2.215 (feh1p): Nr. 215 Der Reichskanzler an den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund. 23. März 1921

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Nr. 215
Der Reichskanzler an den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund. 23. März 19211

1

Es handelt sich hier um die Antwort der RReg. auf das Schreiben des ADGB vom 26.2.1921; s. Dok. Nr. 184.

R 43 I /2026 , Bl. 87–90 Durchschrift

[Betrifft: Maßnahmen zur Behebung der Arbeitslosigkeit]

Die Reichsregierung wendet der großen Arbeitslosigkeit, die seit dem Ende des Krieges das deutsche Wirtschaftsleben belastet, die ernsteste Aufmerksamkeit zu. Sie hat sich nicht darauf beschränkt, den Erwerbslosen durch öffentliche Unterstützungen den notwendigsten Lebensunterhalt zu gewähren in dem Ausmaß, in dem es die finanzielle Lage des Reiches, der Länder und der Gemeinden gestattet. Sie hat es vielmehr in erster Linie als ihre Aufgabe angesehen, auf jedem gangbaren Weg den Arbeitslosen Arbeit zu beschaffen, weil auch nach ihrer Auffassung die zerstörenden moralischen und volkswirtschaftlichen Folgen der Arbeitslosigkeit nicht ernst genug beurteilt werden können.

[600] Von der Milliarde Mark an Reichsmitteln, die im Rechnungsjahr 1920 für die Erwerbslosenfürsorge aufgewendet worden sind, sind etwa 400 Millionen Mark in der Form der produktiven Erwerbslosenfürsorge2 ausgegeben worden. Diese Summe erhöht sich durch den Anteil, den die Länder und die Gemeinden hinzuzuschießen haben auf das doppelte. Auch in dem nun beginnenden Rechnungsjahr sollen, ganz in Übereinstimmung mit Ihrer ersten Forderung, öffentliche Arbeiten in weitestem Umfange in Angriff genommen werden. Ich darf auf die Haushaltspläne des Reichsverkehrs-, des Reichspostministeriums, des Reichsschatzministeriums u. a. M. verweisen, die soeben von dem Reichstage angenommen worden sind. Danach haben fast alle Ressorts größere Mittel schon für das Rechnungsjahr 1921 zur Verfügung, die mittelbar insbesondere auch zur Belebung der Bautätigkeit beitragen werden3.

2

Zur „produktiven Erwerbslosenfürsorge“ s. Dok. Nr. 80, Anm. 9.

3

Die Haushaltspläne des RVMin., des RPMin. und des RSchMin. waren am 19.3.1921 im RT angenommen worden. Sie enthielten umfangreiche Ausgaben für Baumaßnahmen.

Zu den einzelnen Haushalten s. RT-Drucks. Nr. 1563, Bd. 365 , Anlage X, XI und XVIII.

Es entspricht den Beschlüssen der Reichsregierung, daß bei der Vergebung dieser Aufträge die Bezirke, die von der größten Arbeitslosigkeit betroffen sind, in erster Linie berücksichtigt werden sollen, soweit das mit dem wirtschaftlichen Zweck des einzelnen Auftrages vereinbar ist. Ob die Unternehmer, die die Aufträge erhalten, verpflichtet werden können, Arbeitslose einzustellen, und ob zu diesem Zwecke eine verkürzte Arbeitszeit mit mehreren Schichten von Arbeitnehmern vorzuschreiben ist, wird von dem Ergebnis einer Durchprüfung abhängen, die die zuständigen Minister bereits eingeleitet haben. Das Nähere über dieses Vorgehen ist Ihnen bekannt, da Ihre Vertreter dem paritätischen Ausschusse angehören, der zu diesem Zweck zunächst im Reichsverkehrsministerium gebildet worden ist4. Diesem Ausschusse wird es auch obliegen zu entscheiden, ob die vorhandenen Betriebe einzelner Industriezweige nicht ausreichen, bestimmte Arten der verfügbaren Aufträge allein auszuführen, und ob die Aufträge deshalb an geeignete andere Betriebe vergeben werden können. Die Reichsregierung sieht es als ihre selbstverständliche Pflicht an, den Unternehmergewinn, der durch die öffentlichen Aufträge entsteht, auf ein Mindestmaß zu begrenzen, das den Verhältnissen und insbesondere der finanziellen Lage des Reiches angemessen ist. Was die Entlohnung der Arbeitnehmer anlangt, so wird bei öffentlichen Aufträgen, die durch private Unternehmer ausgeführt werden, eine Verletzung der Tarife nicht in Frage kommen können. Zu der grundsätzlichen Erörterung aller dieser Fragen sind, wie schon oben erwähnt wurde, jetzt bereits die Vertreter der Gewerkschaften zugezogen worden. In diesem Sinne soll auch weiter verfahren werden.

4

Über diese paritätischen Ausschüsse war in R 43 I nichts zu ermitteln.

Soviel zu den ersten fünf Punkten Ihres Schreibens vom 26. Februar. Unter Ziffer 6 verlangen Sie, daß, wo es auf keinem anderen Wege möglich ist, den Arbeitslosen Beschäftigung zu verschaffen, allgemein also auch für private Aufträge, die Arbeitszeit der Vollbeschäftigten verkürzt und, nach Möglichkeit, Schichtwechsel eingeführt wird. Die Opferwilligkeit, die die vollbeschäftigten[601] Arbeiter mit diesem Anerbieten zugunsten der Arbeitslosen erweisen, ist warm zu begrüßen. Zu bedenken ist freilich, daß die Verkürzung der Arbeitszeit und die Einführung des Schichtwechsels die allgemeinen Unkosten der Produktion wesentlich erhöhen würden und daß diese Maßnahmen auch technisch zweifellos nicht in allen Industrien und Betrieben durchführbar sind. Der Herr Reichsarbeitsminister hat, wie Sie wissen, die Frage schon vor einigen Wochen mit den Vertretungen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer durchsprechen lassen. Die Aussprache hat zu dem Ergebnis geführt, daß die technische und wirtschaftliche Möglichkeit der Arbeitsstreckung für die einzelnen Industrien besonders durchgeprüft werden muß. Die Durchprüfung soll in paritätischen Ausschüssen geschehen, um deren Bildung die zentralen Arbeitsgemeinschaften gebeten worden sind; ein Fragebogen, der als Grundlage für die Durchprüfung dient, ist ausgearbeitet und den Arbeitsgemeinschaften übermittelt worden5. Die Reichsregierung hofft bestimmt, daß auf diesem Wege volle Klarheit über die schwierigen Fragen der Arbeitsstreckung und der Schichtvermehrung gefunden werden kann. Sie glaubt jedenfalls insoweit ihre Entschließungen zurückstellen zu müssen, bis die Ergebnisse der paritätischen Durch[prüfung] vorliegen.

5

Bereits am 18.3.1921 hatte sich der RArbM in dieser Angelegenheit an die Zentralarbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Dtlds. und an die Zentralarbeitsgemeinschaft für Transport gewandt (R 43 I /2026 , Bl. 105–106). Das Muster eines solchen Fragebogens findet sich in R 43 I /2026 , Bl. 110–111.

Bis dahin wird auch die Frage zurückgestellt werden müssen, ob die Unterstützung der Kurzarbeiter in der Art der Ziffer 7 des Schreibens umgestaltet werden kann. Denn es wird sich dann erst beurteilen lassen, wie groß die neue Belastung ist, die das Wirtschaftsleben und die öffentlichen Verbände tragen sollen. Unabhängig davon soll die Frage geprüft werden, ob es möglich ist, der Kurzarbeiterunterstützung in ihrer gegenwärtigen Form stärkere Wirkungen zu verleihen als bisher.

In Ihrem Schreiben kommt ferner die Auffassung zum Ausdruck, daß die Belebung des Baugewerbes von besonderem Wert für die Beseitigung der Arbeitslosigkeit ist. Die Reichsregierung weiß sich in dieser Auffassung mit Ihnen einig. Es wird auch Ihnen bekannt sein, daß schon in der Zeit von 1918 bis 1920 allein aus Reichsmitteln nicht weniger als 1 630 000 000 Mark zur Unterstützung des allgemeinen Wohnungsbaues und 300 000 000 Mark zur Unterstützung von Bergmannswohnungen aufgewendet worden sind. Zusammen mit den Zuschüssen, die Länder und Gemeinden für den Wohnungsbau aufgewendet haben, und mit dem Ertrage der Kohlenabgabe, die für den Bau von Bergmannswohnungen herangezogen worden ist6, sind bis 1920 insgesamt mehr als 4¼ Milliarden Mark öffentliche Mittel für den Wohnungsbau aufgewendet worden. Der Betrag, der im Haushaltsjahr 1921 dem Wohnungsbau dienen soll, ist nur um ein weniges geringer. Es werden je 1½ Milliarden für allgemeine Wohnungsbauten und für Bergmannswohnungen und daneben weitere 700 Millionen Mark aus der Kohlenabgabe angesetzt werden, so daß also[602] 3,7 Milliarden für den Wohnungsbau bereitstehen. Tatsächlich setzt, wie auch Ihnen bekannt sein dürfte, die Bautätigkeit in diesem Frühjahr mit Lebhaftigkeit ein.

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Zum Bau von Bergmannswohnungen s. Dok. Nr. 164, Anm. 4.

Die Reichsregierung ist entschlossen, ebenso wie die Bautätigkeit auch jede andere Form der produktiven Erwerbslosenfürsorge nachdrücklich zu fördern, und sie glaubt feststellen zu können, daß ihre Bemühungen schon bisher nicht ohne Erfolg geblieben sind. Noch immer ist die Zahl der Arbeitslosen7, so bedauerlich sie auch angewachsen ist, geringer als die Ziffern, die andere Länder aufweisen, und das Zeitmaß, in dem die Ziffer wächst, ist, wie die Berichte der Landesarbeitsämter erkennen lassen, durch die Maßnahmen der Reichsregierung zweifellos wesentlich verlangsamt worden. Freilich ist nicht damit zu rechnen, daß die Maßnahmen irgendeiner Regierung die Arbeitslosigkeit in Deutschland beseitigen können. Das kann nur erreicht werden, wenn die Weltwirtschaft als Ganzes gesundet und wenn der deutschen Volkswirtschaft die Möglichkeit gegeben wird, zu dieser Gesundung der Weltwirtschaft mit ihren besten Kräften beizutragen.

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Die Zahl der unterstützten Erwerbslosen betrug in Dtld. im Januar 1921 insgesamt 410 238, im Februar 423 164 und im März 426 600. Diese Zahlen umfaßten lediglich die nach der VO über Erwerbslosenfürsorge unterstützten Personen. Die Gesamtzahl der Erwerbslosen war bedeutend höher (Stat. Jb. für das Dt. Reich, Bd. 42, 1921/22, S. 446/47).

Wenn somit trotz aller Bemühungen um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die die Reichsregierung mit vollem Nachdruck fortzusetzen gedenkt, auch weiterhin mit einer umfangreichen Arbeitslosigkeit in Deutschland gerechnet werden muß, so muß es die Reichsregierung doch zu ihrem Bedauern ablehnen, eine Erhöhung der laufenden Erwerbslosenunterstützung zu gewähren. Die Reichsregierung verkennt die schwere Notlage nicht, in der sich ein großer Bruchteil der Arbeitslosen befindet. Sie hat sich gerade jetzt entschlossen, dieser Notlage dadurch Rechnung zu tragen, daß sie die Wintersätze der Erwerbslosen, die nur für die Zeit bis zum 31. März d. J. festgestzt waren, zunächst bis zum 1. Mai fortgewährt, obgleich sich unverkennbar die Kosten der Lebenshaltung in den letzten Wochen nicht unwesentlich gesenkt haben8. Weiter glaubt die Reichsregierung nicht gehen zu können, wenn sie die finanzielle Lage des Reiches, der Länder und der Gemeinden pflichtmäßig würdigt. Der Weg, auf dem den Erwerbslosen in Fällen besonderer Bedürftigkeit über das gesetzliche Maß geholfen werden kann, ist nur der Weg der Wohlfahrtspflege, mag sie nun von öffentlichen oder von gemeinnützigen Verbänden geübt werden. Auf diesem Wege wird sich auch die Schulspeisung unbemittelter Kinder durchführen lassen, wie das tatsächlich heute schon an vielen Orten, nicht zuletzt dank der hochherzigen Hilfe ausländischer Freunde, geschieht.

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Zu den Sätzen der Erwerbslosenfürsorge s. Dok. Nr. 184, Anm. 2.

Die Einhebung der Besitzsteuern ist in vollem Gange. Die Novelle zum Reichsnotopfer ist vor Weihnachten unter großen politischen Schwierigkeiten im Reichstag verabschiedet worden9. Ein Teil wird sofort eingehoben. Die in Betracht kommenden Arbeiten werden binnen kurzem beendet sein. Im[603] übrigen steht der Herr Reichsminister der Finanzen in diesen Fragen für eine besondere Besprechung zu Ihrer Verfügung.

9

Zum Reichsnotopfer s. Dok. Nr. 103 und Dok. Nr. 130, P. 9.

gez. Fehrenbach

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