2.134.1 (bau1p): [Verhandlungen mit der Entente.]

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 7). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Das Kabinett BauerKabinett Bauer Bild 183-R00549Spiegelsaal Versailles B 145 Bild-F051656-1395Gustav Noske mit General von Lüttwitz Bild 183-1989-0718-501Hermann EhrhardtBild 146-1971-037-42

Extras:

 

Text

RTF

[Verhandlungen mit der Entente.]

Reichsminister Müller eröffnet die Sitzung um 5 Uhr und verliest den Text der heute in Paris überreichten Note2. Er betont, daß sich die Reichsregierung der Bedeutung der Auslieferungsfrage für ihren Bestand und für [die] Aufrechterhaltung der Ordnung in Deutschland wohl bewußt ist. Deutschland ist bereit zur Bestrafung gemeiner Verbrecher (vergleiche Gesetzentwurf über Kriegsverbrechen3). Das Ausscheiden Amerikas bedeutet für uns einen Nachteil4, es ist daher ein Entgegenkommen, wenn wir unterzeichnen.

2

Einzelheiten s. Dok. Nr. 128, Anm. 4.

3

Siehe Dok. Nr. 125, P. 6.

4

Siehe dazu zuletzt Dok. Nr. 113.

Als Ersatz für die Versenkung der Flotte verlangt die Entente 5 kleine Kreuzer und 400 000 t5. Während die Forderung nach Auslieferung der Kreuzer zwar ungeheuerlich ist, ist sie keine Lebensfrage für Deutschland. Dieses aber ist die Frage der Auslieferung des Materials. Eine genaue Berechnung ist angesichts der teilweise beobachteten passiven Resistenz des Privatbesitzes nicht leicht. An Docks, Schleppern und Baggern verfügen wir im ganzen über eine Summe von circa 650 000 t. Eine Sachverständigenkommission ist gestern nach Paris abgereist. Es besteht der Plan, einen Teil des Materials sofort abzuliefern und über den Rest Verhandlungen zu beginnen. Vielleicht ließen sich die Forderungen der Entente in Lieferungen von Neubauten umändern. Nach den angestellten Berechnungen könnten wir 150 000 t, zur Not 180 000 t sofort abgeben6.

5

Gemeint sind neben den Schiffen 400 000 t Hafenmaterial (Docks, Kräne, Bagger, Schlepper). Siehe dazu auch Dok. Nr. 126.

6

Vgl. dazu „Das von der Deutschen Regierung den Alliierten gemachte Angebot, betreffend die Ablieferung von 192 000 Tonnen vorhandenen Hafenmaterials“, das von der am 16. 12. in Paris eintreffenden dt. Sachverständigenkommission dem frz. Verhandlungsleiter, Loucheur, nebst einer Nachweisung des gesamten in Dtld. vorhandenen Hafenmaterials übergeben wird (abgedruckt in: NatVers.-Bd. 341 , Drucks. Nr. 2326 ).

[483] Die allgemeine Situation ist heute günstiger als im Juni d[iese]s J[ahre]s. Unsere Position ist keine schlechte. Mit einer Trennung der Alliierten ist vor der Hand allerdings nicht zu rechnen. Das Verhalten Amerikas ergibt sich ausschließlich aus amerikanischen Interessen. Für den Fall, daß es zu keiner Einigung mit der Entente kommt, droht Besetzung von Mannheim, Frankfurt, Essen. Besetzung des Ruhrgebiets scheint nicht in Frage zu kommen. Es kommt darauf an, daß weiterhin die deutsche Öffentlichkeit eine einheitliche Stimmung aufweist. Wenn wir uns willenlos alles gefallen lassen, wird uns die Entente auch in Zukunft alles bieten. Die Note ist im Kabinett einstimmig aufgenommen worden. Die Reichsregierung wünscht die Ansichten der Vertreter des Reichsrates zu hören.

Senator Sthamer gibt genaue technische Einzelheiten über die Ungeheuerlichkeit der Ententeforderungen, in denen er Englands Hand erblickt, welches auf die Versandung der deutschen Flußmündungen hinarbeitet. Er tritt für energische Haltung der Reichsregierung ein.

Ministerpräsident Hoffmann: Es kommt darauf an, sich darüber klar zu werden, was geschehen soll, wenn die Entente nicht auf unsere Wünsche eingeht.

MinPräs. Gradnauer billigt die Haltung der Reichsregierung.

Gesandter Dietrich sieht ebenso wie Herr Sthamer in den Forderungen einen Vorstoß der Engländer. Die Haltung Frankreichs erscheint ihm unverständlich, welches durch die Forderungen dazu beiträgt, den deutschen Konkurrenten Englands auszuschalten.

Gesandter Hildebrand: Die Württembergische Regierung stimmt dem Vorgehen der Reichsregierung zu. Er glaubt, daß im Falle einer Besetzung weiteren deutschen Territoriums auch die Besetzung Hamburgs in Frage käme. An der Versenkung der Flotte sei nicht die Reichsregierung, sondern der Admiral Reuter schuld.

MinPräs. Hoffmann: Die Kernfrage bleibt: Was soll die Reichsregierung tun, wenn die Entente nicht auf unsere Wünsche eingeht. Die Gefangenenfrage sei ein sehr schwerwiegendes Moment, das für die innere Situation von größerer Bedeutung sei als die Auslieferungsfrage. Er tritt für entgegenkommende Haltung gegenüber der Entente ein.

Ges[andter] von Biegeleben: Eine endgültige Entscheidung kann heute noch nicht getroffen werden.

Ges[andter] von Boden: Die Gefangenenfrage muß zurücktreten. Der Gesichtspunkt, daß die von uns verlangten Materialabgaben Deutschland ruinieren, muß ausschlaggebend sein.

RM Müller erörtert die Frage des Interesses Frankreichs an unserem Hafenmaterial. Er bittet um strengste Diskretion über die heutige Verhandlung. Er wiederholt, daß er den psychologischen Moment für gekommen erachte, um gegen ungerechte Forderungen Widerstand zu leisten. Es gelte, die Nerven zu bewahren. Er gibt vertraulich Kenntnis von den Gesprächen zwischen Herrn von Lersner und Herrn Dresel. An ein Wiederaufleben des Kriegszustandes ist nicht zu denken. Je größer die Besetzungszone, desto schwerer ist[484] die Besetzung auf die Dauer durchzuführen. Stimmen aus neutralen Ländern erwarten, daß wir nicht willenlos uns allem fügten. Eine endgültige Entscheidung kann erst nach Eintreffen der Antwort der Entente erfolgen. An ein Ultimatum zu glauben, liege kein Grund vor. Falls erforderlich, wird nach Eingehen der Antwort eine neuerliche Sitzung des Reichsratsausschusses erfolgen.

MinDir. von Stockhammern beantwortet die von der sächsischen Regierung gestellten Fragen.

RM Müller nimmt Stellung zu der Vorarlberger und Tiroler Frage7.

7

Im Voralberger LT war am 6. 12. ein Antrag angenommen worden, der LT solle von der österreichischen Reg. verlangen, daß sie das Selbstbestimmungsrecht des Landes Vorarlberg mit der evt. Folge eines Anschlusses an die Schweiz anerkenne. – Im Tiroler LT war am 11. 12. beschlossen worden, die Staatsregierung in Wien zu beauftragen, beim Obersten Rat in Paris zu erwirken, daß Tirol mit dem Dt. Reich zu einem gemeinsamen Wirtschaftsgebiet zusammengeschlossen wird (Schultheß 1919, I, S. 567 f.). Über die Ausführungen des RAM konnte nichts ermittelt werden. Offiziell nahm Dtld. Ende 1919 in der Anschlußfrage eine abwartende Haltung ein, um nicht frz. Plänen, südlich der Mainlinie einen – eventuell um österreichische Gebiete vergrößerten – dt. Teilstaat zu schaffen, neue Nahrung zu geben.

Schluß der Sitzung 7.40 Uhr.

M[üller]8

8

Hschr. Paraphe des RAM.

Extras (Fußzeile):