2.148 (bau1p): Nr. 146 Tagebuchaufzeichnung des Reichsinnenministers Koch über die Kabinettssitzung vom 13. Januar 1920 und die Demonstration vor dem Reichstagsgebäude.

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Das Kabinett BauerKabinett Bauer Bild 183-R00549Spiegelsaal Versailles B 145 Bild-F051656-1395Gustav Noske mit General von Lüttwitz Bild 183-1989-0718-501Hermann EhrhardtBild 146-1971-037-42

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[531] Nr. 146
Tagebuchaufzeichnung des Reichsinnenministers Koch über die Kabinettssitzung vom 13. Januar 1920 und die Demonstration vor dem Reichstagsgebäude1.

1

Zur Begründung des Abdrucks dieser Aufzeichnungen s. Dok. Nr. 143, Anm. 1.

Nachlaß Koch-Weser, Nr. 21, Bl. 25–27 eigenhändig

Also, der Klamauk geht heute los. Die „Freiheit“ fordert auf, vorm Reichstag zu protestieren2. Um 12 Uhr sollen die Arbeiter die Werkstätten verlassen. Nun strömt das Volk schon seit 11½ [Uhr] mit roten Fahnen zum Reichstag. Heine hat zur Absperrung nichts getan, auch nicht durch Anschlag gewarnt. Drinnen berät die Fraktion über Betriebsrätegesetz und allgemeine Politik. […]

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Die USPD, die KPD (Spartakusbund), die diesen Parteien nahestehende Zentrale der Betriebsräte Deutschlands, der sog. Groß-Berliner Vollzugsrat und die Vollversammlung der Berliner Gewerkschaftskommission hatten in den vergangenen Tagen die Arbeiterschaft in Versammlungen und Aufrufen wiederholt zu Protestaktionen gegen die am 13. 1. in der NatVers. geplante 2. Lesung des Betriebsrätegesetzes aufgefordert. Zuletzt waren detaillierte Anweisungen für Massenproteste vor und im RT-Gebäude in den Morgenausgaben der Parteiorgane „Freiheit“ und „Rote Fahne“ vom 13. 1. veröffentlicht worden (vgl. dazu die – einseitige – Darstellung und Textauswahl bei Walter Wimmer: Das Betriebsrätegesetz von 1920 und das Blutbad vor dem Reichstag. Schriftenreihe Beiträge zur Geschichte und Theorie der Arbeiterbewegung, Heft 112, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1957). Die SPD und einzelne Gewerkschaften, denen unterstellt worden war, daß sie die Protest- und Streikaufrufe unterstützten, distanzierten sich von den geplanten Maßnahmen (Vorwärts Nr. 22 und 23 vom 13.1.20).

Nun mache ich aber, daß ich zum Reichskanzler komme. Dort Ebert, Bauer, Schiffer, Noske, Heine, Hirsch, Oeser, Gilsa. Man berät über eine Verordnung gegen Menschen, die mit der Waffe in der Hand im Kampf ergriffen werden. Alle wollen die Verordnung, aber es gibt eine lange Erörterung über die Frage, ob auch Besitzer von Waffen, die im Haus gefunden werden, unter Standrecht gestellt werden sollen, ergibt sich eine lange Erörterung [sic], obwohl die Sache im Augenblick gar keine Eile hat3.

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Als Ergebnis der Beratungen übersendet GehRegR Zweigert am 14. 1. GehRegR Brecht den Entw. einer VO auf Grund Art. 48 Abs. 2 RV, der die sofortige Ablieferung aller Schußwaffen und Munition vorsieht. Verstöße sollen mit dem Tod, Zuchthaus, mindestens aber mit Gefängnis nicht unter einem Jahr bestraft werden. Zur Aburteilung können wie bei den übrigen unter Ausnahmerecht fallenden Straftaten auf Anordnung des RWeM Standgerichte gebildet werden (R 43 I /2699 , Bl. 25–28). Der Entw. soll, wie Brecht dem RK am 15. 1. auf einem Vermerk vorschlägt, „gegebenenfalls“ verwendet werden. Zur Zeit sei eine Inkraftsetzung in Berlin oder im Ruhrgebiet „weder notwendig, noch zweckmäßig“. Außerdem setze der Entw. „die verschärften Ausnahmevorschriften voraus, die in Berlin noch nicht gelten und auch im Ruhrgebiet noch nicht in Kraft sind“ (ebd., Bl. 29).

Ich bitte, zum Wort gelangt, jetzt keine falsche Bescheidenheit zu üben, sondern sich erst darüber zu unterhalten, ob der Reichstag und die Wilhelmstraße geschützt sind, damit wir überhaupt noch weiter tagen müssen [sic]. Immer dieselbe psychologische Erscheinung. Die Leute schämen sich, von Sachen zu sprechen, die ihre Person angehen. Nun atmet alles auf. Noske sagt: „Natürlich, in ½ Stunde kann es zu spät sein.“. Ebert tritt entschieden bei. Es[532] zeigt sich, daß Heine nichts weiß und nichts vorbereitet hat. Er ist ganz leise geworden und läuft wie ein erschrockener Hahn zwischen Stuhl und Telefon nervös umher. Ich schlage vor, daß die Sicherheitswehr die Wilhelmstraße übernimmt. Aber Heine will das nicht abgeben, läßt sich wenigstens etwas instruieren, ist aber so unsicher geworden, daß er sagt, die Wilhelmstraße lasse sich im Norden nicht recht absperren, weil alle Spanischen Reiter in die Reichskanzlei gebracht seien. Wir rufen: „Gibt es denn keine Automobile?“ Alle anderen sind aber ruhig und überlegen4.

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Über den Ablauf und die unter den Teilnehmern dieser Kabinettssitzung herrschende Stimmung geben zwei weitere Aufzeichnungen Aufschluß. RJM Schiffer berichtet in einer undatierten, aber zweifelsfrei auf diesen Tag bezüglichen Tagebuchnotiz: „Als ich vormittags in die Reichskanzlei hinüberging, traf ich bereits Züge von Arbeitern, die sich auf den Reichstag zubewegten. Ich machte davon zu Beginn der Kabinettssitzung Mitteilung, worauf sich Wolfgang Heine, der an ihr teilnahm, sehr beunruhigt sofort in sein Preuß. Innenministerium begab, um von dort aus die nötigen Befehle an die Polizei zu erteilen und sich mit dem Militär in Verbindung zu setzen, um, wenn nötig, die militärische Wache im Reichstag verstärken zu lassen. Ich regte nun an, zunächst einmal festzustellen, wie die Sachlage vor dem Reichstage sei, und zu diesem Zwecke an das Reichstagsbüro zu telefonieren. Der Vorschlag wurde angenommen, und Albert als Chef der Reichskanzlei erhob sich, um an den Fernsprecher zu gehen. Da sprang aber Koch auf, erklärte, daß dies in sein Ressort gehöre, und ging selbst an den Apparat. Dieser Zug eines Zu- und Selbständigkeitsgefühls, das sogar in minutiösesten Dingen bestrebt war, den Rechten des Ressorts nichts zu vergeben, erregte allgemeine Bewunderung und lockte trotz des Ernstes der Stunde ein allgemeines Lächeln herauf“ (Nachl. Schiffer , Nr. 2, Bl. 96). RWeM Noske berichtet, er sei am 13. 1., beunruhigt durch die Nachrichten über die Lage im Reich, vorzeitig von einem Erholungsurlaub nach Berlin zurückgekehrt. Was der PrIM Heine in der Kabinettssitzung über die veranlaßten Sicherungsmaßregeln mitteilte, habe ihn bedenklich gestimmt. Seine Voraussage, „daß entweder die Sitzung der Nationalversammlung unmöglich gemacht oder es zu Blutvergießen kommen würde“, habe sich leider bewahrheitet (s. u. Anm. 6). Wegen der drohenden Gesamtlage im Reich habe er „mit kurzen Darlegungen schärfste Abwehrmaßnahmen beantragt, die auch ohne lange Debatte“ beschlossen worden seien (Gustav Noske: Von Kiel bis Kapp. S. 193). – Zu den „Abwehrmaßregeln“ s. u. Anm. 8.

Also, nun geht es wieder in den Reichstag5.

5

Hier endet die erste Aufzeichnung Kochs vom 13. 1.; der nachfolgende Text findet sich auf einem besonderen Blatt und ist auch auf den 13. 1. datiert.

Das war also der erste Kladderadatsch. Mehrere Tote und Verwundete. Die arme Sicherheitswehr, an der Hauptfront des Reichstags oben auf der Rampe in einer Linie patrouillierend, wurde hier überrannt und entwaffnet. Dann kam es zum Schießen. Die ganze Provokation ging von der Menge aus. Auf ein Haar hätte sie den Reichstag von der Vorderseite gestürmt6. – O, diese jammervollen Vorbereitungen Heines. Jetzt sitzt er in der Ruhehalle[533] auf einem Stuhl und leitet und protokolliert eigenhändig Zeugenaussagen7. Wenn ich nicht veranlaßt hätte, daß die Presse eingeladen wird, einige besonders wichtige Zeugen persönlich zu hören, dann wäre sie überhaupt nicht aufgeklärt worden. – Gut, daß heute wieder Noske ans Ruder kommt, nachdem wir heute vormittag am Schluß der Besprechung beschlossen haben, den Belagerungszustand über Norddeutschl[an]d zu verhängen8.

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Die NatVers. hatte kurz vor 15.30 Uhr mit der 2. Lesung des GesEntw. über die Betriebsräte begonnen. Während der Abg. Schneider den Bericht über die Ausschußberatungen erstattete, wurde bekannt, daß die vor dem RT-Gebäude demonstrierende Menge das Haus zu stürmen versuchte, woraufhin die Unabhängigen die Schließung der Sitzung forderten. Obwohl Präs. Fehrenbach dieses Begehren zunächst ablehnte, empfahl er dann selbst die Vertagung, nachdem festgestellt worden war, daß es bei Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten zahlreiche Tote und Verletzte gegeben habe (NatVers.-Bd. 331, S. 4195  ff.; Schultheß 1920, I, S. 8 f.). Parallel zu diesen Vorgängen konferierte der RK in der Wandelhalle des RR. Rückschauend berichtete der RJM darüber: „Während wir dort saßen, erscholl plötzlich einige Sekunden hindurch ein scharfes Tacken. Es klang, als wenn Teppiche von mehreren Personen geklopft würden. Da es sofort wieder aufhörte, achteten wir nicht weiter darauf, bis einige Abgeordnete herbeistürzten und uns zuriefen, daß die Wache geschossen habe und eine Anzahl Leute gefallen sei“ (Nachl. Schiffer , Nr. 2, Bl. 96).

7

Materialien dazu in: R 43 I /2711 , darunter Aufzeichnungen von GehRegR Brecht und UStS Albert, der selbst in die Tumulte verwickelt worden war.

8

Es handelt sich hier wohl um die „Abwehrmaßregeln“, von denen Noske in der in Anm. 4 zit. Aufzeichnung sprach und die im Ergebnis dazu führten, daß dem RWeM die vollziehende Gewalt über weite Reichsteile übertragen wurde. Im einzelnen gehörten dazu 1. die VO des RPräs. aufgrund Art. 48 Abs. 2 RV betr. „die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Reichsgebiete mit Ausnahme von Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden und der von ihnen umschlossenen Gebiete nötigen Maßnahmen“ vom 13.1.20 (R 43 I /2699 , Bl. 30–33; RGBl. S. 207 ) und 2. die Verschärfung dieser seit dem 11. 1. bereits über das rheinisch-westfälische Industriegebiet verhängten Ausnahmevorschriften durch die VO des RPräs. aufgrund Art. 48 Abs. 2 RV betr. „die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in den Regierungsbezirken Düsseldorf, Arnsberg, Münster und Minden nötigen weiteren Maßnahmen“ vom 13.1.20. Auf dem Entw. dieser zweiten, die Verhängung des verschärften Ausnahmezustands regelnden VO vermerkte GehRegR Brecht, die VO sei dem Militärbefehlshaber des Industriegebiets, Gen. von Watter, zur „Veröffentlichung, wenn es nötig wird, übermittelt“ worden (R 43 I /2715 , Bl. 9; vgl. dazu im gleichen Sinne das Schreiben des RWeM an das Reichswehrgruppenkommando 2 vom 13.1.20; ebd., Bl. 13). Den Text der VO teilt der RWeM erst am 14. 2. dem Präs. der NatVers. unter Hinweis darauf mit, daß die VO mit Einverständnis des RPräs. „bisher nur im Regierungsbezirk Düsseldorf ortsüblich bekanntgemacht und für diesen Bezirk in Kraft getreten“ sei (NatVers.-Bd. 341 , Drucks. Nr. 2131 ). – Naturgemäß bleiben beide VOen nicht unwidersprochen (Materialien dazu in: R 43  I /2699  und 2711 ; vgl. auch Dok. Nr. 150).

Also wieder ein Tag voll Lärm und Aufregung statt Arbeit. Wie lange das Reich diese Fieberschauer noch aushält? […]

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