2.170 (bau1p): Nr. 168 Oberpräsident Winnig an den Reichspräsidenten. Königsberg, 12. Februar 1920

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Nr. 168
Oberpräsident Winnig an den Reichspräsidenten. Königsberg, 12. Februar 1920

R 43 I /340 , Bl. 257–258 Abschrift in Durchschrift1

1

Von Winnig dem RK übersandt; Präsentatum der Rkei vom 15.2.20; Sichtvermerk Bauers o. D.

[Betrifft: Auslieferungsfrage2.]

2

OPräs. Winnig hatte bereits in zwei Telegrammen vom 6. 2. an den PrMinPräs. die PrReg. aufgefordert, in der Auslieferungsfrage auf die RReg. einzuwirken, und zusammen mit den Beamten seiner Behörde seinen Rücktritt für den Fall in Aussicht gestellt, daß „die Regierung durch Hilfe bei der Auslieferung den letzten Rest deutscher Würde preisgibt“. Die Schriftstücke waren dem RK vom PrStMin. abschr. zur Kenntnisnahme übersandt worden. Verfügung des RK vom 10. 2.: „Die PrStaatsReg. ist zu ersuchen, d[en] OberPr[äs.] W[innig] auf das Unstatthafte seiner Handlungsweise hinzuweisen. Seine Aufgabe kann es nicht sein, dt.-nati[on]ale Agitation zu betreiben. Entwurf d[es] Schr[eibens] mir vorl[egen]“ (R 43 I /340 , Bl. 195). In einem Geschäftsgangsvermerk befürwortete GehRegR Brecht, von der Absendung einer entsprechenden Antwort abzusehen, da nach seiner Ansicht „Winnig lediglich die ganz loyale Absicht gehabt hat, der Regierung Material für ihre Stellungnahme in die Hand zu geben, daß die Beamten ihr Amt niederlegen würden, wenn sie bei bei der Auslieferung mitwirken sollten. Er hat wohl geglaubt, im Sinne der Regierung zu handeln. Sein Telegramm unterscheidet sich wesentlich in der Fassung von dem in dieser Weise nicht zu erklärenden Telegramm des Regierungspräsidenten Freiherrn von Braun, der telegraphierte: ‚Wenn die Regierung es wagen sollte‘ usw.“ Obwohl sich der UStSRkei am 18. 2. diesem Votum anschließt, verfügt die RK am 19. 2.: „Ich bin anderer Meinung. Das Schr[eiben] ist abzusenden.“ Dies geschieht am 20. 2. – Die Kontroverse ist vor dem Hintergrund der wachsenden Entfremdung Winnigs von der SPD zu sehen; vgl. dazu sowie zur Reaktion der PrReg. die autobiographische Schrift Winnigs: Heimkehr. S. 227 ff. Das zit. Telegr., in dem der RegPräs. in Gumbinnen, Frhr. von Braun, dem RPräs. am 6. 2. ankündigte, der RReg. die Gefolgschaft aufzukündigen, „wenn sie es wagen sollte, ihre Hand zur Auslieferung zu bieten“, wird vom RK in einem Schreiben an den PrIM vom 12. 2. als „vollständig ungehörige beschimpfende Ausdrucksweise gegenüber der Regierung“ beanstandet (R 43 I /340 , Bl. 213) und vom RPräs. lapidarisch mit: „Die Regierung weiß, was sie zu tun hat. Drohungen bedarf es nicht“ beantwortet worden (ebd., Bl. 208). – Frhr. von Braun wird nachfolgend wegen seiner Haltung während des Kapp-Lüttwitz-Putsches aus dem Dienst entfernt (vgl. dazu ebd., Bl. 331 f.).

Die Sorge um Deutschland und um seine freiheitliche Verfassung veranlaßt mich, Ihnen, hochverehrter Herr Präsident, meine Auffassung von der Bedeutung der Auslieferungsfrage darzulegen. Ich befürchte nicht ohne Grund, daß[600] der Gang der Ereignisse ähnlich so sein wird, wie bei der Entscheidung über Annahme oder Ablehnung des Friedensdiktats. Auch damals zuerst empörte und wortreiche allgemeine Ablehnung, dann ein Abklingen der ablehnenden Stimmung, eine immer stärker werdende Betonung der realen Gesichtspunkte und der Notwendigkeit einer nüchternen Beurteilung und schließlich ein Annehmen der Bedingungen mit Haut und Haaren.

Der parteiamtliche Bericht über die Stellungnahme der sozialdemokratischen Fraktion3 läßt mich eine gleiche Entwicklung voraussehen.

3

Die SPD-NatVers.-Fraktion diskutierte die Auslieferungsfrage in Anwesenheit des RK, des RAM und des PrIM am 9. 2. von 10 bis 14.30 Uhr. Das Prot. enthält lediglich einen über die Sitzung berichtenden Zeitungsausschnitt, in dem darauf hingewiesen wird, „daß die Fraktion mit der grundsätzlichen Haltung der Regierung vollkommen einverstanden“ sei und wünsche, „die Regierung möge mit nüchterner Sachlichkeit an dem Standpunkt festhalten, daß die Entente Unmögliches von uns fordert, und daß zugleich alles vermieden werde, was zur Aufpeitschung der nationalen Leidenschaften auf beiden Seiten geeignet ist. Nach dieser Richtung wurde an einzelnen Äußerungen, die in der Öffentlichkeit gemacht worden waren, von manchen Rednern lebhaft Kritik geübt“ (vgl. Vorwärts Nr. 74 vom 10.2.20).

Vielleicht ist es noch nicht zu spät, auf die Folgen eines Nachgebens auch in dieser Frage hinzuweisen und Ihnen, hochverehrter Herr Präsident, nahezulegen, auch weiter Ihren großen Einfluß für Verharren in der Ablehnung auszuüben4.

4

Vgl. dazu die WTB-Meldung vom 10.2.20, in der Ebert in öffentlicher Erwiderung der „fortdauernd aus allen Teilen und Schichten des Volkes“ an ihn in der Auslieferungsfrage gerichteten Schreiben versichert, gemeinsam mit der RReg. „alles daranzusetzen“, um Dtld. „diese schwerste aller Forderungen“, die Auslieferung, zu ersparen (DAZ Nr. 76 vom 11.2.20).

Die Schwierigkeiten, die sich bei Ablehnung des Auslieferungsbegehrens für uns ergeben, kann keiner übersehen. Wahrscheinlich wird der Feindverband zur Blockade greifen, um uns gefügig zu machen. Eine Blockade, der sich auch Polen anschlösse, würde insbesondere auch für die mir anvertraute Provinz[601] Ostpreußen eine Lage von furchtbarer Schwere schaffen. Darüber ist man sich auch hier klar. Trotzdem bleibt die Ablehnung der richtige Weg. Der Friedensvertrag besteht aus unzählbaren Unmöglichkeiten. Würde Deutschland in der Auslieferungsfrage nachgeben, so würde es zunächst die jetzt drohenden Gewaltmaßnahmen der Feinde aufhalten. Aber der Konflikt wäre damit nur aufgeschoben. In kurzer Zeit, vielleicht schon in 2 oder 3 Monaten würde sich aus der Unmöglichkeit, diese oder jene Vertragsbestimmung zu erfüllen, eine in ihren Folgen gleiche Lage ergeben. Der Frieden enthält eben so viele Unmöglichkeiten, daß der Bruch früher oder später unvermeidbar ist. Ein Nachgeben würde also die Entscheidung nur um eine verhältnismäßig kurze Zeit hinausschieben, nichts weiter. Die Erfüllung des Auslieferungsbegehrens könnte an unserer Lage grundsätzlich nichts ändern.

Dagegen würde ein Nachgeben gerade in diesem Falle innerpolitisch die unheilvollsten Folgen nach sich ziehen. Ich habe in den letzten Tagen in sechs größeren Städten der Provinz in stark besuchten Versammlungen die Stimmung des Volkes, und insbesondere der Arbeiter, erkunden können. Abgesehen von den zur unabhängigen sozialistischen Partei haltenden Kreisen ist alles darin einig, daß es diesmal keine Nachgiebigkeit geben darf. Das Gefühl für den Schimpf, der in der Auslieferung deutscher Staatsbürger zur Aburteilung durch die Feinde liegt, ist in den einfachsten Leuten lebendig und stark. Eine Nachgiebigkeit der Regierung würde die Sympathien, die in der politisch linksgerichteten Bevölkerung unvermindert bestehen, aufs Schwerste erschüttern. Die unter Voranstellung des nationalen Gedankens arbeitende Propaganda der regierungsfeindlichen Kreise würde neue große Erfolge haben. Es würde ihr möglich sein, die Regierung mit Erfolg der nationalen Gleichgültigkeit zu zeihen und in der Vorstellung der Bevölkerung den alten und erst durch die Umwälzung überwundenen Gegensatz zwischen Freiheit und Vaterland wieder lebendig zu machen. Dies müßte den regierungsfeindlichen Bestrebungen endgültig das Übergewicht geben und das Ansehen der Regierung so herabsetzen, daß es bei der nächsten schweren Prüfung vollständig versagen würde.

Die Lage ist von klarster Einfachheit. Die Regierung wird das ganze Volk, soweit es überhaupt durch Aufbau und nicht durch Zerstörung vorwärts will, hinter sich haben, wenn sie festbleibt. Sie gräbt sich selbst und der freiheitlichen Verfassung das Grab, wenn sie nachgibt.

Ich bitte Sie, hochverehrter Herr Präsident, meine Darlegungen als den Ausdruck der festen und aufrichtigen Überzeugung eines Mannes zu würdigen, dessen freiheitliche Gesinnung von keinem Zweifel angekränkelt ist, und der nicht sehen möchte, daß die erste Volksregierung unseres Landes bei der Wahrung der nationalen Ehre versagt.

Wir, die demokratischen Parteien, haben dem Volke und seinem nationalen Ehrgefühl viel zumuten müssen. Die Auslieferung Deutscher zur Aburteilung vor feindlichen Gerichten dürfen wir ihm nicht mehr zumuten. Es wäre das Ende der deutschen Freiheit.

Nehmen Sie, hochverehrter Herr Präsident, den Ausdruck meiner Ergebenheit entgegen.

Winnig

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