1.72 (lut2p): Nr. 241 Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pünder über verschiedene Besprechungen der Reichstagsfraktionen zur Frage der Großen Koalition. 4. Dezember 1925

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Nr. 241
Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pünder über verschiedene Besprechungen der Reichstagsfraktionen zur Frage der Großen Koalition. 4. Dezember 1925

R 43 I /1307 , Bl. 82 f.

Die in Aussicht genommenen interfraktionellen Besprechungen der Reichstagsfraktionen sind in Gang gekommen, haben mittlerweile aber mit einem vorläufigen negativen Ergebnis geendet. Die für vergangenen Montag [30. 11.] vorgesehene Besprechung der Fraktionsvorstände der Regierungsparteien wurde gleich vertagt, nachdem Herr Abgeordneter Fehrenbach den Auftrag erhalten hatte, zunächst bei den Demokraten und Sozialdemokraten wegen der Möglichkeiten der Großen Koalition zu sondieren. Diese Besprechungen Fehrenbachs haben am Dienstag stattgefunden mit dem Ergebnis, daß die Demokraten sich für die Große Koalition ausgesprochen haben, während die Sozialdemokraten eine Stellungnahme ablehnten, bis nicht die Deutsche Volkspartei sich geäußert hätte. Am Mittwoch hat daraufhin eine Besprechung Fehrenbachs mit Dr. Scholz stattgefunden. Fehrenbach hat hierbei Herrn Scholz die[936] Zustimmung zur Großen Koalition sehr stark nahegelegt und sich insbesondere auf einen einstimmigen Beschluß der Zentrumsfraktion bezogen1. Abgeordneter Dr. Scholz hat ein Verhandeln auf dieser Basis abgelehnt, da unverbindliche Erörterungen unter den Fraktionen nicht möglich seien, wenn eine der Parteien der anderen bereits mit bündigen Beschlüssen entgegentrete. Er hat gesagt, er seinerseits sei dann auch in der Lage, sofort einen entgegengesetzten Beschluß seiner Partei herbeizuführen. Nach dieser ergebnislosen Besprechung mit der Volkspartei hat Herr Fehrenbach seine Bemühungen als vorläufig aussichtslos eingestellt und ist mittlerweile in seine badische Heimat abgereist. Vor seiner Abreise hat er sich persönlich dahin geäußert, es sei zunächst eine Klärung innerhalb der Volkspartei nötig, insbesondere müsse Herr Minister Stresemann als Vorsitzender der Partei sich der Reichstagsfraktion seiner Partei gegenüber ganz klar äußern.

1

Der Beschluß, für die Bildung einer Großen Koalition einzutreten, war in einer Sitzung der Zentrumsfraktion am 20. 11. gefaßt worden. Sitzungsprotokoll in: Restnachlaß Weismantel, BA-Kl. Erw. Nr. 674–2.

In der Presse und in der parlamentarischen Öffentlichkeit ist das Scheitern dieser ersten Fühlungnahmen bekannt geworden und wird selbstverständlich eifrig diskutiert. Das Rätselraten, ob es zu einer Großen Koalition oder zu einer Minderheitsregierung der bürgerlichen Mitte komme, ist eifrig im Gange. Bei der Sozialdemokratie, namentlich auch in ihrer Presse, überwiegen bisher die einer Großen Koalition abgeneigten Auffassungen. Insbesondere hat sich in der „Rheinischen Zeitung“ nach dieser Richtung sehr deutlich der Abgeordnete Sollmann, der ja einstmals Minister einer Großen Koalition war2, geäußert3.

2

Vgl. Anm. 5 zu Dok. Nr. 243.

3

In einem Leitartikel der „Rheinischen Zeitung“ (Köln, Hauptorgan der rhein. SPD) hatte Sollmann am 1. 12. geschrieben: „Man wird an uns herantreten, wenn die Regierungskrisis akut wird. Seit Jahren wird die Sozialdemokratie wieder einmal im Mittelpunkt der politischen Kombinationen stehen. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion wird, wenn die Verhandlungen da sind, ihre wirtschaftlichen, finanziellen und politischen Reformpläne vorzulegen haben. Dann mögen die anderen, vor allem die Deutsche Volkspartei, antworten.“ Er glaube aber in Kenntnis der eigenen Pläne und derjenigen der DVP sagen zu können, daß es zu einer Großen Koalition nicht kommen werde (nach „Tägliche Rundschau“ vom 2. 12.).

Die Haltung der Bayerischen Volkspartei ist noch unklar. Wahrscheinlich und hoffentlich wird auf dem am kommenden Sonnabend in Bayern stattfindenden Parteitag eine Klärung herbeigeführt werden. Die Bayerische Regierung und namentlich ihr Exponent, Ministerpräsident Held, soll, was ja auch nicht auffallend wäre, gegen eine Große Koalition sein, während Herr Abgeordneter Leicht als Führer der Reichstagsfraktion einer Großen Koalition nicht abgeneigt sein soll4. Die an sich schon bestehende starke Animosität zwischen Bayerischer Volkspartei und ihrer Reichstagsfraktion soll augenblicklich recht stark sein.

4

Zur Stellungnahme Helds und der BVP vgl. Anm. 6 zu Dok. Nr. 243.

Daß die Sozialdemokratie letzten Endes einer Großen Koalition geneigt gemacht werden könnte, wird vielfach angenommen. Nach dieser Richtung hin liegen verschiedene, allerdings nur rein persönliche Äußerungen einiger einflußreicher sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter vor. Gegen den Eintritt der Sozialdemokratie in die Große Koalition wird seitens der Sozialdemokraten[937] auf die nach wie vor große kommunistische Gefahr hingewiesen, deren Größe durch den Ausfall der Provinziallandtagswahlen angeblich wieder einmal besonders deutlich geworden sein soll5. Für den Eintritt der Sozialdemokraten in die Große Koalition spricht der Wunsch verschiedener einflußreicher sozialdemokratischer Abgeordneter nach stärkerem Einfluß innerhalb der gesamten Reichsverwaltung. In dieser Hinsicht wird mehrfach auf den Fall des Staatssekretärs Schulz vom Reichsministerium des Innern hingewiesen, der als letzte Größe der Sozialdemokratie innerhalb der Reichsverwaltung im Abtreten begriffen ist6. Namentlich seitens der preußischen Sozialdemokratie soll auf einen verstärkten Einfluß der Partei auch in der Reichsverwaltung entsprechend dem gegenwärtigen Zustand in der preußischen Verwaltung großer Wert gelegt werden.

5

Bei den am 29. 11. abgehaltenen pr. Provinziallandtagswahlen erzielten die großen Parteien folgende Ergebnisse: Preußenblock (DNVP und DVP) 3 309 000, SPD 2 747 000, Zentrum 2 131 000, KPD 901 000, DDP 364 000 Stimmen (Schultheß 1925, S. 182).

6

Schulz bleibt bis 1927 StS im RIMin.

Unabhängig von der Erörterung der Frage „Große Koalition“ oder „Bürgerliche Mitte“ werden selbstverständlich die Personalfragen viel besprochen. Im Zentrum rechnet man bei vielen Stellen mit einer Beibehaltung des gegenwärtig vorhandenen Gerippes der Reichsregierung und mit einem Eintritt des Herrn Reichskanzlers a. D. Marx als Reichsjustiz- und Rheinminister. Für das Finanzministerium werden nach wie vor die drei Demokraten Reinhold, Dietrich und Koch genannt, für das Wirtschaftsministerium der Abgeordnete Lammers.

Sollte es, was m. E. im Hinblick auf den uns bevorstehenden schweren Winter das Erstrebenswerteste wäre, nicht zu einer Großen Koalition kommen, so hätte m. E. ein bürgerliches Kabinett der Mitte mit Marx auf den beiden genannten Posten und einem Demokraten auf dem Finanzministerstuhl wohl noch die besten Chancen, da es sowohl nach rechts als auch nach links so gut gesichert wäre, wie es unter den gegenwärtigen Verhältnissen überhaupt möglich wäre. Auf dem Finanzministerposten ist m. E. unter allen Umständen ein Demokrat erforderlich, da nur auf diese Weise die sonst zweifellos nicht verstummenden demagogischen Anwürfe gegen die Finanzpolitik des Reichs verhindert werden können.

Der Vollständigkeit halber erwähne ich noch, daß nach einer mir zugegangenen zuverlässigen Nachricht Herr Minister Geßler gestern dem Herrn Reichspräsidenten mitgeteilt hat, er lege auf seinen Verbleib im Reichskabinett keinerlei Wert und bitte, seine Person bei der Neubildung nicht berücksichtigen zu wollen. Inwieweit diese Äußerung des Herrn Ministers Geßler sein letztes Wort ist, entzieht sich natürlich meiner Kenntnis.

Herr Gesandter v. Haniel teilte mir heute mit, Herr MinPräs. Held habe sich ihm gegenüber letzter Tage recht lebhaft für die Große Koalition eingesetzt7.

7

Dieser letzte Absatz von Pünder handschrl. hinzugefügt.

Pünder

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