2.53 (feh1p): Nr. 53 Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft an den Vorstand des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. 18. August 1920

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Nr. 53
Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft an den Vorstand des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. 18. August 1920

R 43 I /1257 , Bl. 104–107 Durchschrift1

[Betrifft: Maßnahmen zur Verbesserung der Ernährungslage]

Mit dem Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund stimme ich darin überein, daß die fortgesetzte Steigerung der Kosten des Lebensbedarfs die Notlage der großen Masse der Bevölkerung in bedenklicher Weise verschärft und große wirtschaftliche und politische Gefahren mit sich bringt. Bereits bei verschiedenen Gelegenheiten habe ich betont, daß die Verbesserung und Verbilligung der Lebenshaltung die Voraussetzung für die Wiederherstellung gesunder Wirtschaftsverhältnisse ist, weil davon die Arbeitslust und die Arbeitsleistung der[126] Bevölkerung in besonderem Maße bedingt wird. Daher betrachte ich es als meine vornehmste Aufgabe, dem Volke sobald wie möglich wieder eine ausreichende Ernährung zu erschwinglichen Preisen zu sichern. Dieses Ziel muß in der Hauptsache durch planmäßige Hebung der landwirtschaftlichen Erzeugung erreicht werden.

In der nächsten Zukunft werden wir allerdings selbst für den dringendsten Nahrungsbedarf noch auf eine erhebliche Einfuhr angewiesen sein. Doch ist dies ein Notbehelf, der die deutsche Volkswirtschaft auf das schwerste belastet.

Auf die Dauer ist eine Besserung der Ernährungsverhältnisse nur möglich durch Steigerung der Leistungsfähigkeit der einheimischen Landwirtschaft, von der unsere Lebensmittelversorgung in erster Linie abhängt. Um die Produktivkräfte des Bodens, der durch den jahrelang betriebenen Raubbau verarmt ist, wiederherzustellen, genügen nicht allein technische Maßnahmen wie z. B. die Steigerung der Stickstoffdüngerproduktion; es bedarf dazu auch einer verständnisvollen Berücksichtigung der sonstigen Bedingungen der landwirtschaftlichen Betriebsführung. Die zum Teil unbefriedigenden Ergebnisse der Zwangswirtschaft beruhen nicht allein auf den allgemeinen Schwierigkeiten der öffentlichen Bewirtschaftung, sondern auch teilweise auf der falschen Behandlung der Landwirte. In der Landwirtschaft herrscht eine unendliche Mannigfaltigkeit der Betriebsformen, die auf natürlichen Bedingungen und Verhältnissen beruht; dieser Verschiedenartigkeit der landwirtschaftlichen Betriebe können allgemeine staatliche Vorschriften niemals vollkommen gerecht werden. Soweit es mit der Sicherung der Volksernährung vereinbar ist, muß daher dem Landwirt wieder eine größere Bewegungsfreiheit gewährt werden, damit er seine Produktion nach seinen besonderen Verhältnissen und Bedürfnissen einrichten kann.

Ferner ist es notwendig, die Preise der landwirtschaftlichen Erzeugnisse mit den Produktionskosten in Einklang zu bringen. Im Laufe der letzten Jahre sind die Preise aller Betriebsmittel, wie besonders der Kohlen, der Maschinen und Geräte und der künstlichen Düngemittel, nicht minder aber auch die Preise der persönlichen Bedarfsartikel und ferner die landwirtschaftlichen Arbeitslöhne in einer Weise gestiegen, daß ein großes Mißverhältnis zwischen den behördlich festgesetzten Preisen der noch der öffentlichen Bewirtschaftung unterliegenden landwirtschaftlichen Erzeugnisse und den Produktionskosten eingetreten ist. Hierin liegt die ungeheure Gefahr einer Extensivierung der Landwirtschaft. Gerade gegenwärtig wird mit Besorgnis die Zurückhaltung der Landwirte bei Beschaffung von künstlichen Düngemitteln für die Herbstbestellung beobachtet, die darauf zurückzuführen ist, daß den Landwirten die jetzigen Düngemittelpreise im Verhältnis zu ihrem Betriebskapital oder zu den Preisen der landwirtschaftlichen Erzeugnisse zu hoch erscheinen. Dies beeinträchtigt die Wirkung des nach Überwindung großer Schwierigkeiten erzielten erfreulichen Aufschwungs der Stickstoffproduktion, und es wäre auf die Dauer verhängnisvoll und unerträglich, wenn die erzeugten Mengen nicht von den Werken abgefahren werden könnten, weil die Landwirte die Preise nicht anlegen können, während die Äcker wegen ungenügender Nährstoffzufuhr immer geringere Erträge abwerfen und dadurch die Volksernährung weiter verschlechtert und verteuert wird. Bei dem niedrigen Stande unseres Geldwertes belastet der Ankauf ausländischer[127] Nahrungsmittel die Verbraucher viel stärker als die Bewilligung ausreichender Preise an die deutschen Landwirte zur Steigerung der einheimischen Ernten. Dazu kommt der weitere allgemeine Umstand, daß der Wiederaufbau unserer gesamten Volkswirtschaft unmöglich ist, wenn nicht in einer gesunden, kräftigen Landwirtschaft die Grundlage dafür geschaffen wird.

Was im besonderen den Abbau der Preise anbelangt, so können Eingriffe der Behörden in die Preisgestaltung auf dem Gebiete des Ernährungswesens wohl Auswüchse beseitigen, aber eine nachhaltige Verbilligung nicht oder nur in geringem Grade herbeiführen. Auf dem Irrtum, durch Zwangsmaßregeln allein schon eine Verbesserung der Volksversorgung herbeiführen zu können, beruht zum großen Teil die Schwächung des Ansehens der Staatsbehörden in der Landbevölkerung, weil ungenügende Preise für die amtlich bewirtschafteten landwirtschaftlichen Erzeugnisse und übermäßige Beschränkungen im Betrieb auch einsichtige Landwirte zur Übertretung der staatlichen Vorschriften und zur Begünstigung des Schleichhandels verleiten können. Eine Besserung der Produktions- und Ablieferungswilligkeit der Landwirte ist nur zu erwarten, wenn auf berechtigte Wünsche der Landwirtschaft nach Möglichkeit Rücksicht genommen wird. Diese Einsicht dringt mehr und mehr auch in Verbraucherkreisen durch, wie die neuesten Kundgebungen bedeutender Konsumvereinsorganisationen beweisen. Der zunehmende Widerstand, den in erster Linie die Erzeuger und der Handel, aber auch eine wachsende Zahl von Verbrauchern der Durchführung der Zwangswirtschaft entgegensetzen, ist eine Mahnung, die staatlichen Machtmittel nur für solche Zwecke einzusetzen, die einem unbedingten Bedürfnis entsprechen und nicht mit den wirtschaftlichen Tatsachen in Widerspruch stehen.

Eine zielbewußt auf die Produktionsförderung eingestellte Preispolitik bedeutet keineswegs die Preisgabe der Fürsorgepflicht, welche der Staat gegenüber der großen Masse der Bevölkerung zu erfüllen hat. Aus voller Überzeugung erkläre ich, daß für diejenigen Lebensmittel, welche die Grundlage der Ernährung bilden oder für besonders fürsorgebedürftige Volksteile unbedingt notwendig sind, wie Brotgetreide, Milch usw., eine behördliche Regelung der Preise und des Verbrauchs noch nicht entbehrt werden kann, weil sonst die Versorgung der Bevölkerung gefährdet ist. Es ist dabei im Hinblick auf die stark gestiegenen Produktionskosten der Landwirtschaft unumgänglich gewesen, den Landwirten für das kommende Wirtschaftsjahr höhere Preise für das abgelieferte Getreide zu bewilligen2. Gerade für die Sicherung und Besserung unserer Volksernährung war diese Erhöhung unbedingt erforderlich. Selbstverständlich muß darauf hingewirkt werden, daß die bisherige Preissteigerung nicht dauernd weitergeht, da die Leistungsfähigkeit der großen Masse der Bevölkerung nicht mit der zunehmenden Teuerung Schritt halten kann. Aber wie immer betont werden muß, die erste Sorge unter den gegenwärtigen Verhältnissen ist die Vermehrung der Produktion, und diese kann nur erfolgen, wenn den Landwirten Preise gezahlt werden, die ihren Produktionskosten entsprechen.

[128] Es gibt aber viele Gebiete, auf denen die öffentliche Bewirtschaftung keinen Vorteil für die Bevölkerung mehr darstellt. Hier muß sie so schnell wie möglich abgebaut werden, und diesen Abbau der Kriegsgesellschaften3 werde ich planmäßig, aber mit der größtmöglichsten Beschleunigung durchführen.

Wer die gegenwärtige Ernährungslage ohne Voreingenommenheit prüft, muß anerkennen, daß für zahlreiche Zweige der Ernährungswirtschaft, welche bisher noch mehr oder weniger zentral geregelt waren, die Wiederherstellung des freien Verkehrs eine Erleichterung der Lebensmittelversorgung bringen wird. Während des Krieges und in der ersten Zeit nach seiner Beendigung rechtfertigte sich die straffe Regelung des gesamten Nahrungsmittelverkehrs durch die feindliche Blockade, welche uns zum strengsten Haushalten mit unseren inländischen Vorräten zwang und auf den wenigen uns zugänglichen neutralen Märkten einen zentralen Einkauf nötig machte, um eine übermäßige Steigerung der Preise durch den Wettbewerb einer großen Zahl von Einkäufern zu verhindern. Unter solchen Verhältnissen war eine weitgehende Zwangswirtschaft unentbehrlich. Diese Gründe gelten aber jetzt für eine Reihe von Nahrungsmitteln nicht mehr, da uns der gesamte Weltmarkt wieder offensteht, auf dem der Kaufmann infolge seiner Fachkenntnisse und seiner Geschäftsbeziehungen meistens viel besser einkaufen kann als eine amtliche Stelle. Die in der letzten Zeit von mir zugelassene unbehinderte Einfuhr von Gemüse und Obst, frischen Fischen, Käse und Eiern wird durch Vermehrung des Angebots eine reichlichere und mit der Zeit auch billigere Versorgung der Verbraucher herbeiführen. Für den Wiederaufbau unserer Viehzucht und damit auch für die Besserung unserer Fleisch- und Milchversorgung wird die bereits verfügte Freigabe der Futtermitteleinfuhr von großer Bedeutung sein4. Auch auf dem Gebiete der Fettwirtschaft, über deren Neuregelung Verhandlungen schweben, wird sich vielleicht eine freiere Gestaltung der Einfuhr empfehlen. Selbstverständlich wird es auch weiterhin Aufgabe der Regierung sein, die Entwicklung dieses freien Handels wachsamen Auges zu beobachten und etwa eintretenden unberechtigten Preissteigerungen durch geeignete Maßregeln entgegenzutreten.

Bei all diesen Fragen handelt es sich um die Wiederherstellung unserer Volkskraft und damit um die wichtigste Voraussetzung für die Sicherung unserer Zukunft, sie dürfen daher nicht nach den Rücksichten des Tages beurteilt werden. Zu ihrer Lösung bedarf es vielmehr eines großen, einheitlichen Planes, der die Hebung der einheimischen Produktion als Hauptziel erstrebt, für die unmittelbare Sicherung einer ausreichenden Volksernährung aber durch eine zweckmäßige Regelung des inländischen Nahrungsmittelverkehrs und Beschaffung des durch die einheimische Erzeugung nicht gedeckten Bedarfs auf dem Wege der Einfuhr Sorge tragen muß. Hierbei darf auch der Umstand nicht hindernd in den Weg treten, daß verschiedene Kriegsgesellschaften zur Zeit des[129] ungünstigsten Valutastandes große Vorräte eingekauft haben, die heute nur mit Verlust zu verwerten sind; sonst würde zum Nachteil unserer Volksernährung die Ausnützung der günstigeren Bezugsmöglichkeiten künstlich verhindert. Dies wäre bei der ungenügenden Ernährung unseres Volkes nicht zu verantworten. Auch die Bedenken wegen einer Verschlechterung der Valuta dürfen gegenüber der Dringlichkeit der Beschaffung wertvollerer und reichlicherer Nahrungsmittel nicht den Ausschlag geben. Letzten Endes wird der Stand der Valuta doch von dem gesamten Zustand unserer Volkswirtschaft, also vor allem von der Arbeitslust und der Arbeitskraft unseres Volkes entscheidender beeinflußt als von der bloßen Höhe der Einfuhr. Bessere Ernährung fördert die Produktion und damit die Ausfuhr; sie trägt also selbst zur Beschaffung der Zahlungsmittel bei, deren wir für die verstärkte Einfuhr ausländischer Lebensmittel bedürfen.

Bemerken möchte ich zum Schluß, daß ich, soweit eine öffentliche Lebensmittelbewirtschaftung noch erforderlich ist, ihre Durchführung auch mit staatlichem Zwang als selbstverständlich erachte. Es muß von den Landwirten unbedingt gefordert werden, daß sie auf den der Zwangswirtschaft noch verbleibenden Gebieten ihre Ablieferungspflicht gewissenhaft erfüllen. Gegen Widerstrebende wird unnachsichtig mit der ganzen Strenge des Gesetzes vorgegangen werden, wenn trotz weitgehender Berücksichtigung der berechtigten Wünsche der Landwirtschaft einzelne Kreise durch tatsächlichen Widerstand gegen die Zwangsvorschriften versuchen wollten, unerfüllbare Forderungen durchzusetzen. Ein solches Verhalten würde unsere Volksernährung und damit unsere Zukunft ebenso sehr gefährden wie eine Vernachlässigung der Landwirtschaft und ein dadurch verursachter Rückgang der landwirtschaftlichen Erzeugung. Die unheilvolle Kluft, welche Stadt und Land voneinander trennt und unser Volksleben vergiftet, muß durch gegenseitiges Bestreben nach Verständigung und Gerechtigkeit überbrückt werden. Dazu wird die Regierung beitragen durch eine den Bedürfnissen beider Teile, sowohl der Erzeuger wie der Verbraucher Rechnung tragende Produktions- und Verteilungspolitik. Für eine mündliche Aussprache über unsere Ernährungspolitik stehe ich gern zur Verfügung und stelle anheim, die Zeit mit mir zu vereinbaren5.

gez. Dr. Hermes

Fußnoten

1

Das hier vorliegende Schreiben des REM war die Antwort auf ein Schreiben des Vorstandes des ADGB, das dieser am 28.5.1920 an die Rkei gerichtet hatte. In diesem Schreiben hatte der Vorstand des ADGB mitgeteilt, daß sich Proteste seiner Mitglieder gegen die stetig steigende Verteuerung der Lebensmittel immer mehr häuften. Aus diesen Protesten gehe hervor, daß neue schwere Erschütterungen des politischen und wirtschaftlichen Lebens bevorstünden, wenn nicht bald ein Eingreifen der RReg. erfolge. Der Vorstand des ADGB erklärte, daß nicht Lohnerhöhungen, sondern nur ein Abbau der Preise zum Ziele führen könne. Abschließend warnte der ADGB vor der Gefahr einer Radikalisierung der Protestbewegung und empfahl seine Darlegungen der Aufmerksamkeit der obersten Reichsbehörden (R 43 I /1257 , Bl. 14–15).

Die Rkei hatte das Schreiben zuständigkeitshalber an den REM weitergeleitet und hatte um die Beantwortung durch das REMin. gebeten. Die hier vorliegende Durchschrift seines Antwortschreibens an den ADGB hatte der REM am 18.8.1920 dem StSRkei zur Kenntnisnahme übersandt.

2

Es war dies die VO für Getreide aus der Ernte 1920 (RGBl. 1920, S. 1456 ). Siehe dazu auch Dok. Nr. 22, Anlage.

3

Die Kriegsgesellschaften waren Organisationen, die während des Krieges durch das Reich zur Durchführung der Kriegswirtschaft gegründet worden waren.

Die Auflösung der Kriegsgesellschaften war bereits Gegenstand einer parlamentarischen Anfrage gewesen (RT-Drucks. Nr. 70, Bd. 363 ; RT-Bd. 344, S. 186  f.).

4

Dies war die VO über die Einfuhr von Mais und sonstigen Futtermitteln (RGBl. 1920, S. 1615 ).

5

Ob eine solche Aussprache stattgefunden hat, ließ sich in R 43 I nicht ermitteln.

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