2.40 (feh1p): Nr. 40 Der Reichsminister des Innern an den Reichskanzler. 30. Juli 1920

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[95] Nr. 40
Der Reichsminister des Innern an den Reichskanzler. 30. Juli 1920

R 43 I /861 , Bl. 7–10 Durchschrift

[Betrifft: Vertretung Preußens in den Ausschüssen des Reichsrats; Verhalten Preußens im Reichsrat anläßlich der Haushaltsberatungen 1920]

Die Wahrnehmungen, die bei der Behandlung des Entwurfs eines Gesetzes, betreffend die weitere vorläufige Regelung des Reichshaushalts für das Rechnungsjahr 1920 im Reichsrat gemacht worden sind1, erfordern eine Besprechung im Reichsministerium, die ich nach Rückkehr des Herrn Reichskanzlers anzuberaumen bitte.

1

Zum Verhalten Preußens bei den Haushaltsberatungen s. Dok. Nr. 5, P. 1 und Dok. Nr. 26.

1. Nach Art. 62 der Reichsverfassung führt in den Ausschüssen des Reichsrats kein Land mehr als eine Stimme. Zur Ausführung dieser Vorschrift hat der Reichsrat in § 37 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung vom 20. November 1919 bestimmt:

„Jedes Land, das dem Ausschuß als ständiges Mitglied angehört und bei der Abstimmung durch einen Bevollmächtigten vertreten ist, führt eine Stimme. Sind mehrere Ausschüsse zu gemeinschaftlicher Beratung und Abstimmung versammelt, so führt jedes Land so viele Stimmen, als ihm in den beteiligten Ausschüssen zusammen zustehen und durch persönlich bei der Abstimmung anwesende Bevollmächtigte vertreten werden.“

Diese Bestimmung entspricht dem § 19 der Geschäftsordnung des Bundesrats und wurde bisher von der Reichsregierung als vereinbar mit Art. 62 der Verfassung erachtet. Auf Grund dieser Bestimmung hat sich die Übung gebildet, daß der Gesetzentwurf über den Haushaltsplan im ganzen sämtlichen Ausschüssen überwiesen wird, die für die Behandlung auch nur eines Teils des Etats zuständig sind. Der Haushaltsplan ist demgemäß insgesamt überwiesen

dem V. Ausschuß für Haushalt und Rechnungswesen,

dem II. Ausschuß für Volkswirtschaft,

dem III. Ausschuß für innere Verwaltung,

dem IV. Ausschuß für Verkehrswesen,

dem VII. Ausschuß für Rechtspflege,

dem IX. Ausschuß für Reichswehrangelegenheiten,

dem X. Ausschuß für Seewesen.

Nun sind Preußen, Bayern, Sachsen und Württemberg in jedem dieser sieben Ausschüsse, Baden und Hessen je in sechs, Thüringen und Oldenburg je in fünf, Hamburg, Mecklenburg-Schwerin und Braunschweig je in drei, Bremen und Lübeck je in zwei Ausschüssen vertreten. Von allen diesen Ländern kann aber nur Preußen, das etwa 110 Bevollmächtigte und stellvertretende Bevollmächtigte[96] zum Reichsrat ernannt hat, seine Stimmenzahl voll ausnützen. Bayern und Sachsen sind in der Regel nur durch drei, Württemberg, Baden und Hessen durch zwei, alle übrigen nur durch ein Mitglied und daher in entsprechend geringerer Stimmenzahl vertreten. Dadurch hat Preußen ein Übergewicht, das dem Sinne des Art. 62 der Verfassung nicht entsprechen dürfte.

Auch ist nicht einzusehen, aus welchen Gründen der Preußische Bevollmächtigte für Verkehrswesen, für Reichswehrangelegenheiten, für Seewesen u. dgl. bei Beratung des Etats des Reichsministeriums des Innern oder der Justiz stimmberechtigt sein sollten. Eine Änderung dieses Zustandes könnte wohl nur in der Weise versucht werden, daß das Reichsministerium der Finanzen die Haushaltspläne der einzelnen Reichsministerien gesondert vorlegt und jeder dieser einzelnen Etats nur dem v. und dem besonderen Fachausschuß überwiesen wird. Allerdings könnte auch in diesem Falle das Plenum des Reichsrats nicht gehindert werden, abweichend von dem Vorschlage der Reichsregierung sämtliche Etats zusammen doch wieder den sieben Ausschüssen zu überweisen.

2. Bei der Beratung der Etatsentwürfe hat sich neuerdings die Übung gebildet, daß die Mitglieder des Reichsrats, namentlich bei den Anforderungen neuer Stellen, summarisch einen Teil hiervon streichen, ohne selbst angeben zu können, warum gerade diese Zahl gestrichen wurde und in welcher Weise für die fehlenden Stellen ein Ausgleich geschaffen werden solle. Tatsächlich ist vollkommen ausgeschlossen, daß die Reichsratsmitglieder besonders den Betrieb der Ministerien selbst oder größerer Ämter genau genug überblicken, um zutreffend beurteilen zu können, daß hier zwei Regierungsräte oder dort drei Sekretäre entbehrt werden können. Als selbstverständlich darf ferner angenommen werden, daß solche Abstriche nicht auf Instruktionen der Landesregierungen beruhen; denn es ist unmöglich, daß die Regierungen ihre Bevollmächtigten für jeden einzelnen Ansatz des umfangreichen Haushaltsplans und für jede Eventualität, die sich bei der Beratung ergeben hat, mit Weisungen versehen. Die Bevollmächtigten selbst pflegen sich zur Rechtfertigung ihrer Abstriche auf die üble Finanzlage des Reichs und die allgemeine Notwendigkeit von Einsparungen zu berufen, eine Begründung, die mitunter wenig angemessen erscheint, wenn Milliarden bewilligt und einzelne Stellen mit einem Aufwand von wenigen tausend Mark abgelehnt werden, und die die Bevollmächtigten selbst in den Wind zu schlagen pflegen, wenn es sich um noch so große Ausgaben handelt, die den Ländern oder einem bestimmten Lande zu Gute kommen sollen. Man kann sich daher öfters des Eindrucks nicht erwehren, daß solche Abstriche nicht auf wohlerwogenen Entschließungen der Landesregierungen, sondern auf willkürlichen Entschließungen der Mitglieder des Reichsrats beruhen.

3. Abgesehen von dem Eindruck der nicht rein sachlichen Würdigung der Etatssätze gibt dieses Verfahren Veranlassung zu ernsten Bedenken, wenn Forderungen mit politischem Hintergrund in Frage stehen. So wurde im Voranschlage des Reichsministeriums des Innern die Stelle eines Ministerialdirektors als Leiters einer Abteilung für Beamtenrecht vom Reichsrat abgelehnt, obwohl ich in den Sitzungen der Ausschüsse und der Vollversammlung wiederholt dargelegt hatte, daß die Reichsregierung den Vertretungen der Beamtenschaft die[97] Bildung einer solchen Abteilung zugesichert habe und die Vertretungen nur durch diese Zusage von den weitergehenden Forderungen eines eigenen Ministeriums oder eines Staatssekretariats für Beamtenangelegenheiten habe abbringen können. Ich habe Anlaß zu der Annahme, daß die Bevollmächtigten zwischen der Ausschuß- und der Plenarsitzung keine Instruktion eingeholt, sondern diese Angelegenheit von besonderer politischer Bedeutung nach eigenem Ermessen entschieden haben. Die Bevollmächtigten zum Reichsrat haben damit in voller Kenntnis der Tragweite ihrer Beschlüsse der Reichsregierung empfindliche politische Schwierigkeiten bereitet. Es kann der Reichsregierung nicht damit gedient sein, daß die Landesregierungen bei politischen Debatten in den Landesversammlungen oder bei Zusammenkünften in Berlin ihren Willen kundgeben, einmütig mit der Reichsregierung zusammenzuarbeiten, wenn ihre Bevollmächtigten im Reichsrat der Reichsregierung politische Verlegenheiten verursachen. Eine gewisse Erschwerung dieses Zusammenarbeitens liegt allerdings zweifellos in der Verschiedenheit der politischen Zusammensetzung der Reichsregierung und der Landesregierungen. Der Gedanke, der durch Art. 17 Abs. 1 der Reichsverfassung2 verwirklicht werden sollte, daß der Wählerkreis für die Volksvertretungen des Reichs und der Länder der gleiche sein solle und damit eine gewisse Homogenität in der Zusammensetzung der Parlamentsmehrheiten und der Regierungen gewährleiste, gelangt tatsächlich nicht zur Durchführung, wenn zwischen den Wahlen zu den verschiedenen Volksvertretungen größere Zeiträume liegen.

2

Der Art. 17 Abs. 1 der RV lautete: „Jedes Land muß eine freistaatliche Verfassung haben. Die Volksvertretung muß in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von allen reichsdeutschen Männern und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden. Die Landesregierung bedarf des Vertrauens der Volksvertretung.“

4. Der von den Mitgliedern des Reichsrats gern und häufig betonte Gesichtspunkt größter Sparsamkeit wird vollkommen ausgeschaltet, wenn es sich darum handelt, finanzielle Leistungen, die bisher den Ländern oblagen, auf das Reich zu übernehmen oder den Ländern zur Erfüllung ihrer Aufgaben Reichszuschüsse zu bewilligen. Obwohl erfahrungsgemäß der Bedarf für öffentliche Einrichtungen sich wesentlich erhöht, sobald das Reich ihn ganz oder teilweise decken muß, und die Wirtschaftlichkeit eines Verwaltungszweiges, dessen Einrichtungen nicht zu den werbenden zählen, mit der Zentralisation sinkt, tragen die Mitglieder des Reichsrats in solchen Fällen keine Bedenken, die Finanzlage des Reichs weiter zu verschlechtern. Diese Wahrnehmung läßt den Schluß zu, daß die Beweggründe für die Abstriche nicht ausschließlich in dem Bestreben nach Ersparungen zu suchen sind.

5. Die Bestimmung des Art. 85 Abs. 4 der Reichsverfassung, daß der Reichstag im Entwurfe des Haushaltsplans ohne Zustimmung des Reichsrats Ausgaben nicht erhöhen oder neue einsetzen kann, hat eine wesentlich andere Wirkung gehabt, als ursprünglich geplant war. Bei Anregung dieser Bestimmung im Verfassungsausschuß war die Reichsregierung von dem Standpunkt ausgegangen, die Bewilligung von Ausgaben, die sie nicht selbst beantragt hatte, solle möglichst erschwert und deshalb nur zugelassen werden, wenn Reichsregierung,[98] Reichstag und Reichsrat über ihre Einstellung in den Haushaltsplan einig seien. Dagegen haben Mitglieder des Reichsrats bei den jüngsten Etatsberatungen, wie schon in einem ähnlichen Falle am 30. Oktober 1919, diese Verfassungsbestimmung dazu benützt, im Haushaltsplan Ansätze zu streichen, auf deren Bewilligung die Reichsregierung besonderen Wert legte, und haben die Reichsregierung ausdrücklich auf den Weg des Art. 69 der Reichsverfassung verwiesen, wonach die Regierung ihre Vorlage unter Darlegung des abweichenden Standpunktes des Reichsrats beim Reichstage einbringen kann. Während also Art. 85 Abs. 4 ursprünglich als eine Bestimmung zum Schutze der Reichsregierung gegen übermäßige Bewilligungen des Reichstags gedacht war, wendet der Reichsrat die Vorschrift nun an, um der Reichsregierung wünschenswerte Aufwendungen zu versagen und die Möglichkeit ihrer Billigung durch das umständliche Verfahren nach Art. 74 der Verfassung zu erschweren3.

3

Der Art. 74 der RV behandelte das Einspruchsrecht des RR gegenüber vom RT beschlossenen Gesetzen sowie das weitere Verfahren, das nach einem Einspruch des RR anzuwenden war.

Ich gestatte mir daher anzuregen, daß diese Fragen nach Erörterung im Reichsministerium ganz oder teilweise bei der nächsten Zusammenkunft der leitenden Minister der Länder und vielleicht auch schon bei der in Aussicht genommenen Besprechung mit dem Preußischen Kabinett zur Sprache gebracht werden4.

4

Mit Schreiben vom 25.8.1920 und 26.10.1920 schlossen sich auch der RWiM und der RWeM dem vom RIM eingenommenen Standpunkt in dieser Frage an (R 43 I /861 , Bl. 17 u. 33).

Die Sache selbst wurde am 15.9.1920 in einer Chefbesprechung behandelt, doch wurde dabei keine Entscheidung getroffen (R 43 I /861 , Bl. 23–25). Nach mehrmaliger Wiedervorlage wurde der gesamte Vorgang am 22.6.1921 „bis auf weiteres“ zu den Akten gelegt (R 43 I /861 , Bl. 35). Eine weitere Behandlung dieser Angelegenheit läßt sich in R 43 I nicht feststellen.

Die Herren Reichsminister haben Abdruck erhalten.

Koch

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