1.39.2 (ma12p): 2. Außenpolitische Lage.

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2. Außenpolitische Lage.

Der Reichsminister des Auswärtigen berichtete über die Unterredung des Botschafters Hoesch mit dem Ministerpräsidenten Herriot4. Herriot sei sehr niedergedrückt und pessimistisch gewesen. Herriot habe offen zugegeben, daß er zu schnell vorgegangen sei und dabei große Fehler gemacht habe. Die Londoner Konferenz sei ungenügend vorbereitet und es müsse sehr langsam vorgegangen werden, wenn ein Erfolg erzielt werden solle. Folgende vier Punkte habe Hoesch besonders zur Sprache gebracht:

4

Der telegrafische Bericht Hoeschs vom 14. 7. über seine Unterredung mit Herriot am gleichen Tage befindet sich im Pol. Arch. des AA, Büro RM, 5 Reparation, Bd. 19. Auszugsweise Wiedergabe des Berichts in: Stresemann, Vermächtnis I, S. 459 f.

1.

die Beteiligung Deutschlands an der Londoner Konferenz,

2.

die militärische Räumung der nicht vertragsmäßig besetzten Gebiete,

[885] 3.

die Frage der Handlungsfreiheit Frankreichs im Falle einer Verfehlung Deutschlands,

4.

die Frage der Spezialorgane im besetzten Gebiet.

Zu 1. Herriot habe weder mit ja noch mit nein geantwortet. Er habe sich offenbar nicht festlegen wollen. Klar zum Ausdruck gebracht habe er aber dabei, daß der Vertrag von Versailles unbedingt aufrechterhalten bleiben müsse. Das ausführende Organ sei dabei die Reparations-Kommission.

Zu 2. habe Herriot gesagt, daß davon nichts im Sachverständigen-Gutachten stände. Früher habe auch die deutsche Regierung eine solche Forderung nicht erhoben. Er selbst habe einen Plan für die Räumung der besetzten Gebiete fertig, habe diesen auch formuliert und dem Kabinett vorgetragen, er sei aber nicht in der Lage, diese Formulierung Hoesch mitzuteilen. Die Frage der Kommerzialisierung der Industrie-Obligationen stehe nicht in Verbindung mit der militärischen Räumung. Herriot habe also nicht erklärt, daß er gegen die Räumung sei.

Zu 3. Herriot habe erklärt, daß er nicht in der Lage sei, von dem bisherigen Standpunkt Frankreichs abzugehen5. Hoesch habe darauf erwidert, daß dann Deutschland keine Anleihe erhalte. Herriot sei darauf aufgebraust und habe erwidert, das sei gerade die infame Pression, die auf ihn ausgeübt werde. Alles arbeite gegen Frankreich. Er habe darauf noch gebeten, daß Deutschland, wenn es noch Wünsche habe, diese ihm mitteilen möchte und nicht über London vorbringen sollte.

5

Nach dem Bericht Hoeschs (Anm. 4) erklärte Herriot zu diesem Punkt, „Sanktionsfrage sei interall. Problem. Dann ausführte er, es sei doch unmöglich, Frankreich einer etwaigen zukünftigen flagranten Nichterfüllung Deutschland gegenüber an Händen und Füßen zu binden. Er habe schon Zugeständnis Hereinnahme Amerikaner in Repko gemacht, könne aber unmöglich frz. Recht zu selbständiger Wahrung Interesses restlos preisgeben und damit sein durch Krieg am schwersten geschädigtes Land zum Opfer einer etwa später möglichen anderen politischen Konstellation machen. Er glaube ja an die ganze Wirtschaft mit den manquements und Sanktionen für die späteren Jahre nicht, sondern sei der Ansicht, daß ruhiger Weiterbestand Europas nur denkbar, wenn Erfüllung dt. Verpflichtungen zu einem nicht weiteren … [Gruppe verstümmelt] selbstverständlich geworden sei. Trotzdem aber könne er zu einer Beschneidung frz. Selbständigkeit nicht Hand bieten, und Aufwerfung dieser Frage in London würde ihn in schwerste Lage bringen. Auf meinen Einwurf, daß im Falle Beharrung auf Wahrung frz. Aktionsfreiheit anglo-amerik. Kapital nicht zur Verfügung stehen würde, aufbrauste Herriot mit dem Bemerken, das sei ja gerade eine der unerträglichen Pressionen, die auf ihn ausgeübt würden, und er wisse sehr wohl, daß auch deutscherseit in diesem Sinne auf engl. Reg. eingewirkt werde.“

Zu 4. habe Herriot erklärt, daß diese Gedanken mit der Beibehaltung der Micum nichts zu tun hätten. Ein Spezial-Ausschuß für die Regelung der Sachlieferungen scheine ihm aber notwendig zu sein.

Staatssekretär a. D. Hirsch habe ihm heute gesagt, daß in der französischen Öffentlichkeit ein Vortrag Dalbergs verwüstend gewirkt habe, in dem ausgeführt worden sei, daß die Transferierungsmöglichkeit schon im zweiten Reparationsjahr aufhöre. Frankreich hielte sich bei dem ganzen Sachverständigen-Gutachten für den Hintergangenen, und in dieser Furcht versuche es, das, was es in den Händen halte, möglichst zu sichern. Selbst die Sozialisten, auch Léon Blum, schienen nicht mehr gegen die Ruhrbesetzung zu sein. Was den[886] Transfer anlange, so versuche man eine Ergänzung der Rechte des Transfer-Agent zu erreichen. Man denke z. B. an das Recht der Devisenerfassung durch den Agent.

Lord D’Abernon habe ihm heute mitgeteilt, daß Deutschland zu der Konferenz wahrscheinlich nicht eingeladen werde. Es sei dies vielleicht ein Vorteil für Deutschland, da das auf der Konferenz versammelte Gremium viel zu groß sei, um für die zwischen England, Frankreich und Deutschland notwendige Auseinandersetzung geeignet zu sein. Ein Ultimatum sei englischerseits nicht beabsichtigt. Im englischen Parlament mache sich eine starke Bewegung gegen MacDonald breit, um eine vernünftige Lösung mit Deutschland herbeizuführen.

Mussolini werde nicht nach London gehen; er fände sich in dem Wirrwarr zwischen London und Paris nicht mehr zurecht und werde sich erst nach einer Klärung wieder beteiligen. Er, Stresemann, glaube, daß bei der allgemeinen Verwirrung eine Lösung nur noch durch das Eingreifen Amerikas herbeigeführt werden könne. Amerika müsse in seiner Stellung als Finanzier Europas auftreten und könne vielleicht so den erforderlichen Druck ausüben.

Saint-Quentin habe ihm den Wunsch zum Ausdruck gebracht, die Gesetze möchten nicht mit Amendements beschwert werden. Er, Stresemann, habe demgegenüber erklärt, daß dies kaum vermeidbar wäre, wenn verlangt werde, die Gesetze sollten vor einer Regelung der politischen Fragen von dem Reichstag votiert werden. Ohne die Regelung der politischen Fragen sehe er überhaupt keine Möglichkeit, die Gesetze in Kraft zu setzen. In dieser Frage bitte er, Stresemann, nochmals um Feststellung des Einverständnisses des Kabinetts. Das Kabinett sei sich doch wohl darüber einig, daß die Gesetze erst dann in Kraft gesetzt werden könnten, wenn es der Reichsregierung möglich sei, dem Londoner Protokoll zuzustimmen6. Die Rede des Herrn Reichskanzlers auf dem Presseempfang7 sei teilweise anders ausgelegt worden. Die „Vossische Zeitung“ z. B. spreche davon, daß die Reichsregierung das Sachverständigen-Gutachten bedingungslos annehmen wolle. Auch der „Vorwärts“ habe sich nicht mehr ganz klar für die militärische Räumung eingesetzt. Hermann Müller habe jedoch vor seiner Abreise nach Amsterdam8 ihm gegenüber zum Ausdruck gebracht, daß die Regierung die Pflicht habe, für die militärische Räumung bis zum letzten Augenblick zu kämpfen. Er, Stresemann, halte den Kampf um[887] die militärische Räumung noch nicht für verloren. Er habe sich immer für diesen Kampf eingesetzt und habe auch entsprechend der Auffassung des Kabinetts9 die Außenvertreter des Reiches in diesem Sinne angewiesen. Er habe insbesondere durch die Außenvertreter zum Ausdruck bringen lassen, daß die Regierung Marx bedroht sei, wenn es die militärische Räumung nicht erreiche10.

6

Vgl. Dok. Nr. 241, P. 2, bes. Anm. 9.

7

Auf einem Presseempfang am 12. 7. hatte der RK u. a. ausgeführt: „Man spricht jetzt wieder so viel von Bedingungen und Voraussetzungen, unter denen Deutschland das Sachverständigen-Gutachten durchzuführen entschlossen sei. Ich glaube, wir sind uns in dem, was damit zum Ausdruck gebracht werden soll, alle einig, aber ich befürchte, daß nach außen hin durch den Gebrauch dieser Begriffe ein Eindruck erweckt wird, der politisch unzuträglich ist. Die Bedingung, die die dt. Reg. an die Durchführung des Sachverständigen-Gutachtens knüpft, ist einzig und allein die, daß das Gutachten von allen Beteiligten seinem Inhalt und seinem GeIste gemäß aufrichtig angenommen und durchgeführt wird. Eine andere Bedingung stellt die dt. Reg. nicht und irgendeine andere Voraussetzung für die Annahme des Gutachtens gibt es nicht. Inhalt und Geist des Gutachtens der Sachverständigen fordern aber unserer Überzeugung nach die Wiederherstellung eines einwandfreien Rechtszustandes und die Schaffung all der Bedingungen und Erleichterungen, die zum Wiederaufleben der dt. Wirtschaft erforderlich sind.“ („Die Zeit“ vom 15. 7.).

8

Zum internationalen Gewerkschaftskongreß am 14. 7.

9

Vgl. Dok. Nr. 248, P. II, 1 am Schluß.

10

Vgl. das Schreiben Stresemanns an v. Hoesch vom 13. 7. in: Stresemann, Vermächtnis I, S. 457 ff.

Belgien, Amerika und England hätten ihm gegenüber auch keinen Zweifel darüber gelassen, daß sie bei Annnahme des Sachverständigen-Gutachtens die militärische Räumung der nicht vertragsmäßig besetzten Gebiete für selbstverständlich hielten. In welcher Form man diese Auffassung nach außen zu Tage treten lasse, sei eine besondere Sache. Der Herr Reichskanzler habe die militärische Räumung in Verbindung gebracht mit dem Geist des Gutachtens. Ob so oder so, er glaube, daß jetzt, wo man von uns eine freiwillige Unterschrift erwarte, die letzte große internationale Gelegenheit gegeben sei, um einen Erfolg in dieser Frage zu erreichen.

Der Reichskanzler war auch der Meinung, daß sich die Situation verschlechtert habe. Es entstehe die Frage, wie wir uns demgegenüber verhalten müßten. Er sei der Meinung, daß die Vorarbeiten weiter gefördert werden sollten, jedoch sollten die Gesetze vor dem 29. Juli dem Reichstag nicht vorgelegt werden.

Der Reichsminister der Finanzen war auch der Meinung, daß jetzt dem Reichstag die Gesetze noch nicht vorgelegt werden könnten. Infolgedessen dürfe aber auch der Reichstag jetzt noch nicht zusammentreten11. Jede Verhandlung des Reichstags, die vor der Verhandlung über die Gesetze stattfinde, so z. B. eine Verhandlung über die sozialpolitischen Anträge, halte er für untragbar. Die Wirtschaftslage habe sich derart beängstigend zugespitzt, daß eine Erörterung dieser Dinge im Plenum des Reichstages zu den unerwünschtesten Folgen führen könnte. Er sei bereit, von der Regierung aus gewisse Erleichterungen auf sozialpolitischem Gebiet eintreten zu lassen.

11

Am 28. 6. hatte sich der RT vertagt.

Der Reichswirtschaftsminister bestätigte die Auffassung über die Lage der Wirtschaft. Der Reichstag dürfe jetzt nicht zusammentreten. Was die Frage der militärischen Räumung anlange, so stimme er dem Herrn Reichsminister des Auswärtigen zu. Notwendig sei, über diese Frage eine Übereinstimmung der öffentlichen Meinung herbeizuführen. Die Beziehung auf Dalberg, der übrigens seiner Meinung nach derartige Ausführungen nicht gemacht haben könne, scheine ihm nur ein Vorwand zu sein. Man brauche in Frankreich Vorwände, um sich den Verpflichtungen des Gutachtens zu entziehen. Man müsse daran festhalten, daß Deutschland nach dem Wortlaut des Gutachtens ein Recht auf die militärische Räumung habe.

Der Reichskanzler stellte fest, daß sich das Kabinett im Ziel immer einig gewesen sei. Notwendig sei nur, bei Vertretung dieser Auffassung immer an das Gutachten anzuknüpfen. Man müsse so argumentieren, Deutschland wolle das Gutachten ausführen. Dies setze die Wiederherstellung der wirtschaftlichen[888] Einheit voraus; diese Wiederherstellung der wirtschaftlichen Einheit habe aber ohne weiteres die militärische Räumung zur Voraussetzung. Das Mantelgesetz werde nicht zu umgehen sein.

Der Vizekanzler wünschte, daß den Äußerungen der „Vossischen Zeitung“ unzweideutig entgegengetreten werde. Das Kabinett habe sich auf den Standpunkt gestellt, daß es seine Mitwirkung an den Gesetzen versagen müsse, wenn es die militärische Räumung nicht sichergestellt sehe. Diese Auffassung habe auch der Herr Reichskanzler in seiner Sonnabendrede12 vertreten. Das Ausland habe sie auch in diesem Sinne verstanden.

12

S. Anm. 7.

Der Reichsminister der Finanzen betonte, daß es ja gar keinen Zweck habe, sich für das Sachverständigen-Gutachten einzusetzen, wenn die Ruhr nicht geräumt werde; denn ohne die Ruhrräumung werde Deutschland die notwendige Anleihe nicht erhalten.

Der Reichskanzler stellte nochmals fest, daß die Meinung des Kabinetts die sei, Deutschland wolle durch die Ausführung der Gesetze vertragsmäßige Zustände wiederherstellen. Dies setze voraus, daß auch auf der anderen Seite vertragsmäßige Zustände herbeigeführt würden. Vertragsmäßige Zustände seien aber unvereinbar mit der Aufrechterhaltung der Besetzung des Ruhrgebiets, von Duisburg, Düsseldorf usw. Mit dieser Auffassung sei nicht die Forderung verknüpft, daß die besetzten Gebiete bereits geräumt sein müßten, bevor die Gesetze in Kraft treten könnten.

Das Kabinett beschloß, daß sobald als möglich mit den Parteiführern Besprechungen stattfinden sollten über die außenpolitische Lage und über die sich daraus ergebenden Folgerungen für das Zusammentreten des Reichstags13.

13

S. die Parteiführerbesprechung vom 22. 7. (Dok. Nr. 259).

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