 Aufzeichnungen über Verhandlungen mit der Deutschen Volkspartei über die Kabinettsbildung. 21.–24. Juni 1920

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[6] Nr. 2
Aufzeichnungen über Verhandlungen mit der Deutschen Volkspartei über die Kabinettsbildung1. 21.–24. Juni 1920

1

Diese ungezeichneten Aufzeichnungen wurden Mitte Juni 1921 von StS Albert dem Bürodirektor der Rkei, Ostertag, übergeben, nachdem Albert am 24.5.1921 aus dem Amt als StSRkei ausgeschieden war. Ostertag legte die Aufzeichnungen dann zu den Akten (handschriftl. Aktennotiz Ostertags v. 17.6.1921, R 43 I /1304 , Bl. 77). Zum Verfasser der Protokolle vgl. u. Anm. 13.

R 43 I /1304 , Bl. 80–88

1. Unterredung mit Herrn Abgeordneten Heinze über die Kabinettsbildung2 am Montag, den 21. Juni 1920.

2

Fehrenbach hatte am 17.6.1920 vom RPräs. den Auftrag angenommen, die Regierung zu bilden. In den folgenden Tagen hatten die DVP und die DDP sich bereit erklärt, zusammen mit dem Zentrum eine Regierungskoalition zu bilden. Zu den bisherigen Verhandlungen über die Kabinettsbildung vgl. Schultheß 1920, I, S. 155 f.

Die Besprechung fand statt auf Grund der zwischen den drei Parteien (Demokratischen, Deutschen Volkspartei und Zentrum) vereinbarten programmatischen Erklärung3. Herr Heinze erklärte sich bereit, in das Kabinett einzutreten als Kandidat seiner Partei. Er schlug vor, ein zweites Mitglied der Deutschen Volkspartei in das Kabinett aufzunehmen, legte hierauf jedoch kein entscheidendes Gewicht. Es wurde dies aber mit Rücksicht darauf in Aussicht genommen, daß der Herr Reichskanzler selbst wegen des Zusammenarbeitens auf ein zweites Mitglied der Deutschen Volkspartei im Ministerium Wert legte.

3

Diese Erklärung war am 21.6.1920 zwischen den Führern des Zentrums, der DDP und der DVP vereinbart worden. In der Erklärung hieß es, daß die dringendste Sorge der Wiederaufbau Deutschlands sei; ihn auf dem Boden der bestehenden republikanischen Staatsform zu fördern, sei der einheitliche Wille der Regierung. Verfassungsrechtliche Kämpfe sollten demgegenüber zurücktreten. Die Regierung werde alle Versuche einer gewaltsamen Umwälzung, woher sie auch kämen, bekämpfen. Weiter wurde zur Besetzung der Ämter Stellung genommen. Für sie sollte nur die persönliche Tüchtigkeit, nicht die Parteizugehörigkeit ausschlaggebend sein. Alle Beamten und die Angehörigen der Reichswehr wurden aufgefordert, die Regierung zu unterstützen. Zum Wortlaut der Erklärung vgl. Schultheß 1920, I, S. 159.

In Aussicht genommen wurde Becker (Hessen)4. Herr Heinze bestand darauf, daß Becker für das Finanzministerium in Frage käme; es wurden ihm die Gründe dargelegt, warum das nicht möglich sei5. Er übernahm es, die Gründe Herrn Becker darzulegen und ihn zu bitten, das Reichsschatzministerium oder das Reichsministerium für Wiederaufbau zu übernehmen. Hierüber sollte dann mit Herrn Becker unmittelbar verhandelt werden.

4

Abgeordneter der DVP für den Wahlkreis Hessen-Darmstadt, hess. Finanzminister a. D.

5

Darüber war in R 43 I nichts zu ermitteln.

2. Verhandlung mit Herrn Abgeordneten Becker am Dienstag, den 22. Juni 1920.

Herr Becker bat, von seiner Person abzusehen; neben sachlichen Erwägungen sei das persönliche Moment ausschlaggebend, daß er die erst vor kurzem[7] (8 Tagen) in Duisburg gerade aufgenommene Tätigkeit jetzt nicht wieder aufgeben könne6.

6

Becker war Mitglied des Vorstandes der Rheinischen Stahlwerke in Duisburg geworden.

RIM Koch gibt in seinen „Aufzeichnungen“ eine Äußerung Heinzes vom 22.6.1920 wieder: „Heinze hatte sich schon heute mittag darüber beschwert, daß sie zu wenig Minister angeboten erhalten hätten. Dabei könnten sie jedes Ministerium außer vieren (Finanzen, Post, Inneres, Heer) besetzen, wären aber in der Beschaffung von Fachministern hilflos, und Leute wie Becker weigerten sich, weil sie ihre großen Gehälter nicht aufgeben wollten.“ (BA Nachlaß Koch-Weser  27, Bl. 147).

Sachlich bestand auch Herr Becker zunächst darauf, daß die Deutsche Volkspartei das Finanzministerium erhalte oder daß dieses zum mindesten durch einen eigentlichen Finanzmann besetzt werde. Es wurde Herrn Becker dargelegt, warum ein aus der Deutschen Volkspartei stammender Fachmann für das Reichsfinanzministerium nicht in Frage komme und warum auf Herrn Dr. Wirth nicht verzichtet werden könne (psychologische Wirkung einer Kandidatur von Herrn Becker: Unmöglichkeit der Änderung der Gesetzgebung, Sabotage der Steuerzahlung, gründliche Einarbeitung Wirths in die Vorarbeiten für Spa, Unmöglichkeit, dies nachzuholen für einen Neueintretenden, Zusammenarbeiten der Minister im Kabinett und im allgemeinen, Möglichkeit zu Anregungen auf dem Finanzgebiete auch vom Schatz- und Wiederaufbauministerium aus usw.)7. Herr Becker verschloß sich diesen Gründen nicht, nachdem er zunächst Wiederaufbauministerium und Reichsschatzministerium als Ministerien zweiten Ranges als für seine Partei nicht genügend bezeichnet hatte. Es wurden schließlich für diese beiden Ministerien genannt als Kandidaten der Deutschen Volkspartei Herr Scholz8 und Herr Glässing9, ersterer als eigentliches Parteimitglied; es wurde vereinbart, daß in jedem Falle ein Posten (entweder Schatz- oder Wiederaufbauministerium) durch ein eigentliches Mitglied der Partei besetzt werden solle. Von diesem Posten aus sei dann ein Zusammenarbeiten mit dem Reichsfinanzminister Wirth ins Auge zu fassen. Über das Wirtschaftsministerium wurde nur in dem Sinne gesprochen, daß man hoffe, Wiedfeldt zu gewinnen10.

7

Auf einer Fraktionssitzung des Zentrums am folgenden Tage, am 23. 6., teilte Wirth dann mit, „daß er an Fehrenbach geschrieben habe, er gebe das Finanzministerium ab, denn er stehe einer Regierung mit der DVP innerlich fremd gegenüber, er müsse aber Protest gegen ein Veto seitens der DVP erheben, nachdem er und Giesberts ihre Zusage dem Reichskanzler gemacht hätten, und zwar ohne Widersprüche seitens der DVP in der damaligen Verhandlung. Die DVP hätte zum wenigsten ihre Fachminister, die sie für notwendig erachte, bereit haben müssen. Becker (Hessen) habe abgelehnt. Er werde sich überlegen, ob er mit dieser noch einmal im Kabinett sitzen werde. Die Großindustrie spekuliere auf einen vorläufigen Verfall des Reiches, um sich an den Steuern vorbeizudrücken und um dann wieder von rechts aufzubauen.“ (BA Nachlaß ten Hompel , Nr. 2).

Wirth verblieb dann jedoch als RFM im Kabinett.

8

Damals Oberbürgermeister von Charlottenburg.

9

Oberbürgermeister von Wiesbaden.

10

O. Wiedfeldt, Mitglied des Direktoriums der Friedrich-Krupp-AG. Offenbar ist man an Wiedfeldt in dieser Angelegenheit herangetreten, denn dieser sandte am 22.6.1920 abends ein Telegramm an die Rkei, in dem er seine endgültige Ablehnung mitteilte. In dem Telegramm hieß es: „Muß nach gründlicher Überlegung bei endgültiger Ablehnung bleiben. Gerade im Wirtschaftsministerium kann nach persönlicher wie nach sachlicher Seite nur ein Parlamentarier einige Aussicht auf Erfolg haben.“ (R 43 I /1304 , Bl. 101).

[8] 3. Verhandlungen mit den Herren Heinze, Stresemann, Becker am Dienstag, den 22. Juni, [20.30 Uhr].

Die Deutsche Volkspartei beanspruchte andere Besetzung des Reichsverkehrs- und Reichspostministeriums, und zwar durch Fachmänner, die die Partei eventuell vorschlagen würde11. Dies wurde jedoch weniger als eine Forderung als vielmehr als wünschenswert bezeichnet. Gefordert wurde lediglich, daß dem als Reichswirtschaftsminister zu präsentierenden Kandidaten der Deutschen Volkspartei die Möglichkeit vorbehalten würde, entscheidend bei der Besetzung des Reichsfinanzministeriums mitzureden; auf sein Verlangen müsse das Reichsfinanzministerium mit einem Fachmann mit anerkannter Autorität besetzt werden.

11

Am 22.6.1920 hatte die DVP-Fraktion eine weitere Sitzung über die Kabinettsverhandlungen abgehalten. Im Anschluß an diese Sitzung wurde eine Erklärung der Fraktion abgegeben, in der es hieß: „Die Fraktion ist sich darüber klar geworden, daß die vom Reichskanzler vorgeschlagene Ministerliste nicht annehmbar ist. Die Fraktion hält nach wie vor daran fest, daß die Wirtschaft ein einheitliches Arbeitsgebiet ist und daß deshalb die Frage des Verkehrs, der Post, der Wirtschaft und der Finanzen im Zusammenhang gelöst werden muß und daß zu diesem Zweck hervorragende Persönlichkeiten unbeschadet ihrer Parteistellung zu dieser Aufgabe gewonnen werden müßten. Die Fraktion wird diesem Grundsatz entsprechend dem Reichskanzler ihre Vorschlagsliste überreichen. Sie ist der Überzeugung, daß, wenn eine Verständigung über diese Punkte erzielt wird, der Kabinettsbildung keine Schwierigkeiten mehr im Wege stehen.“ (Schultheß 1920, I, S. 159/160). Nach Rud. Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917–1923, Düsseldorf 1966, S. 333, konnte Fehrenbach diese Forderungen der DVP nur abwehren, indem er ultimativ mit seinem Rücktritt drohte.

Es wurde die Frage gestellt, ob das eine Forderung der Partei sei oder ein Vorbehalt für die Person des Kandidaten des Reichswirtschaftsministeriums. Wenn z. B. Wiedfeldt mit Herrn Wirth einverstanden sei, ob dann die Partei trotzdem auf anderweitiger Besetzung des Reichsfinanzministeriums bestünde. Der Beantwortung wurde als einer theoretischen ausgewichen. Es wurde jedoch vom Abgeordneten Becker immerhin angedeutet, daß die Partei nicht darauf bestehen würde, wenn der Ministerkandidat seinerseits mit Herrn Wirth einverstanden wäre. Der Fall wurde jedoch nicht endgültig von den Herren beantwortet, weil er praktisch nicht vorkommen werde. Dies wurde vom Staatssekretär Albert energisch bestritten. Es könne wohl ein Reichswirtschaftsminister gefunden werden, der politische Einsicht genug hätte, die vom Herrn Reichskanzler als sachlich, politisch und persönlich ungerechtfertigt bezeichnete Forderung anderer Besetzung des Reichsfinanzministeriums fallen zu lassen.

4. Unterredung mit Herrn Heinze am Mittwoch, den 23. Juni 1920, [9.45 Uhr].

Herr Heinze wurde gebeten, möglichst umgehend Kandidaten der Deutschen Volkspartei für das Reichswirtschaftsministerium und das Reichsschatzministerium und evtl. Wiederaufbauministerium zu präsentieren.

Die durch die Erklärung der Sozialdemokratischen und der Demokratischen Partei entstandene Situation wurde nicht näher erörtert, da Staatssekretär Albert der Hoffnung Ausdruck gab, daß sich hier eine annehmbare Lösung finden lasse12.

12

Ebenfalls am 22.6.1920 hatte die SPD-Fraktion beschlossen, bei dem der Abgabe der Regierungserklärung folgenden Vertrauensvotum sich der Stimme zu enthalten. Begründet wurde dies damit, daß es sich nicht mit der Auffassung der SPD vereinbaren lasse, eine Regierung zu unterstützen, der auch die DVP angehöre. Der Regierung sollten jedoch daraus für die Verhandlungen in Spa keine Schwierigkeiten erwachsen.

Daraufhin erklärte die Fraktion der DDP, daß auf dieser Grundlage eine Regierung, die in Spa verhandeln solle, nicht gebildet werden könne.

Die Krise wurde am 24.6.1920 dadurch gelöst, daß die Koalition auf ein Vertrauensvotum für die Regierung verzichtete und sich mit der Zustimmung zum Regierungsprogramm begnügte (Schultheß, 1920, I, S. 160).

[9] Abgeordneter Heinze warf die Frage auf, ob die Nichtbeteiligung der Deutschen Volkspartei an der Kabinettsbildung die Situation erleichtere. Die Frage wurde von mir13 als nicht diskutabel bezeichnet, da zur Zeit weder Zentrum noch Demokratische Partei eine solche Lösung als akzeptabel ansähen. Es wurde daher gebeten, diese Frage nicht in die Diskussion zu werfen. Einverständnis bestand darüber, daß, wenn die Deutsche Volkspartei in die Regierung eintrete, sie das nicht etwa vorübergehend oder aushilfsweise, sondern nur mit dem Willen entschlossener Mitarbeit an der Regierung tun könne und müsse.

13

Der einzige Hinweis auf den Verfasser der Aufzeichnungen. Ihre Art und ihr Stil lassen den Schluß zu, daß alle Aufzeichnungen von einem einzigen Verfasser geschrieben wurden. Unter dieser Voraussetzung geht aus ihnen hervor, daß nicht RK Fehrenbach und nicht StS Albert die Verfasser sein können. Auch unter den Beamten der Rkei kann sich der Verfasser nicht befinden, da sie eine so weitgehende politische Entscheidungsbefugnis wie in diesem Falle nicht besaßen.

Der „Vorwärts“ berichtete am 18.6.1920 über die Regierungsbildung: „Abgeordneter Trimborn und Präsident Fehrenbach begaben sich am Donnerstag [17. 6.], nachmittags 6 Uhr, zum Reichspräsidenten Ebert, mit dem sie eine längere Unterredung hatten mit dem Ergebnis, daß Fehrenbach in Fortsetzung der Trimbornschen Mission die Verhandlungen weiterführen wird, wobei ihm der Abgeordnete Trimborn unterstützend zur Seite steht.“ (Vorwärts Nr. 306 v. 18.6.1920). Es ist daher möglich, daß der Abgeordnete Trimborn der Verfasser der Aufzeichnungen ist. Von ihm kamen sie dann über StS Albert in die Akten der Rkei.

5. Unterredung mit den Herren Heinze, Stresemann und Geheimrat Quaatz am Mittwoch, den 23. Juni, [16.30 Uhr].

Die Vertreter der Deutschen Volkspartei legten nochmals dar, daß ihre Partei Wert darauf legen müsse, die 3 Ministerien Wirtschaft, Finanz und Verkehr einschließlich Post als wirtschaftliche Einheit zu betrachten und die Besetzung nur im Einverständnis sämtlicher Kandidaten vorzunehmen. Von diesem Gesichtspunkte aus erhebe auch die Partei gegen Herrn Wirth Einspruch, ohne deshalb die Besetzung aller 3 Posten mit Vertretern der Deutschen Volkspartei zu verlangen.

Dieser Punkt wurde eingehend erörtert. Es wurde insbesondere dargelegt, daß dem vorgetragenen Standpunkt vielleicht theoretisch zugestimmt werden könne, daß in diesem Sinne die Frage auch in der alten Koalition wiederholt erörtert worden sei, daß jedoch eine Reihe von politischen und sachlichen Schwierigkeiten entgegenstehen.

Im Laufe der Debatte wurde dann Einverständnis erzielt, daß auf den Finanzminister Wirth nicht verzichtet werden könne.

Gegen die Kandidatur Kraemer für die Wirtschaft wurde eingewendet, daß Kraemer Jude sei und daß man gerade beim Reichswirtschaftsministerium[10] dies nicht vertragen könne (öffentliche Meinung gegen jüdisches Schiebertum etc.)14.

14

H. Kraemer, Mitglied des Präsidiums des RdI und des vorläufigen RWiR, kam aus der Papier- und Druckindustrie.

In einer ungezeichneten und undatierten Aufzeichnung über ihn in den Akten der Rkei hieß es u. a.: „Kraemer, Jude, Junggeselle, aus Mannheim gebürtig, Journalist, mit Harden einst intim gewesen, dann bei Richard Bong und Co. große Wälzer gemacht, zum Beispiel ‚Weltall und Menschheit‘, damit viel Geld verdient, dann Rotophot eingetreten, später dort Direktor geworden. Dieser Gesellschaft Tiefdrucksyndikat angegliedert, auf solcher Basis schon vor dem Kriege ein wohlhabender Mann. […] Hat gute Auslandsbeziehungen und ist ein guter Sprecher. Ob Schwerindustrie ihn als maßgebend gelten läßt, kann nicht ohne weiteres entschieden werden.“ (R 43 I /1304 , Bl. 76).

Beim Verkehrsministerium wurden schwere Bedenken gegen Groener geltend gemacht und Vögler15 vorgeschlagen, falls er bereit sei, die Stellung anzunehmen.

15

A. Vögler, 1915–1926 Generaldirektor der Dt.-Luxemb. Bergwerks- und Hütten AG, Abgeordneter der DVP für den Wahlkreis Westfalen-Süd.

Die Herren wurden darauf hingewiesen, daß man nicht Persönlichkeiten vorschlagen dürfe, die provozierend wirken. Von diesem Gesichtspunkte aus müsse man unter Umständen darauf verzichten, dem geeignetsten Kandidaten das Amt selbst zu übertragen, sondern müsse darauf sehen, daß seine Erfahrung auf anderem Posten durch die Zusammenarbeit im Kabinett zur Auswirkung käme. Auf dieses Zusammenwirken wurde ganz besonders gegenüber dem Grundgedanken bezüglich der drei Ministerien hingewiesen, ein Zusammenwirken, das durch Zusammentreten der beteiligten Minister im kleineren Gremium verstärkt werden könne. Dies Verfahren sei auch schon in der alten Koalition verfolgt worden.

Es wurde ferner darauf hingewiesen, daß auch die Deutsche Volkspartei die fachmännische Besetzung durch ihre Forderung nach Vertretung durch Parteigenossen erschwere und daß andererseits gerade die geeignetsten Kandidaten aus ihren Reihen aus persönlichen Gründen die Annahme der Portefeuilles ablehnten, daß mithin trotz der programmatischen Angriffe der Deutschen Volkspartei gegen die alte Koalition gerade aus vorstehenden Gesichtspunkten heraus die Partei jetzt der Kabinettsbildung dieselben Schwierigkeiten bereite, die ihr auch früher bei der rein sachlichen Auswahl der Kandidaten nach der geeignetsten Persönlichkeit entgegengestanden hätten.

Ergebnis: Es wird in Aussicht genommen für Wirtschaft Glässing, Schatz Raumer oder Scholz, Verkehr Vögler, falls letzterer ablehnt, Groener.

Der Herr Reichskanzler behielt sich jedoch seine Stellungnahme sowohl zur Persönlichkeit Raumer als auch die, ob Glässing dem Wirtschaftsministerium gewachsen sei, vor. Als notwendig wurde nur bezeichnet, daß ein zweites Mitglied der Deutschen Volkspartei in das Kabinett eintrete.

6. Unterredung mit den Herren Heinze, Stresemann und Quaatz am Donnerstag, den 24. Juni 1920, vormittags 10 Uhr.

Vögler lehnt Eintritt in das Ministerium ab, weil die Industrie allmählich zu arm an führenden Köpfen werde und den Mann nicht entbehren könne. Es bleibt also bei Groener.

[11] Raumer ist für Reichsschatzministerium nicht akzeptabel, weil er der Führer des Kampfes gegen das Elektrizitätsgesetz war, dessen Durchführung einen wesentlichen Teil der Aufgaben des Reichsschatzministeriums bildet16. Gegen Übernahme des Reichswirtschaftsministeriums durch ihn vom Reichskanzler keine Einwendung erhoben.

16

v. Raumer war seit 1918 Vorstandsmitglied des Zentralverbandes der dt. elektrotechnischen Industrie. Von dieser Stelle aus hatte er das Elektrizitätsgesetz scharf bekämpft (Gesetz, betreffend die Sozialisierung der Elektrizitätswirtschaft, RGBl. 1920, S. 19  f.). In der gleichen ungezeichneten und undatierten Aufzeichnung in den Akten der Rkei (s. o. Anm. 14) hieß es über ihn: „War Landrat, jetzt Syndikus der Elektrotechnik. Immer sehr interessiert für Arbeitsgemeinschaft und dort große Rolle gespielt. Soll sehr intelligent sein, dafür aber etwas verwachsen.“ (R 43 I /1304 , Bl. 76).

Die Herren der Deutschen Volkspartei übernehmen es, Kandidaten für Wirtschaft und Schatz vorzuschlagen. Glässing ist nicht stark genug für Wirtschaftsministerium. Sollte er auch für Schatz nicht in Frage kommen, so müßte die persönliche Entlastung des Reichskanzlers von seinem Angebot durch die Deutsche Volkspartei erfolgen. Entscheidend ist, daß noch ein Mitglied der Deutschen Volkspartei in das Kabinett eintritt.

N.B. Also ist die letzte und Hauptschwierigkeit der Kabinettsbildung die Forderung der Deutschen Volkspartei, daß noch ein Mitglied ihrer Partei eintritt, obwohl sie einen geeigneten Kandidaten möglicherweise gar nicht haben (Cf. auch Kempkes17 für WAB [RMin. Wiederaufbau]. Quaatz argumentiert mit der Schärfe des lokalen Parteimannes).

17

Abgeordneter für den Wahlkreis Düsseldorf-Ost.

7. Besprechung mit den Herren Heinze, Stresemann und von Raumer am Donnerstag, den 24. Juni 1920, [13 Uhr].

Herr von Raumer legt in längeren Ausführungen dar, daß er durchaus nicht beabsichtige, das nun einmal vom Reichstag genehmigte Sozialisierungsgesetz bezüglich der Elektrizitätswirtschaft abzuändern oder seine Ausführung zu hindern. Der Kampf gegen das Gesetz sei mit dessen Annahme erledigt; jetzt handle es sich um die Durchführung. Diese sei technisch und wirtschaftlich wesentlich anders zu gestalten, als dies heute geschehe. Die gegenwärtige Handhabung, bei der ohne Kontrolle des Reichstags die ganzen Geschäfte erledigt werden und bei der nicht einmal die geringen Garantien des Handelsgesetzbuches (Einberufung des Aufsichtsrats und dergl.) innegehalten würden, lege die ganze Entwicklung der Industrie brach. Hier müsse Wandel geschaffen werden. Allerdings mit dem Staatssekretär Goldkuhle zusammen könne das nicht geschehen; der müsse weichen18. Es werden seitens des Reichskanzlers die Schwierigkeiten dargelegt, die die Aufrollung dieser Frage bedeute. Staatsrechtlich sei es zwar außer Zweifel, daß ein neu ernannter Minister das Recht habe, sich einen anderen Staatssekretär zu suchen, wenn er mit letzterem nicht zusammenarbeiten könne. Aber es sei unmöglich, daß der Reichskanzler aus eigener Sachkunde heraus die sachlichen Einwendungen gegen die jetzige Handhabung[12] des Elektrizitätsgesetzes beurteile und die Notwendigkeit eines Programmwechsels bejahe. Ein solcher Wechsel würde von der Sozialdemokratie mit Mißtrauen betrachtet werden und das Vertrauensvotum für das Kabinett gefährden. Der Reichskanzler behält sich vor, diese Frage mit den Parteien zu besprechen. Von allen Seiten werden ferner die schwersten Bedenken erhoben, sowohl seitens der Sozialdemokraten und des Reichspräsidenten als auch aus fachlichen Kreisen. Es wird der Befürchtung Ausdruck gegeben, daß von Raumer die Übernahme des Amtes benutze, um sich gewissermaßen als Konkurrent des Staates mit dessen Geheimnissen (Selbstkosten, Spitzenwerke und dergl.) bekannt zu machen und diese Kenntnisse nach seinem Wiederaustritt und unzweifelhaften Rücktritt in die Industrie als Konkurrent zu verwerten.

18

StS Goldkuhle war der Leiter der Industrieabteilung im RSchMin. Goldkuhle bat am 25.6.1920 den RK um einen dreimonatigen Urlaub (R 43 I /971 , Bl. 38) und wurde im September 1920 in den einstweiligen Ruhestand versetzt (Kabinettsbeschluß vom 9.9.1920).

N.B. Die Darlegungen des Herrn von Raumer machen durch die ungewöhnlich scharfe Spitze gegen Goldkuhle einen nicht sehr günstigen Eindruck.

8. Besprechung mit den Herren Stresemann, Heinze, Quaatz, später Vögler am Donnerstag, den 24. Juni, [17 Uhr].

Die Verhandlungen mit den Sozialdemokraten haben ergeben, daß dort schwere Bedenken gegen von Raumer bestehen und daß daher das Vertrauensvotum gefährdet ist19. Es wird dies den Herren mitgeteilt. Die Vertreter der Deutschen Volkspartei legen jedoch dar, daß es unmöglich sei, in ihrer Partei die Frage der Kandidatur von Raumers auch nur noch einmal anzuschneiden, da man sonst riskiere, daß die Partei, die schon unzufrieden sei mit der Ablehnung aller ihrer Forderungen (Besetzung der drei Wirtschaftsministerien durch stärkere Berücksichtigung ihrer Partei), nunmehr die ganze Koalition ablehne. Es geht aus den Darlegungen der Herren hervor, daß sie zwar selbst sich den im Auftrage des Reichskanzlers dargelegten Gründen nicht verschließen, jedoch ihre Partei nicht genügend in der Hand haben, um eine ruhige Würdigung durchzusetzen. Es wird vereinbart, daß der Abgeordnete Vögler seinerseits auch noch einmal auf die Sozialdemokraten einwirkt, um deren Stellungnahme zu beeinflussen. Die Herren bitten endlich für den Fall der Ablehnung des Wiederaufbauministeriums durch Herrn Boehme dieses Ministerium mit Herrn Kempkes zu besetzen.

19

Über diese Verhandlungen war in R 43 I nichts zu ermitteln.

Der Beschluß der Sozialdemokraten ergeht schließlich dahin, daß die Partei zur Kabinettsbildung keine Stellung nimmt, um keinerlei Verantwortung in dieser Richtung zu übernehmen, aber die Herren Müller und Löbe beauftragt und ermächtigt, ihre persönliche Ansicht zu den Ministerkandidaten zu geben. In dieser Darlegung werden dann die bereits bekannten Bedenken wiederholt. Der Beschluß der Sozialdemokraten bedeutet jedoch nach Darlegungen des Herrn Ministers Bauer, daß die Angelegenheit sachlich damit erledigt, mithin ein im wesentlichen auf die auswärtige Politik abgestelltes Vertrauensvotum nicht gefährdet sei20.

20

Siehe dazu Dok. Nr. 7, P. 3.

Hiernach ist der Widerstand gegen von Raumer im wesentlichen erledigt und der Weg für den Abschluß der Kabinettsbildung frei, da bezüglich des Oberbürgermeisters Scholz zur Zeit keine Bedenken erhoben werden.

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