2.138 (bau1p): Nr. 136 Der Reichsverkehrsminister an den Reichskanzler. 22. Dezember 1919

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[494] Nr. 136
Der Reichsverkehrsminister an den Reichskanzler. 22. Dezember 1919

R 43 I /1044 , Bl. 37–39 Umdruck

[Betrifft: Verreichlichung der Eisenbahnen.]

Sofort!1 Vertraulich!

1

Präsentat der Rkei vom 29.12.19; Sichtparaphe des RK vom 8.1.20.

Durch Kabinettsbeschluß vom 21. November d[ieses] J[ahres] Rk. 10861 ist das Reichsverkehrsministerium beauftragt worden, schleunigst gemeinsam mit den Ländern zu prüfen, ob eine frühzeitige Übernahme der Staatsbahnen auf das Reich, etwa zum 1. April 1920, durchführbar ist, und welche Maßnahmen zu diesem Zwecke zu treffen sein würden2.

2

Zum Zusammenhang s. Dok. Nr. 105.

In einer Besprechung mit den Chefs der landesstaatlichen Eisenbahnverwaltungen, die am 5. und 6. d[ieses] M[ona]ts in Berlin stattfand3, habe ich die Notwendigkeit einer möglichst baldigen Überführung der Staatseisenbahnen auf das Reich dargelegt und die für nötig erachteten Vorbereitungsarbeiten zur Erörterung gestellt. Es herrschte Übereinstimmung darüber, daß eine baldige Herstellung der Verkehrseinheit in gleicher Weise den Interessen des Reichs und der Länder entspreche. Die finanziellen Schwierigkeiten, die sich bei einer Hinausschiebung des Termins über den 1. April 1920 hinaus nach dem 1. April 1920 für die Länder aus der Defizitwirtschaft ihrer Eisenbahnen ergeben würden4, sowie die auf Vereinheitlichung drängenden Wünsche des Personals wurden ebenso sehr betont, wie die Notwendigkeit, die Reibungen, die sich aus dem Nebeneinanderbestehen des Reichsverkehrsministeriums und[495] der Betriebsverwaltungen ergeben müssen, möglichst bald und restlos zu beseitigen. Auch die Vertreter des Personals, die in Form eines vom Reichsverkehrsministerium gebildeten 25er Ausschusses die Interessen des gesamten deutschen Eisenbahnpersonals wahrnehmen, schlossen sich dem Wunsche, die Vereinheitlichung zum 1. April 1920 durchzuführen, an5.

3

Vgl. dazu die „Niederschrift der Besprechung über die vorzeitige Übernahme der Staatsbeamten auf das Reich“, die der RVM mit Anschreiben vom 6.1.20 dem RKab. vorlegt (R 43 I /1044 , Bl. 49–74).

4

Die Eisenbahnen der dt. Bundesstaaten galten in der Vorkriegszeit als Überschußverwaltungen. So erzielten die pr. Eisenbahnen von 1887 bis 1913 eine durchschnittliche jährliche Steigerung ihrer Betriebseinnahmen von 9,15%. Die Überschüsse wurden zur Auffüllung des Dispositionsfonds der Eisenbahnverwaltung und zur Verstärkung der Deckungsmittel im Staatshaushalt verwendet. Doch erlaubten die außerordentlichen Betriebsbelastungen durch die Kriegswirtschaft und die beginnende Geldentwertung den Eisenbahnverwaltungen schließlich immer weniger eine ordnungsmäßige Finanzwirtschaft. Stellvertretend sei der Jahresabschluß 1918 der als mustergültig angesehenen Pr.-Hess. Staatseisenbahnen angeführt, der einen Fehlbetrag von 1 228 841 032 M auswies. Dieser Fehlbetrag lag ca. 317% über dem des Vorjahres. Für 1919 wurde für die Gesamtheit der Reichseisenbahnen ein Fehlbetrag von 4,366 Mrd. M angenommen (Zusammenstellung der Betriebseinnahmen und -ausgaben sowie des Überschusses oder Fehlbetrags der dt. Staatseisenbahnen in den Jahren 1913 bis 1920, Nat.Vers. Bd. 343 , Drucks. Nr. 2748 , Anlage 4). Darüber hinaus mußten insbesondere die kleineren Eisenbahnländer befürchten, daß sie angesichts der starken Einschränkung ihrer Steuerhoheit durch die neue Reichsfinanzgesetzgebung nicht oder nur schwer imstande sein würden, die erforderlichen Geldmittel für die Erneuerung und Unterhaltung des Eisenbahnbetriebs bereitzustellen.

5

Von den Personalvertretern, die an der in Anm. 3 zit. Besprechung teilnahmen, wurde vor allem die gleichberechtigte Einbeziehung aller Eisenbahner in die neue Reichsbesoldungsordnung, die am 1.4.20 in Kraft treten sollte, angestrebt.

Ich habe darauf die Arbeiten, die zur Durchführung der schwierigen Aktion nötig sind, sofort aufgenommen6. Die Länder mit Eisenbahnbesitz haben ihre für die Behandlung der Angelegenheit in Betracht kommenden besten Kräfte zu dauernder Beratung nach Berlin abgeordnet. Die Beratungen sind am 19. d. Mts. auf kurze Zeit unterbrochen worden, da die Vertreter der Länder über das bisher Erörterte ihren Herren Chefs Vortrag zu halten und weitere Instruktionen einzuholen genötigt waren.

6

Umfangreiche Materialien über die Arbeit der vom RVMin. eingesetzten Ausschüsse (Haupt-, Vertrags-, Organisations-, Personal- und Finanzausschuß) sowie weitere Unterlagen in: R 43 I /1044  und R 85 /267 .

Die Aufgaben, die dem Reichsverkehrsministerium zur Durchführung der Verreichlichung erwachsen, liegen auf doppeltem Gebiete: in der Vorbereitung der Staatsverträge zwischen Reich und Ländern und in der Verschmelzung der Betriebsverwaltungen zu einer Einheitsverwaltung.

Auf beiden Gebieten machen die von den Ländern geforderten Vorbehalte, insbesondere die von bayerischer Seite gewünschte Berücksichtigung der bayerischen Interessen, die meisten Schwierigkeiten. Die Behandlung dieser Frage7 ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie nicht rein fachlicher, sondern in hohem Maße politischer Natur ist. Es muß einerseits mit der Stimmung der bayerischen Bevölkerung, sodann aber auch mit den zum Teil in anderer Richtung gehenden Wünschen der übrigen Länder, insbesondere Preußens, gerechnet werden. Die von Bayern geforderte bayerische Zentralstelle (Gruppe) darf bei allem Entgegenkommen unter keinen Umständen mit Befugnissen ausgestattet werden, die geeignet sein könnten, das Ziel der Vereinheitlichung, nämlich die Herstellung einer einheitlichen deutschen Verkehrs- und Wirtschaftspolitik, zu gefährden. Diese Gefahr liegt nahe, weil entweder eine Einteilung des Eisenbahnnetzes nach den Grenzen der Länder verlangt wird, die abgesehen von dem Gebiete des Personalwesens, als Hemmnis für die Durchführung einer einheitlichen Verkehrspolitik angesehen werden muß oder nach wirtschaftlichen Gebieten, deren Herstellung in der kurzen, bis zum 1. April 1920 zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich ist.

7

Ein zusammenfassender Überblick mit Aktenauszügen zur sog. „Bayerischen Frage“, die sich in den Übernahmeverhandlungen abzeichnete, befindet sich im Nachl. Groener , N 46/142.

Der bisherige Verlauf der Verhandlungen läßt hoffen, daß, falls bei allen Verwaltungen der ehrliche Wille zu einer Verständigung auf den 1. April 1920 vorhanden ist, das Ziel erreicht werden kann. Im einzelnen sei auf folgendes hingewiesen:

[496] 1. Abschluß des Staatsvertrages.

Bei den bisherigen Beratungen ist über eine Reihe wesentlicher Punkte Einverständnis erzielt worden, insbesondere über den Umfang, in dem die Staatseisenbahnen auf das Reich übergehen sollen, über den Grundsatz, daß das Reich diese Unternehmungen als Ganzes übernimmt, und daß die Landesrechte, soweit sie auch ferner anwendbar erscheinen, einstweilen Geltung haben sollen. Über andere Punkte, insbesondere die Verteilung der am 1. April 1920 rückständigen Einnahmen und Ausgaben nach der Besitzzeit, die Sicherung der Länder hinsichtlich der Fortführung ihrer Bauten und der künftigen Ausstattung mit Nebenbahnen sowie über andere Vorbehalte war eine Einigung noch nicht zu erzielen. Auf dem Gebiete des Personalwesens sind die Vorarbeiten zur Schaffung eines einheitlichen Beamtenkörpers zum 1. April 1920 eingeleitet. Hiermit geht Hand in Hand die Einreihung in eine einheitliche Gehaltsordnung, die Feststellung der Grundsätze über das Besoldungsdienstalter, die Personalvertretung und den Aufstieg sowie der Erlaß einheitlicher Bestimmungen über Dienst- und Ruhezeiten. Hinsichtlich der Entschädigungsfrage ist die sehr schwierige Erörterung, wie das Anlagekapital als gleichmäßiger Wertmesser für die Entschädigung dienen kann, geklärt. Ich halte diese Klärung für besonders wichtig, weil der andere für die Entschädigung in Frage kommende Faktor, der Ertragswert, über den auf Wunsch der Länder demnächst gleichfalls verhandelt werden wird, nicht als Grundlage für die Entschädigung wird in Betracht kommen können. Zu prüfen bleibt sodann noch, in welcher Weise die Entschädigung zu zahlen oder zu sichern ist.

2. Überleitungsmaßnahmen.

Für die Überleitung kommen in der Hauptsache organisatorische und etatliche Maßnahmen in Betracht. Auf dem Gebiete der Organisation kann naturgemäß bis zum 1. April 1920 eine Umgestaltung der Eisenbahnbehörden nur insoweit in Frage kommen, als die einheitliche Spitze, das Reichsverkehrsministerium, unter Zusammenfassung der landesstaatlichen Ministerien geschaffen wird, unter dem mit gleichen, neu festzulegenden Zuständigkeiten die bisherigen provinziellen Behörden der Länder (Direktionen, Generaldirektionen) als Reichsbehörden arbeiten8. Die Feststellung der Zuständigkeiten des Reichsverkehrsministeriums gegenüber den Provinzialstellen ist eingeleitet; die Verhandlungen scheinen nach dem bisherigen Verlaufe zu einer Einigung zu führen. Die nötigen Vorbereitungen für den Etat 1920 sind in Behandlung; ihre rechtzeitige Fertigstellung steht außer Zweifel.

8

Zur Organisation des RVMin. vgl. Dok. Nr. 68, P. 5.

Ich hege nach dem bisherigen Verlaufe der Verhandlungen und bei dem Eifer, der auf allen Seiten zutage tritt, keinen Zweifel, daß die Überleitung der Eisenbahnen zum 1. April 1920, allerdings nur durch Herstellung eines Notdaches, sich ermöglichen lassen wird. Ob auch über die Vorbehalte, die seitens der einzelnen Länder im Staatsvertrage gemacht werden, insbesondere die[497] Entschädigungsfrage, eine Einigung zu erzielen sein wird, wird etwa am 15. Januar 1920 zu übersehen sein. Daß diese Einigung mit allen Mitteln versucht werden wird, habe ich bereits betont; es wird jedoch Grenzen geben, über die das Reich nicht hinaus kann. Inwieweit den Ländern seitens des Reichs auf finanziellem Gebiet entgegengekommen werden kann, möchte ich in erster Linie der Beurteilung des Herrn Reichsfinanzministers überlassen, der seinerseits den Versuch einer Verständigung übernehmen wird. Dagegen halte ich es jedenfalls, schon mit Rücksicht auf die zur Zeit stark hervortretenden und von der Reichsregierung unterstützten Einheitsbestrebungen, nicht für angängig, den Vertrag mit Vorbehalten der Länder zu belasten, die, wie bereits erwähnt, einer einheitlichen Verkehrs- und Wirtschaftspolitik für die Zukunft sich entgegenstellen. Hier würde meines Erachtens ein Entgegenkommen zu einem scharfen Protest aller Wirtschaftskreise führen müssen, den die Reichsregierung nicht unbeachtet lassen könnte. Es scheint mir aber trotz des günstigen Standes der Verhandlungen zweifelhaft, ob nicht vor allem seitens der bayerischen Regierung oder wenigstens seitens der bayerischen Volksvertretung der Versuch zur Erlangung derartiger Vorbehalte noch im letzten Augenblick gemacht werden wird. Um hierüber rechtzeitig volle Gewißheit zu haben, möchte ich anregen, daß sowohl im Reich als auch in den beteiligten Ländern etwa gegen den 20. Januar 1920 eine Verständigung der Mehrheitsparteien darüber erfolgt, daß

1.

der Übergang der Eisenbahnen auf das Reich unter allen Umständen zum 1. April 1920 stattfindet und daß

2.

über Fragen, über die bis zum 1. April n[ächsten] J[ahre]s eine Einigung nicht zu erzielen ist, der Staatsgerichtshof zu entscheiden haben soll.

Damit würde praktisch der verfassungsmäßig festgesetzte Termin der Verreichlichung um 1 Jahr, der Termin des Einsetzens der Tätigkeit des Staatsgerichtshofs um ½ Jahr nach vorne geschoben. Sollte eine solche Verständigung nicht zu erzielen sein, so kann, wenn Bayern widerstrebt, nur in Frage kommen, die Vereinheitlichung zunächst ohne Bayern zu vollziehen, oder im Wege eines verfassungsändernden Reichsgesetzes eine entsprechende Änderung der Reichsverfassung – Vorrückung des Verreichlichungszeitpunktes – vorzunehmen.

Ich darf mir vorbehalten, die Angelegenheit demnächst im Kabinett mündlich zu erörtern9.

9

Zum Fortgang s. Dok. Nr. 149.

Die Niederschriften über die bisherigen Beratungen in der Angelegenheit werden besonders übersandt werden.

Bell

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