2.2.1 (mu11p): 1. Ruhrgebiet.

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Das Kabinett Müller IHermann Müller Bild 146-1979-122-28APlakat der SPD zur Reichstagswahl 1920Plak 002-020-002Wahlplakat der DNVP Plak 002-029-006Wahlplakat der DDP Plak 002-027-005

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Text

RTF

1. Ruhrgebiet2.

Der Reichskanzler teilte mit, daß der Zentralrat in Essen um Stellungnahme der Regierung zu dem Bielefelder Abkommen ersucht und gebeten[4] habe, das Ultimatum zu verschieben3. Hieraus sowie aus den sonst eingegangenen Nachrichten und aus einer Besprechung, die er mit Levi und Eichhorn gehabt habe, schließe er, daß auch die Kommunisten nunmehr weich würden. Es würde zu prüfen sein, ob man an dem Beschluß des Ultimatums festhalten solle. Der Reichskommissar Severing äußerte Zweifel, ob der Zentralrat in Essen als Vertretungsorgan der Aufständischen angesehen werden könne. Er empfahl Vorsicht bei der Antwort und gab weitere Anregungen wegen eines etwaigen Vorgehens. Der Reichskanzler teilte mit, daß Frankreich bisher noch nicht Zustimmung zur Verwendung von Truppen gegeben habe, es sei denn, daß Deutschland mit der Besetzung von Frankfurt, Darmstadt usw. einverstanden sei4. General von Seeckt bat, daß das Kabinett bei seinem gestrigen Beschluß[5] bezüglich des Ultimatums verbleiben solle5. Er bat davon Abstand zu nehmen, an General von Watter irgend welche Vorschläge über sein Einschreiten und die Art des Angriffs zu machen. Die Anregung des Reichskommissars Severing und des Reichsministers Dr. David, Sicherheitspolizei und Vertrauensleute der Arbeiter mit den Truppen vorzuschicken und diesen wenn möglich schwarz-rot-goldene Armbinden oder Fahnen zu geben, scheine beachtenswert. Im übrigen sei das Ultimatum des Generals von Watter bezüglich der Waffenabgabe nicht so gemeint, daß nun wirklich die geforderte Anzahl an dem bestimmten Tage zur Stelle sein müßte6. Es würde völlig genügen, daß eine Abgabe in einem solchen Umfange erfolge, daß man daraus wenigstens den guten Willen sehe. Im übrigen wurde noch seitens des Reichsministers Giesberts und der Reichsminister Dr. David und Dr. Bell empfohlen, möglichst für Aufklärung der Bevölkerung zu sorgen. Reichsminister Bauer empfahl, unter allen Umständen an dem Ultimatum festzuhalten. Nach weiterer längerer Erörterung wurde festgestellt:

1. Es bleibt bei dem gestrigen Ultimatum, so daß General von Watter morgen um 12 Uhr freie Hand hat.

2. Über die Art seines militärischen Vorgehens soll von hier aus eine Anordnung nicht getroffen werden, jedoch soll, falls dies nach dem Operationsplan möglich ist, Hagen und das Bergische Land unberührt bleiben.

3. Es ist dafür zu sorgen, daß die Truppen möglichst ohne Provokation vordringen, daß diese Truppen unterstützt werden, gegebenenfalls, daß die Bürgermeister der Städte die Truppen mit hineinführen sollen und daß die Truppen tunlichst mit schwarz-rot-goldenen Abzeichen ausgerüstet werden. Von der[6] Entscheidung des Kabinetts soll eine Mitteilung an den Zentralrat als Antwort nicht erfolgen, auch nicht durch WTB7.

Fußnoten

2

Seit Kriegsende war das Ruhrgebiet von Streiks und kleineren Aufstandsbewegungen erschüttert worden, in denen die allgemeinen, sozial- und wirtschaftspolitischen Spannungen zum Ausdruck kamen. Zur Wiederherstellung geordneter Verhältnisse war bereits am 7.4.19 der Bielefelder Redakteur und MdN Carl Severing zum Reichs- und Staatskommissar für das Gebiet des VI. Armeekorps (Münster) ernannt worden (s. hierzu und für die weitere Entwicklung: C. Severing, 1919/1920 im Wetter- und Watterwinkel (1927); ders., Mein Lebensweg I (1950); H. Spethmann, Zwölf Jahre Ruhrbergbau 1914–1924, Bd. II: Aufstand und Ausstand vor und nach dem Kapp-Putsch bis zur Ruhrbesetzung (1928); ders., Die Rote Armee an Ruhr und Rhein (51932) ). Über die Auswirkungen des Kapp-Putsches und seine Folgen in diesem Bezirk legte MinR Brecht im Mai 1920 einen Überblick unter dem Titel „Die Vorgänge im Ruhrgebiet im März 1920“ vor. Dort heißt es u. a.: „Beim Ausbruch des Kapp-Putsches am 13. 3. bemächtigte sich der Arbeiterschaft im ganzen Reich eine große Erbitterung gegen die Reichswehr. Da der Kapp-Putsch in Berlin von Soldaten ausging, brach auch im Ruhrgebiet die Erbitterung gegen jede Art von Soldaten aus. […] Auch im Ruhrrevier waren 2 oder 3 Freikorps offenbar Anhänger des Putsches und wahrscheinlich auch vorher in Einverständnis mit den Verschwörern. Die übrigen Truppen aber standen im Ruhrgebiet dem Putsch fern und mißbilligten ihn. – Die Arbeiter im Ruhrgebiet schlossen sich unter der Nachricht vom 13.3.20 stürmisch zusammen von der SPD bis zu den Kommunisten. Hierbei wurde zuerst als das Ziel die Niederkämpfung des Kapp-Putsches angegeben. Unter dieser Parole waren die Arbeiter sämtlicher Richtungen einig. Aufrufe dieses Inhalts wurden beispielsweise in Elberfeld und Essen von den drei sozialistischen Parteien gemeinsam unterschrieben. Nebenher wurde darin vom Ausbau des Rätesystems und der Diktatur des Proletariats gesprochen. In der ersten Aufregung über die Berliner Umsturzbewegung nahmen auch die Mehrheitssozialisten hieran keinen Anstand, weil noch nicht zu übersehen war, welche Folgen der Putsch hatte. […] Solange die Reichsregierung in Stuttgart weilte, trat der Unterschied der Richtungen im Ruhrgebiet noch nicht deutlich zutage. Der Kampf war ein allgemeiner. Der Unterschied stellte sich aber naturgemäß sofort heraus, als die Reichsregierung in Berlin wieder eingezogen war und, damit die Wiederherstellung der Verfassung außer Zweifel stand, auch der Reichstag [!] einberufen wurde. – In diesem Zeitpunkt zogen sich naturgemäß im Ruhrgebiet die Mehrheitssozialisten aus der aktiven Teilnahme an den Kämpfen mehr und mehr zurück, so daß in der roten Armee immermehr die radikalen Elemente die Führung in die Hände bekamen. Von jetzt an mehrten sich die Hilferufe der unter dem Terror der roten Armee in der Nordwestecke liegenden Bevölkerung. – [Die RReg. habe erwartet, daß die sozialistischen Gruppen auseinanderbrechen würden, so daß wieder Ruhe eintrete, doch hätten im Nordwesten des Ruhrgebiets die Kommunisten die Macht behalten.] Trotzdem zögerte die Reichsregierung noch lange [den Einmarsch von Truppen anzuordnen], besonders weil die Verwendung der Reichswehr unmittelbar nach dem Kapp-Putsch und vor einer gründlichen Reform zu Mißverständnissen reizte. […] In der Zwischenzeit schickte sie nacheinander 3 Minister zur Aufklärung und zu Verhandlungen, zuerst den sozialdemokratischen Minister Braun und den aus Arbeiterkreisen stammenden Zentrumsminister Giesberts und später als dauernden Vertreter den sozialdemokratischen Minister Severing. Schließlich mußte sie aber handeln, wenn die Verfassung nicht von links über den Haufen geworfen werden sollte, nachdem man sie eben gegen rechts verteidigt hatte. […]“ (R 43 I /2717 , Bl. 154-158). Sofort nach Ausbruch der schweren Unruhen im Ruhrgebiet waren diplomatische Sondierungen in Paris und London unternommen worden, um die Erlaubnis zum Einmarsch von Reichswehreinheiten in die demilitarisierte Zone zu erhalten. Diese Sondierungen stießen besonders auf Widerstand der frz. Regierung („Aufzeichnung über die zwischenstaatlichen Verhandlungen während der Aufruhrbewegung im Ruhrgebiet in der Zeit vom 14.3. bis 9.4.20“; R 43 I /2728 , Bl. 238-243).

3

Das Bielefelder Abkommen war am 24.3.20 zwischen Vertretern der RReg. und der Aufständischen geschlossen worden, nachdem die „Rote Armee“ zwar durch die Besetzung mehrerer Großstädte Erfolge gehabt hatte, andererseits aber die von der Regierung entsandten Reichswehreinheiten und Freikorps derart verstärkt worden waren, daß bei einer Konfrontation der Truppen eine Niederlage der „Roten Armee“ auf die Dauer unvermeidlich erschien. Durch dieses Abkommen war ein Waffenstillstand vereinbart worden, der sowohl zur Niederlegung der Waffen durch die Aufständischen wie zur Entwaffnung mehrerer Freikorps, zur Entlassung der Gefangenen und schließlich zur Einrichtung der Institutionen benutzt werden sollte, die nach dem Kapp-Putsch zwischen RReg. und Gewerkschaften vereinbart worden waren, damit die republikanische Ordnung erhalten werde. Teilnehmer des Aufstands im Ruhrgebiet galten als amnestiert (R 43 I /2715 , Bl. 114-117; abgedruckt bei C. Severing, 1919/1920 im Wetter- und Watterwinkel, S. 177 ff.). Da die Führer der „Roten Armee“ das Abkommen jedoch nicht anerkannt hatten und sogar zur Belagerung und Beschießung Wesels übergegangen waren, um durch die Einnahme dieser Stadt eine Verbindung zu den Niederlanden zu erlangen, hatte die RReg. am 28. 3. ein Ultimatum erlassen, indem sie mit dem Einmarsch von Truppen des VI. Armeekorps drohte, falls nicht bis zum 30. 3., 12 Uhr mittags die verfassungsmäßige Staatsautorität anerkannt und ihre Organe wiedereingesetzt worden seien; ferner sei die „Rote Armee“ bis zu diesem Zeitpunkt aufzulösen und die gesamte Bevölkerung zu entwaffnen; die Gefangenen seien freizulassen (C. Severing, 1919/1920 im Wetter- und Watterwinkel, S. 186).

4

Deutscherseits war bereits am 18. 3. in Paris und London gebeten worden, den Einmarsch von 18 Bataillonen, 4 Eskadronen und 18 Batterien in die demilitarisierte Zone zu gestatten (im Laufe der weiteren Entwicklung hat die RReg. die Zahl der Einheiten erhöht). Von Paris und London war das Verlangen abschlägig beschieden worden, da es eine Durchbrechung des VV darstelle und keine Garantie für den rechtzeitigen Rückzug der deutschen Truppen nach Beendigung ihrer Aufgaben bestehe. In der „Aufzeichnung“ (s. o. Anm. 2) heißt es hierzu: „Am 20. 3. erklärte [der frz. MinPräs.] Millerand [dem dt. Geschäftsträger] Dr. Mayer gegenüber seine Zustimmung, daß ein Offizier des RWeMin. sofort nach Paris zu Verhandlungen mit den frz. Militärbehörden käme. Bei dieser Gelegenheit machte Millerand unverbindlich den Vorschlag, daß als Garantie für rechtzeitige Zurücknahme des Einmarschierens deutscher Truppen vereinbart werde, daß ebensoviel alliierte Truppen gleichzeitig an anderer Stelle in die neutrale Zone einrückten und dort solange blieben, bis die deutschen Truppen zurückgezogen seien.“ Die RReg. war jedoch lediglich bereit, den Alliierten ein formales Besatzungsrecht zuzugestehen, das nicht wahrgenommen werden dürfe. Den Vorschlag Dr. Mayers, den Alliierten die Besetzung des „Flaschenhalses zwischen den beiden mittelrheinischen Brückenköpfen“ zu gewähren, falls die deutschen Truppen sich nicht fristgemäß zurückziehen würden, hatte die RReg. abgelehnt, bestand jedoch auf weiteren Verhandlungen mit Frankreich ohne territoriale Konzessionen. Diese Verhandlungen führte Mayer mit Botschafter Paléologue und MinPräs. Millerand am 27. 3. „Am 28. März 9½ v. überbringt Paléologue im Auftrag Millerands die Mitteilung, daß nach Rücksprache mit Foch als Garantie gegenüber dem deutschen Einmarsch in das Ruhrgebiet die Besetzung von Frankfurt, Hanau, Homburg, Darmstadt und Dieburg in Aussicht genommen sei. Dr. Mayer erklärt die Bedingungen für seiner Meinung nach unannehmbar, macht aber gleichzeitig unverbindliche Gegenvorschläge dahingehend, daß Beschränkung der einmarschierenden alliierten Truppen auf die gleiche Zahl wie die der einmarschierenden deutschen Truppen unerläßlich sei und eine Kontrolle durch deutsche Verbindungsoffiziere zugestanden werden müsse.“ Am Abend überbrachte Paléologue die auf Fochs Verlangen abgeänderten Bedingungen: „Besetzung der fünf oben erwähnten Städte, Aufrechterhaltung der deutschen Lokalverwaltung und der Tätigkeit der Hess. Regierung in Darmstadt, Beschränkung der einmarschierenden frz. Truppen auf die Zahl der in das Ruhrgebiet über die Vereinbarung vom 9.8.1919 hinaus einmarschierten deutschen Truppen, Freiheit der Eisenbahnverbindungen von Frankfurt und Darmstadt aus und einige andere.“ Am 29. 3. bat Mayer im Auftrag der RReg. um eine Milderung der Bedingungen und teilte mit, die RReg. werde nur mit Zustimmung der frz. Regierung Truppen in das Ruhrgebiet einmarschieren lassen. „Er hoffe, auf eine zufriedenstellende Regelung des Zwischenfalles, bei dem 4 deutsche Batl. bei Borken zum Entsatz von Wesel in die neutrale Zone einmarschiert seien.“ („Aufzeichnung […]“, s. o. Anm. 2). Zur weiteren Entwicklung dieser Frage s. Dok. Nr. 5.

5

Zum Ultimatum auf Grund der Kabinettssitzung vom 28. 3. s. o. Anm. 3.

6

Watter hatte das Ultimatum der RReg. mit zusätzlichen Ausführungsbestimmungen ergänzt und verlangt, daß bis zum 30. 3., 11 Uhr die Abgabe von 4 schweren, 10 leichten Geschützen, 200 Maschinengewehren, 16 Minenwerfern, 20 000 Gewehren, 400 Schuß Artilleriemunition, 300 Schuß Minenwerfermunition und 100 000 Schuß Infanteriemunition zu erfolgen habe (C. Severing, 1919/1920 im Wetter- und Watterwinkel, S. 187).

7

Zum Fortgang s. Dok. Nr. 3.

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