1.104 (ma12p): Nr. 316 Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft an den Reichskanzler. Podangen, Post Tüngen (Ostpr.), 4. Oktober 1924

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Nr. 316
Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft an den Reichskanzler. Podangen, Post Tüngen (Ostpr.), 4. Oktober 1924

Stadtarchiv Köln, Nachlaß Marx, Nr. 63, eigenhändig

[Verhandlungen über die Umbildung der Reichsregierung; Zusagen an die Deutschnationalen]

Hochverehrter Herr Reichskanzler!

Da ich in dringenden geschäftlichen Angelegenheiten bis Montag [6. 10.] einschließlich hier anwesend sein muß, ist es mir leider unmöglich, an der Ministerbesprechung über die politische Lage am Montag teilzunehmen.

Es drängt mich jedoch, Ihnen, hochverehrter Herr Reichskanzler, vor der Ministerbesprechung meine Ansicht über die Regierungsumbildung mitzuteilen.

Ich fürchte, daß die an sich sehr erstrebenswerte Idee der Regierungsbildung durch Verbreiterung nach rechts und nach links in der Praxis undurchführbar ist. Ganz abgesehen von allem andern: wie sollten auch die Ministersitze zwischen 6 Parteien mit z. T. diametral entgegengesetzter politischer Auffassung verteilt werden? –

Ich bin aber auch der Ansicht, daß die Situation, oder richtiger gesagt, die Grundlage, auf welcher Ende August mit den Deutschnationalen zwecks Annahme der Dawes-Gesetze verhandelt wurde, nunmehr beträchtlich u. völlig[1089] verschoben ist. Schließlich war es doch damals die Überzeugung der Mehrheit im Kabinett, daß man, koste es was es wolle, die Deutschnationalen zur Annahme der London-Gesetze bewegen müßte. Daß dieses ohne Konzessionen betreffs Regierungsbildung erreicht werden würde, war unwahrscheinlich.

Die Deutschnationalen haben in vollstem Vertrauen auf die damaligen Erklärungen der Parteiminister Stresemann, Jarres u. Brauns den Gesetzen zur Annahme verholfen1. Selbstverständlich dachte damals kein Mensch an Einbeziehung der Sozialdemokraten. Nun haben Sie, hochverehrter Herr Reichskanzler, diese Idee neu aufgeworfen, u. dadurch sind die Deutschnationalen in eine scheußliche Situation geraten. – Sie können doch nicht mit den Sozialdemokraten zusammen im Kabinett sitzen! – Und wenn sie das letzten Endes ablehnen müssen, werden sie dann als Saboteure der Volksgemeinschaft mit Schmutz beworfen werden.

1

Über Verhandlungen mit der DNVP betr. Regierungsumbildung vor Annahme der Dawes-Gesetze am 29. 8. waren in den Akten der Rkei keine Aufzeichnungen zu ermitteln. Vgl. hierzu Schultheß 1924, S. 75 ff.

Ich weiß, daß Ihnen, hochverehrter Herr Reichskanzler, alle Winkelzüge u. Intrigen fernliegen; gerade weil ich das weiß u. dafür meine Hand ins Feuer legen kann, ist es meine Pflicht, Ihnen, hochverehrter Herr Reichskanzler, zu sagen, daß der Versuch, jetzt plötzlich auch die Sozialdemokraten zur Regierungserweiterung zu rufen, den Anschein erwecken muß, als ob die Deutschnationalen, nachdem nun die Dawes-Gesetze unter Dach gebracht sind, nachträglich hereingelegt würden, indem man sie nun durch das (Ende August ganz fernliegende) Ansinnen, mit den Sozialdemokraten sich an einen Tisch zu setzen, doch in eine unmögliche Situation hineinmanövrieren wollte. Ich wiederhole, daß dieser „Anschein“ entstehen muß. Und durch diesen Anschein fällt ein ganz unberechtigter Schatten auf das Kabinett. Die Deutschnationalen wissen doch, daß Sie, Herr Reichskanzler, damals im August von den Verhandlungen der vorgenannten Minister mit ihnen gewußt haben und daß Sie diese Verhandlungen nicht untersagt haben. Die Minister, die mit den Deutschnationalen verhandelten, kommen nun gleichfalls in eine unmögliche Situation, da sie bei ihren Verhandlungen doch selbstverständlich nur von einer Regierungserweiterung nach rechts ausgingen, während jetzt, wo es ernst mit den Konzessionen werden soll, plötzlich die Miteinbeziehung der Sozialdemokraten als Verhandlungsgrundlage aufgestellt wird. – Das kann doch niemals zu einem guten Ende führen! – Ich bitte, hochverehrter Herr Reichskanzler, die Dinge auch von diesem Gesichtspunkt aus zu betrachten. – Das Kabinett ist doch den Deutschnationalen gegenüber moralisch gebunden, andernfalls Sie, hochverehrter Herr Reichskanzler, doch den oben genannten Ministern im August das Verhandeln mit den Deutschnationalen hätten verbieten müssen, als es Ihnen gemeldet wurde. Und somit sind Sie, Herr Reichskanzler, doch indirekt auch gebunden; wenigstens ist das meine Auffassung, die vielleicht korrekturbedürftig sein kann, aber doch auch nicht ganz abwegig ist.

[1090] Wir müssen doch jetzt die Versprechungen an die Deutschnationalen, durch die die Dawes-Gesetze schließlich zur Annahme kamen, loyal einlösen. Auch wenn die Verbreiterung nach rechts und links theoretisch gedacht ideal sein könnte, so wird doch allein durch die ernsthafte Ventilierung dieser Idee die von uns fest zugesagte Verbreiterung nach rechts zerschlagen u. unmöglich gemacht. So liegen doch nun mal, nüchtern betrachtet, die Dinge!

Durch all’ dies muß der Anschein entstehen, als ob wir mit den Deutschnationalen kein ehrliches Spiel trieben, als ob wir sie in eine unmögliche Situation hineinmanövrieren wollten. – Und diesen unberechtigten Anschein des nicht ganz ehrlichen Spiels möchte ich gern dem Kabinett und vor allem Ihnen, hochverehrter Herr Reichskanzler, unter allen Umständen ersparen.

Nur meine große und durch viele Beweise Ihrer außerordentlichen Loyalität gestärkte Verehrung für Sie, Herr Reichskanzler, machte mir diese Zeilen zur selbstverständlichen Pflicht. Ich hoffe und glaube es zu wissen, daß Sie mir diese freimütigen Zeilen nicht verargen u. nicht als Einmischung in Dinge, die mich nichts angehen, auslegen werden.

Damit auch die andern Herren Kollegen meine Auffassung kennen, stelle ich es anheim, diesen Brief in der diesbezüglichen Ministerbesprechung zu verlesen2.

2

Dieser Brief wird vom RK in der Ministerbesprechung vom 6. 10. verlesen (Dok. Nr. 317).

In gewohnter Hochschätzung verbleibe ich, hochverehrter Herr Reichskanzler, stets als Ihr aufrichtig ergebener

Graf Kanitz

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