1.179.1 (ma32p): Politische Lage.

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Die Kabinette Marx III und IVDas Kabinett Marx IV Bild 146-2004-0143Chamberlain, Vandervelde, Briand und Stresemann Bild 102-08491Stresemann an den Völkerbund Bild 102-03141Groener und Geßler Bild 102-05351

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Politische Lage.

Der Abgeordnete Graf Westarp (D.N.V.P.) erklärte, daß mit dem Scheitern des Schulgesetzes eine der wichtigsten Gesetzesvorlagen der Koalition gescheitert sei.

Der Abgeordnete v. Guérard (Zentrum) wies auf die ausdrückliche Feststellung hin, daß das Schulgesetz gescheitert sei. Damit sei nach Auffassung des Zentrums die Koalition gelöst1. Wenn überhaupt eine Weiterarbeit in Frage komme, müsse beschleunigt die Form der Weiterarbeit und der Umfang der zu erledigenden Aufgaben geklärt werden. Nach Auflösung der Koalition habe naturgemäß auch der Interfraktionelle Ausschuß keine Daseinsberechtigung mehr. Zur Erledigung der dringendsten Aufgaben sei das Zentrum bereit, es wünsche infolgedessen nicht sofortige Neuwahlen. Voraussetzung für die Bereitschaft des Zentrums sei aber die möglichst beschleunigte Durchführung des noch zu erledigenden Programms bis zum 1. April 1928 und fernerhin die Bereitschaft des Reichspräsidenten, dann auch den Reichstag aufzulösen. Naturgemäß sei eine Kontingentierung der Arbeiten im Plenum und in den Ausschüssen des Reichstags nötig. Man müsse auch überlegen, was dann geschehen solle, wenn der Etat nicht verabschiedet werde. Nach seiner Ansicht müsse der Reichspräsident auch dann den Reichstag auflösen. Unmöglich sei es, die Wahlen bis zum Herbst zu verschieben2.

1

Zu den vorangegangenen Beratungen der Zentrumsfraktion siehe: Morsey, Zentrumsprotokolle, Dok. Nr. 241–243.

2

Am 13.2.28 hatte StS Pünder an Stresemann (z. Zt. in Cap Martin bei Mentone) telegrafiert: Er (Pünder) rechne mit dem Scheitern der Kompromißverhandlungen über das Schulgesetz am 14. 2. abends. „Politische Folgerungen hieraus noch nicht ganz klar. Persönlich vermute und setze mich dafür ein, daß sofortiger völliger Bruch verhindert und Etat mit allen Begleitgesetzen einschließlich Kriegsschädenschlußgesetz noch erledigt wird. Auch in diesem günstigsten Falle gewisse gegeneinander gerichtete offiziöse Erklärungen Koalitionsparteien kaum vermeidbar. Abschluß parlamentarischer Arbeiten dann für Ende März anzunehmen und Neuwahltermin Ende April oder Anfang Mai. Hierüber mit Meissner einer Meinung.“ (R 43 I /677 , Bl. 176).

[1311] Was den Umfang der noch zu leistenden Arbeiten anlange, so denke er vor allem an den Etat 1928 und an den Nachtragsetat 1927. Er sei auch bereit, eventuell das Kriegsschädenschlußgesetz mit zu erledigen. Ausgeschlossen sein müsse z. B. das Strafgesetzbuch und die Dienststrafordnung. Hierzu müsse jedoch das Kabinett noch abschließend Stellung nehmen.

Der Abgeordnete Dr. Scholz erklärt, die Deutsche Volkspartei sei nicht der Auffassung, daß das Schulgesetz den alleinigen Inhalt der Koalition gebildet habe und daß nach den Richtlinien3 und nach dem Regierungsprogramm4 der Koalition auch andere, nicht minder wichtige Aufgaben gestellt worden seien. Die Erklärungen des Abgeordneten von Guérard über Auflösung der Koalition nehme er zur Kenntnis. Nach Auffassung der Deutschen Volkspartei müßten auf jeden Fall der Etat und der Nachtragsetat sowie die Kleinrentnerfrage geregelt werden. Auch die Reform des Strafgesetzbuches dürfe nicht völlig unter den Tisch fallen.

3

Siehe dazu Dok. Nr. 417, Anm. 3.

4

Regierungserklärung des Kabinetts Marx IV, von RK Marx in der RT-Sitzung vom 3.2.27 abgegeben (RT-Bd. 391, S. 8791  ff.).

Zur Zeit befinde man sich gewissermaßen vor einer Auflösung des Reichstags mit Zeitzündung.

Der Abgeordnete Leicht (Bayer. Volkspartei) erklärte, daß das Schulgesetz eine besonders wichtige Aufgabe der Koalition gebildet habe. Seine Fraktion sehe die Koalition gleichfalls als gelöst an. Er persönlich sei jedoch bereit, in seiner Fraktion für die Erledigung bestimmter Aufgaben einzutreten.

Der Abgeordnete Graf Westarp erklärte nunmehr gleichfalls, daß nach Auffassung der Deutschnationalen Volkspartei die Koalition gelöst sei. Für einen Neuwahltermin könne er zur Zeit keine bestimmten Vorschläge machen. Was das Notprogramm der Regierung anlange, so wolle er nur darauf hinweisen, daß zum Etat auch noch einige besonders wichtige sachliche Gesetze gehörten.

Wegen des Schulgesetzes solle vielleicht noch eine Sitzung des Bildungsausschusses stattfinden, um den Bericht festzustellen. Jedenfalls solle man das Gesetz in dem jetzigen Stadium belassen.

Der Abgeordnete v. Guérard wies darauf hin, daß zur Durchführung des den Parteien der bisherigen Koalition vorschwebenden Arbeitsprogramms eine gewisse Fühlungnahme mit der Opposition erforderlich sei.

Der Stellvertreter des Reichskanzlers führte aus, daß das Reichskabinett sich bis jetzt in der Debatte bewußt zurückgehalten habe. Das Kabinett werde sich alsbald mit der jetzigen Sachlage befassen und seine Stellungnahme den Parteien der bisherigen Koalition mitteilen.

Der Abgeordnete Leicht wies darauf hin, daß wegen der Erledigung des Etats verschiedene Fragen entständen, vor allem die Frage, ob der Etat in seiner jetzt vorliegenden Form von der Reichsregierung weiter vertreten werde.

Der Reichsarbeitsminister erklärte das als notwendig und führte im übrigen aus, daß der Etat nach Art eines Notetats verabschiedet werden müsse. Es[1312] dürfe keine zügellose Freiheit für die Parteien der bisherigen Koalition mit Bezug auf Stellung von Anträgen bestehen.

Auch der Reichspostminister erklärte, daß gewisse Kautelen bei der Verabschiedung des Etats geschaffen werden müßten.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft betonte besonders, daß kein Vakuum in den Hilfsmaßnahmen für die Landwirtschaft eintreten dürfe.

Der Abgeordnete Esser (Zentrum) führte aus, daß das Experiment schwerfallen würde. Über die Hilfsmaßnahmen für die Landwirtschaft sei man sich nach seiner Auffassung im Kreise der ehemaligen Regierungsparteien im wesentlichen einig. Notwendig sei vor allem eine Fühlungnahme der Reichsregierung mit der Opposition.

Der Abgeordnete Stegerwald (Zentrum) führte aus, daß er der weiteren Entwicklung sehr skeptisch gegenüberstehe. Die Reichsregierung müsse mit dem Ältestenrat und mit der Opposition über die Kontingentierung des Etats Fühlung nehmen.

Der Abgeordnete Graf Westarp (Deutschnat. Volkspart.) stimmte dem Gedanken einer Fühlungnahme mit der Opposition zu. Mit Rücksicht auf die bevorstehenden Lohnkämpfe und auf die Interessen der Landwirtschaft erklärte er einen Wahltermin im April oder Mai für kaum möglich.

Der Abgeordnete von Guérard (Zentrum) erklärte Neuwahlen im Mai, und zwar vielleicht am besten am 13. oder 20. Mai für notwendig. Die Wahlen könnten vielleicht jetzt schon vom Reichsministerium des Innern vorbereitet werden.

Die Sitzung wurde sodann geschlossen5.

5

Zu dieser Sitzung und den folgenden Verhandlungen über ein „Arbeitsprogramm“ vgl. auch die Aufzeichnung Pünders vom 10.3.28 „Kurze geschichtliche Darstellung der letzten Verhandlungen über das Reichsschulgesetz und (nach seinem Scheitern) des Zustandekommens des Arbeitsnotprogramms“ (Nachl. Pünder , Nr. 118).

Der Stellvertreter des Reichskanzlers führte aus, daß er den Parteien die Stellungnahme des Reichskabinetts wahrscheinlich noch an demselben Tage 6 Uhr nachmittags mitteilen werde6.

6

Siehe Dok. Nr. 422 und 423.

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