2.101.2 (feh1p): 2. Bayerische Wucherverordnung.

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2. Bayerische Wucherverordnung.

Staatssekretär Lewald verlas den „Aufruf an das Bayerische Volk“ aus dem Bayerischen Staats-Anzeiger und die wesentlichen Bestimmungen der Wucherverordnung1. Er war der Auffassung, daß der Erlaß dieser Bestimmungen auf[260] Grund des Artikel 48 der Reichsverfassung schwer tragbar sei, zumal auch nicht Gefahr im Verzuge vorgelegen hätte; außerdem bedeuteten die Bestimmungen eine juristische Unmöglichkeit2. Ferner sei die Verordnung politisch nicht tragbar, so daß sie möglichst schleunig beseitigt werden müsse3.

1

In dem „Aufruf an das Bayerische Volk“ hieß es u. a.: „Trotz aller Bemühungen ist es bisher nicht gelungen, Wucher- und Schiebertum zu unterdrücken. Sie bilden gegenwärtig eine schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit. Anträge der Bayerischen Regierung auf zeitgemäße Umgestaltung der reichsrechtlichen Vorschriften gegen das Wucher- und Schiebertum sind seit Monaten Gegenstand der Verhandlungen. Angesichts der bedrohlichen Zustände kann die Bayerische Regierung nicht länger zuwarten, ohne sich der schwersten Verantwortung auszusetzen. Sie hat sich deshalb entschlossen, auf Grund des Art. 48 Abs. 4 der Reichsverfassung bis zum Erlaß entsprechender reichsgesetzlicher Vorschriften einstweilige Anordnungen zu treffen. Hierdurch werden die schweren und gefährlichen Fälle von Schleichhandel und Preistreiberei, das eigentliche Schieber- und Wuchertum, unter erhöhte Strafen gestellt.“ Als Strafen waren Zuchthaus von 1 bis 15 Jahren und zugleich Geldstrafen von 100 000 M bis zu 1 Mio M vorgesehen.

Ferner sollten neben der Strafe der Übererlös und das gesamte Vermögen des Täters eingezogen werden und das Urteil durch die Presse und durch Maueranschlag auf Kosten des Verurteilten bekanntgegeben werden. Das Urteil bedingte den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, die Stellung unter Polizeiaufsicht und die Überweisung an die Landespolizeibehörde. Bayer. Staatsanzeiger, Nr. 258 v. 28.10.1920.

2

Zur Rechtmäßigkeit der bayer. Wucherverordnung und zu den einzelnen Strafbestimmungen vgl. die Reichstagsdebatte vom 17.12.1920 (RT-Bd. 346, S. 1766  f.).

3

Einige Sätze des Aufrufs der Bayer. Regierung hatten den Schluß nahegelegt, daß die RReg. die Schuld an der Verzögerung einer schnellen und ausreichenden Gesetzgebung gegen Wucher und Preistreiberei trage („Anträge der Bayerischen Regierung …“). In der Tat hatte Bayern seit Monaten eine Verschärfung der Wuchergesetze gefordert.

Der Reichsminister der Justiz stimmte dem Votum des Vertreters des Reichsministeriums des Innern zu4. Wir hätten bereits jetzt Strafbestimmungen, die Strafen bis zu 5 Jahren Zuchthaus vorsähen5. Im ganzen seien über 12 000 Verurteilungen wegen Wuchers erfolgt. Als höchste Freiheitsstrafe sei ein Jahr Zuchthaus, und zwar in Bayern, verhängt worden. Seiner Auffassung nach reiche die Verordnung aus6.

4

An dieser Stelle des Protokolls folgte ursprünglich der Satz: „Die bayerische Verordnung sei eine Verhöhung der Reichsgewalt.“ Am 3.11.1920 wurde dem RJM und dem REM in einem Schreiben des StSRkei ohne Angabe von Gründen mitgeteilt, daß der betreffende Satz gestrichen sei (R 43 I /1246 , Bl. 126).

5

Dies war die Strafbestimmung des Art. II, § 2 der VO über Sondergerichte gegen Schleichhandel und Preistreiberei vom 27.11.1919 (RGBl. 1919, S. 1909 ).

6

Eine Aufstellung über die Tätigkeit der Wuchergerichte im Jahre 1920 findet sich in der RT-Drucks. Nr. 2700, Bd. 369 . Bereits im September 1920 hatte das RJMin. gegenüber der Presse erklärt, daß man mit dem Erfolg der Tätigkeit der Wuchergerichte zufrieden sei (Berliner Tageblatt Nr. 456 vom 29.9.1920; R 43 I /1246 , Bl. 119).

Der Reichsernährungsminister pflichtete den vorangegangenen Ausführungen über die juristische Beurteilung der Angelegenheit bei, gab aber zu bedenken, daß weite Kreise des Volkes die Verschärfung verlangten. Dieser Stimmung müsse man bis zu einem gewissen Grade Rechnung tragen; deshalb glaube er, daß es zweckmäßig sein würde, schleunigst von Reichs wegen eine Wucherverordnung zu erlassen, diese gegenüber der früheren schärfer zu fassen und die bayerische aufzuheben.

Der Reichsminister des Auswärtigen erklärte die bayerische Verordnung gleichfalls für unhaltbar und gab zu erwägen, ob sie durch die Bayerische Regierung selbst oder durch den Herrn Reichspräsidenten aufgehoben werden solle7.

7

Bereits am 28.10.1920 hatte das Büro des RPräs. an den StSRkei über die bayer. WucherVO geschrieben: „[…] Es muß rechtlich stark bezweifelt werden, ob der Art. 48 Abs. 4 der Verfassung überhaupt die Grundlage für eine solche Verordnung bilden kann und ob die Voraussetzungen für einstweilige Anordnungen einer Landesregierung im vorliegenden Falle gegeben sind. Es wird daher geprüft werden müssen, ob eine Aufhebung dieser Landesverordnung durch den Herrn Reichspräsidenten erfolgen soll […]“. (R 43 I /2213 , Bl. 108).

Der Reichsminister der Finanzen betonte gleichfalls die Volkstümlichkeit dieser Verordnung, empfahl im Augenblick nichts gegen die Verordnung zu unternehmen, gleichzeitig aber eine Gegenaktion für das ganze Reich zu überlegen.

Der Reichswehrminister legte dar, daß die Verordnung in Bayern einen akuten Anlaß in der Steigerung der Fleischpreise habe8. Die Bayerische Regierung[261] habe nur zwei Punkte, auf die sie sich stützen könne: die Einwohnerwehr und den Kampf gegen den Wucher. Die Vernunft käme in einigen Tagen von selbst. Er empfehle daher, der Bayerischen Regierung lediglich die juristischen Bedenken gegen die Verordnung mitzuteilen und zugleich hier eine Verordnung vorbereiten zu lassen, die alle anderen Verordnungen aufhebe. Besonderes Gewicht müsse hierbei auf die Polizeiaufsicht und die anderen Nebenstrafen gelegt werden. Die Mitteilung an die Bayerische Regierung erfolge am besten mündlich, gegebenenfalls durch den Minister Hamm9 oder aber den Staatssekretär im Reichsjustizministerium, der dazu möglichst bald nach München fahren müsse10.

8

Von Februar bis September 1920 stiegen die amtlichen Kleinhandelspreise für Rindfleisch in München von 6,00 M auf 11,40 M. Diese amtlichen Preise allein können jedoch kein zutreffendes Bild von den Fleischpreisen geben, weil die Zuteilung von frischem Fleisch in dieser Zeit fast überall verhältnismäßig gering war. Deswegen spielte auch das im Schleichhandel erworbene Fleisch eine große Rolle. Diese Schleichhandelspreise aber lagen weit über den amtlichen Preisen.

Im Oktober 1920 wurde die öffentliche Bewirtschaftung für Fleisch aufgehoben (VO über die Aufhebung kriegswirtschaftlicher Vorschriften auf dem Gebiete der öffentlichen Fleischversorgung, RGBl. 1920, S. 1673 ). Von Oktober bis Dezember 1920 lag der Freihandelspreis für 1 kg Rindfleisch in München bei 24,00 M (Wirtschaft und Statistik, Bd. 1 (1921), S. 76).

9

Bayer. Minister für Handel, Industrie und Gewerbe; Reichstagsabgeordneter der DDP und bayer. Bevollmächtigter zum RR.

10

Vgl. Dok. Nr. 106, Anm. 8.

Staatssekretär Geib schloß sich dem Votum des Reichswehrministers an und empfahl dringend, den mündlichen Weg zu beschreiten. Direktor Meissner teilte die Auffassung des Herrn Reichspräsidenten mit, wonach sich dieser verfassungsmäßig für verpflichtet halte, die Verordnung von sich aus aufzuheben, falls nicht ein anderer Weg vorher gefunden werde. Er glaube, daß der Herr Reichspräsident sich mit der Erledigung in der vorgeschlagenen Weise einverstanden erklären würde.

Der Reichsminister der Justiz wiederholte, daß man schnell handeln müsse. Rechtspolitisch sei die Verordnung nicht zu verantworten. Der Reichspräsident könne sie entweder im Reichstag vorlegen oder Bayern zur Aufhebung auffordern. Zweckmäßig sei wohl der Vorschlag des Reichswehrministers. Es wurde beschlossen, daß der Reichsminister der Justiz in der besprochenen Weise vorgehen soll. Im Reichsjustizministerium soll sofort eine Besprechung über die Neugestaltung der bisherigen Wucherverordnung stattfinden. Falls die Herren Chefs sich über den Inhalt einigen, kann von einer Vorlage an das Kabinett Abstand genommen werden11.

11

Diese Besprechung fand am 1.11.1920 im RJMin. statt; eine weitere Besprechung wurde für den 8.11.1920 angesetzt (R 43 I /1246 , Bl. 127). Da offensichtlich keine Einigung erzielt wurde, wurde der GesEntw. am 9.11.1920 erneut im Kabinett vorgelegt. Siehe dazu Dok. Nr. 106, P. 7.

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