2.78.3 (bau1p): 3. Baltikum.

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Das Kabinett BauerKabinett Bauer Bild 183-R00549Spiegelsaal Versailles B 145 Bild-F051656-1395Gustav Noske mit General von Lüttwitz Bild 183-1989-0718-501Hermann EhrhardtBild 146-1971-037-42

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3. Baltikum5.

5

Im Baltikum trugen seit dem 7. 10. dt.-russ. Truppen unter Oberst Awaloff-Bermondt erneute Angriffe gegen Riga vor. Bermondt hatte am Vortag Lettland seiner Oberhoheit unterstellt und einen sog. „Westrussischen Rat“ als Verwaltungsinstanz für die von ihm besetzten Landesteile eingesetzt (Schultheß 1919, II, S. 335 ff.; Gen. Fürst Awaloff: Im Kampf gegen den Bolschewismus. S. 196 ff.). Unter dem Eindruck dieser Kämpfe behaupteten die All., die RReg. hintertreibe die Räumung des Baltikums, woraufhin am 10. 10. die Ostsee erneut für dt. Schiffe gesperrt wurde. Mit weiteren Zwangsmaßnahmen, wie sie in der all. Note vom 27. 9. angedroht worden waren (vgl. Dok. Nr. 67, Anm. 2), mußte nach der Überreichung einer neuen Baltikumnote vom 10. 10. gerechnet werden (Wako Düsseldorf an AA, 11.10.19; R 43 I /48 , Bl. 6 f.; vgl. Schultheß 1919, I, S. 433 und II, S. 594 f.). – RIM Koch, der zum ersten Mal an Kabinettsberatungen über die Baltikumsräumung teilnimmt, kennzeichnet in einer Tagebuchaufzeichnung vom 13. 10. den Handlungswillen und das Handlungsvermögen der RReg. mit folgenden Worten: „Heilloser Wirrwarr. […] Unsererseits handelt man nicht konsequent und selbständig, sondern fügt sich mürrisch, zögernd und unvollkommen den Forderungen der Entente. Dabei fehlt die Möglichkeit zu erkennen, inwieweit die militärischen Stellen die Absichten der Reichsregierung ausführen. Die Truppen selbst sind unschlüssig, verwirrt und verwildert. Graf Goltz möchte jetzt anscheinend das Gute, aber die Entente mißtraut ihm, die Regierung kann ihn weder schützen, noch fallen lassen. Aber der Major Bischoff und der Hauptmann Sievert sind Wallensteiner, die sich um Tod und Teufel nicht scheren, aber anscheinend auch nicht recht wissen, was sie wollen. Abenteurer aus ganz Deutschland, für die es kein anderes Ziel mehr gibt, strömen ins Baltikum. Die Grenze kann man mit den paar Bataillonen, die wir noch in Ostpreußen halten dürfen, nicht sperren. – Die Entente lenkt sachlich ein, indem sie sich mit unserem Vorschlag der Entsendung einer interalliierten Komm[ission] einverstanden erklärt, wiederholt aber die alten Vorwürfe gegen die doch so machtlose Regierung. Es ist wie beim Militär. Wenn ein Soldat vom Gaul fällt, wird es ihm als einen böswilligen Verstoß gegen den Befehl, oben zu bleiben, ausgelegt. Das Volk wird deswegen bestraft. […]“ (Nachl. Koch-Weser , Nr. 20, Bl. 1).

Das Reichskabinett ist einig, daß die neue Note der Entente eine Reihe falscher Unterstellungen enthält. Von verschiedenen Seiten wird der Wunsch ausgesprochen,[301] daß hierauf in der Antwort nochmals eingegangen wird6. Im übrigen hat die Besprechung über die für das Baltikum erforderlichen Maßnahmen folgendes Ergebnis:

6

Nachdem RWeM Noske in Widerruf seines Telegr. vom 26. 9. (vgl. Dok. Nr. 67, Anm. 4) am 3. 10. den weiteren Übertritt dt. Truppen in russ. Dienste unter Oberst Bermondt untersagt und Gen. von der Goltz sein Kommando Bermondt übertragen hatte, kann die RReg. in ihrer Antwortnote (s. u. Anm. 10) den All. gegenüber – formell mit vollem Recht – behaupten, daß sich bei den z. Zt. im Baltikum kämpfenden Truppen kein einziger dt. Soldat befände, über den die RReg. noch Befehlsgewalt ausüben könnte.

a)

Jeder Personenverkehr nach dem Baltikum soll sofort gesperrt werden; nur Leerzüge zum Abholen der Truppen sollen herausgehen dürfen. Der Reichskanzler wird sich hierüber mit dem preußischen Minister der öffentlichen Arbeiten in Verbindung setzen;

b)

ebenso soll die Munitionszufuhr sofort vollständig gesperrt werden;

c)

auch die Verpflegungszufuhr soll im ganzen aufhören. Eine Ausnahme bleibt nur in der Weise vorgesehen, daß solchen Truppen, die sich tatsächlich auf dem Rückmarsch befinden, auf die Etappenstationen Verpflegung entgegengeschickt werden darf. Mit dieser Einschränkung ist die gänzliche Einstellung der Verpflegungszufuhr bereits am 11. Oktober ausgesprochen7;

d)

durch zivile Stellen soll eine Kontrolle ausgeübt werden, insbesondere darüber, welchen Inhalt die Wagen haben. Der Reichskanzler wird sich hierüber mit dem Preußischen Staatskommissar für die öffentliche Ordnung in Verbindung setzen. Die militärischen Stellen sollen diese Kontrolle unterstützen8;

[302] e)

General von der Goltz soll sofort persönlich nach Berlin berufen werden und sich hier melden; auch zu dem Zwecke, die Truppen zur Rückkehr zu bestimmen, soll seine Anwesenheit im Baltikum nicht mehr zugelassen werden, da dies im Ausland mißdeutet wird9;

f)

die getroffenen Maßnahmen a) bis e) sollen sofort veröffentlicht werden;

g)

das Auswärtige Amt wird die Antwortnote an die Entente vor Abgang dem Reichskanzler vorlegen10;

h)

es soll versucht werden, die aus dem Baltikum eintreffenden Nachrichten zu zensurieren, damit die Nachrichten der unbotmäßigen militärischen Stellen unterdrückt werden können11. Auch soll versucht werden, die in Berlin befindliche Nachrichtenzentrale der militärischen Stellen zu ermitteln und aufzuheben;

i)

das Auswärtige Amt wird versuchen, die beiden Russen, Baron Engelhard und Rümmer, die in Berlin Propaganda treiben, festzunehmen und auszuweisen1213.

7

Die unter a–c beschlossenen Transportverbote werden der zuständigen Eisenbahndirektion Königsberg am 14. 10. vom PrArbM übermittelt (R 43 I /48 , Bl. 10).

8

StKom. Berger übersendet dem RK am 12. 11. einen ersten Untersuchungsbericht. Danach wird bereits die Überwachung von mit den Baltikumtruppen sympathisierenden Kreisen der Grenzbevölkerung und Polizei sabotiert; mil. Dienststellen scheinen die Einhaltung der Transportverbote nur unzureichend einzuhalten (R 43 I /48 , Bl. 73 f.). Daraufhin fordert der RK den RWeM am 4. 12. auf, in eine Untersuchung einzutreten (ebd., Bl. 131). – Zum Fortgang s. Dok. Nr. 90, P. 1.

9

Zur Abberufung von der Goltz’ vgl. Dok. Nr. 67, P. 1 a.

10

Wie aus einem Anschreiben des AA hervorgeht, wird die Note dem RK abschriftlich erst nach ihrer Übergabe an die All. vorgelegt (R 43 I /48 , Bl. 11–14; zum Inhalt vgl. oben Anm. 6 sowie Schultheß 1919, II, S. 596 f.).

11

Zum Zusammenhang vgl. Dok. Nr. 72, Anm. 2.

12

Im Sommer 1919 bemühte sich in Berlin eine Gruppe monarchistischer russ. Emigranten um die Gründung einer russ. Exilregierung, die das mil. Unternehmen des Oberst Awaloff-Bermondt (vgl. Dok. Nr. 52, Anm. 7) legitimieren und – auch unter Beteiligung dt. Finanzkreise – finanzieren sollte (H. E. Volkmann: Die russische Emigration in Deutschland, S. 69 ff.). Engelhard und Römmer (Schreibweise schwankend) organisieren für Bermondt die Finanzierung und den Nachschub (vgl. DBFP, 1st Series, Vol. III, Nos. 218 f.). Nach der Liquidation des westruss. Unternehmens stehen sie im Verdacht, unzulässige Finanztransaktionen mit „Bermondt-Geld“ zum Nachteil des Dt. Reichs vorgenommen zu haben (R 43 I /48 , Bl. 50; s. auch Dok. Nr. 156, Anm. 4).

13

Nach der Kabinettssitzung findet auf Veranlassung RIM Kochs eine Besprechung der Reichsminister Koch und Schiffer mit RK Bauer statt: „Grund die nach links liebäugelnden Reden Scheidemanns, die die bürgerlichen Parteien als unerwünscht und eine baldige Vereinigung mit den Unabhängigen für nötig erklären. Hinweis auf die Ungehörigkeit solcher Artikel in diesem Augenblick. Weiterer Hinweis, daß die „Welt am Montag“ mehrere Stimmen Unabhängiger (Breitscheid, Kautsky) und Alter Sozialisten (Bernstein, Löbe) enthält, die auf Einigung hinwirken. Vorstellung, daß das für unsere Partei unmöglich ist und zu schwersten Angriffen von rechts führt. Bauer erklärt alles aus dem Bedürfnis Scheidemanns, eine Rolle zu spielen und sich bei dem linken Flügel der Partei wieder Freunde zu schaffen. Vermutlich wolle er außerdem für die Wahlen die Unabhängigen ins Unrecht setzen. Aber sachlich habe das keine Bedeutung. Seine Partei könne nicht allein regieren, auch nicht zusammen mit den Unabhängigen, mit denen übrigens eine Einigung unmöglich sei. Alte vernünftige Führer der Mehrheitssozialdemokratie hielten ganz fest an der Auffassung, daß die Sozialdemokratie auf Jahre hinaus nicht allein regieren könne, schon deswegen, weil sie nicht alle Wünsche befriedigen und deshalb gar nicht als reine sozialistische Regierung auftreten könne. Übrigens wolle er vertraulich bemerken, daß Ebert, Müller und er, sowie die anderen maßgebenden Leute schon im November 1918 sich klargemacht hätten, daß alles daranzusetzen sei, daß eine Regierung mit den Demokraten gemeinsam gebildet werde. An dieser Auffassung halte er unbedingt fest. Man könne sich auf ihn verlassen“ (Tagebuchaufzeichnung Kochs vom 13.10.19; Nachl. Koch-Weser , Nr. 16, S. 303–305).

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