2.84.1 (ma31p): 1. Genfer Verhandlungen.

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Die Kabinette Marx III und IVDas Kabinett Marx IV Bild 146-2004-0143Chamberlain, Vandervelde, Briand und Stresemann Bild 102-08491Stresemann an den Völkerbund Bild 102-03141Groener und Geßler Bild 102-05351

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1. Genfer Verhandlungen1.

Nach einleitenden Begrüßungsworten des Reichskanzlers schilderte der Reichsminister des Auswärtigen zunächst seine persönlichen Eindrücke von der[236] Völkerbundstagung2. Er begründete die Haltung der Delegation, die bei den Wahlen zum Völkerbundsrat das Gewicht weder für noch gegen eine der in Frage kommenden Nationen eingesetzt habe. Er erläuterte ferner die Gründe, die eine Stimmabgabe für Polen angezeigt erscheinen ließen. Auf den Vorsitz im Völkerbundsrat habe er bei dieser Tagung von vornherein verzichtet. Nach Mitteilung des Generalsekretärs Drummond sei für die Dezember-Tagung als Ort Genf, für die März-Tagung Berlin vorgesehen. Vor der Dezember-Tagung sei Fühlungnahme zwischen Deutschland, England und Frankreich sowie mit Drummond vorgesehen. Der Reichsminister des Auswärtigen begründete, warum es weniger im deutschen Interesse läge, im Völkerbund die Rolle des Führers einer Opposition der kleinen Nationen zu übernehmen als vielmehr mit den großen Mächten zusammen zu wirken. Er belegte im einzelnen, wie wertvoll während der Völkerbundstagung die nebenher laufenden Verhandlungen mit den einzelnen Nationen seien. So habe er z. B. in einer Besprechung mit Grandi Übereinstimmung über die Absicht, zwischen Italien und Deutschland einen Schiedsvertrag zu erzielen, hergestellt3, ferner mit dem rumänischen Ministerpräsidenten Averescu eingehende Verhandlungen geführt. Die Gewährung einer Anleihe an Rumänien sei bisher nicht zur Erwägung gestellt worden.

Bezüglich der Verhandlungen von Thoiry4 berichtete der Reichsminister des Auswärtigen, Herr Briand habe von Anfang an erklärt, es handele sich für Frankreich um die Gesamtbereinigung der Beziehungen zwischen Deutschland [sic], und gefragt, ob Deutschland gewillt sei, Frankreich finanziell zu helfen. Als deutsche Ziele seien bei der Verhandlung von deutscher Seite genannt und französischerseits anerkannt worden:

1.

Rückgabe des Saargebiets an Deutschland, wobei Deutschland die Saargruben zu kaufen habe;

2.

Räumung der zweiten und dritten Zone;

3.

Entfernung der I.M.K.K.;

4.

Rückgabe der Gebiete von Eupen-Malmedy, ohne daß Frankreich Einspruch erhebe.

Zu 1) habe Briand erklärt, daß für Frankreich die Frage der Volksabstimmung belanglos sei.

Zu 2) bestand Einvernehmen darüber, daß die Räumung unmittelbar nach Feststellung des deutsch-französischen Einvernehmens auf einmal in der technisch denkbar kürzesten Zeit vor sich gehen solle.

Zu 3) habe Briand die besonderen Besorgnisse Frankreichs wegen der Verbände hervorgehoben. Der französische Minister des Äußeren habe ausgeführt, wie sehr ihm durch die Beseitigung der Verbände, die sich mit militärischen Übungen befaßten, seine Versöhnungspolitik erleichtert würde. Ein Verlangen[237] nach Aufhebung oder Verbot aller vaterländischen Verbände sei von Herrn Briand nicht geäußert worden.

Zu 4) habe Herr Briand erklärt, daß nach Erzielung eines deutsch-französischen Einvernehmens Frankreich bezüglich Eupen-Malmedy keinerlei Schwierigkeiten machen werde.

Sodann sei die deutsche Gegenleistung auf finanziellem Gebiet zur Sprache gekommen. Herrn Briand seien die starken Schwierigkeiten, die gegen den Plan der Verwertung der Eisenbahn-Obligationen in Deutschland von seiten des Reichswirtschaftsministers, des Reichsministers der Finanzen und zahlreichen wirtschaftlichen Sachkennern, wie u. a. von Herrn Dernburg, vorgebracht würden, vor Augen geführt worden. Der Reichsminister des Auswärtigen berichtete, daß er auf die Frage des Herrn Briand nach der Höhe der in Frage kommenden Summe für den Rückkauf der Saargruben entsprechend der französischen, für Deutschland günstigen Abschätzung etwa 300 Millionen Reichsmark genannt habe. Um insgesamt zu der für Frankreich notwendigen Summe von 1 Milliarde in Gold zu gelangen, habe Herrn Briand einmal eine deutsch-französische Anleihe, aufgebaut auf dem Dawes-Plan, vorgeschwebt, oder aber die Kommerzialisierung von etwa 650 Millionen Eisenbahn-Obligationen bei 6½%iger Verzinsung, was eine Verfügbarmachung von etwa 1½ bis 2 Milliarden an Obligationen erforderlich machte.

Beide Außenminister hätten ausdrücklich am Schlusse ihrer Unterredung festgestellt, daß ihre Regierungen durch diese Besprechung in keiner Weise gebunden sein sollten. Reichsminister Stresemann habe ferner ausdrücklich hervorgehoben, daß derartige finanzielle Maßnahmen der Revision des Dawes-Plans bzw. einer Endlösung des Zahlungsproblems nicht vorgreifen sollten. Der Reichsminister des Auswärtigen schlug vor, daß, ähnlich wie das französische Kabinett es getan habe5, auch das Reichskabinett seine grundsätzliche Zustimmung für das bisherige Verhalten des Ministers des Auswärtigen geben und ihn zur Fortsetzung der in Thoiry begonnenen Verhandlungen ermächtigen möge. Er halte ferner für zweckmäßig, zur weiteren Förderung der sachlichen Vorbereitungen einen Ausschuß der beteiligten Ressortminister zu bilden. Bezüglich des Zeitpunkts der Verhandlungen äußerte der Reichsminister des Auswärtigen die Ansicht, daß, da der neue Bedarf an Zahlungsmitteln für Frankreich in den Monat Januar falle, Frankreich ein Einvernehmen bis Ende Dezember erstreben werde. Im deutschen Interesse sei es, schon jetzt die Verhandlungen ohne Verzug zu fördern.

Der Reichskanzler sprach dem Reichsminister des Auswärtigen den Dank des Reichskabinetts für seine bisherige Arbeit aus. Er wies auf die historische Bedeutung der gepflogenen Verhandlungen hin.

Bezüglich der Pressebehandlung der Angelegenheit äußerte der Reichskanzler die Sorge, es könnte ein zu großer Optimismus über die Zahlungsfähigkeit Deutschlands in der Welt Platz greifen. Dem müsse durch Beeinflussung der Presse entgegengearbeitet werden.

[238] Der Reichskanzler schlug dem Kabinett endlich vor, gemäß den Wünschen des Reichsministers des Auswärtigen zu beschließen.

Auf die Frage des Reichsministers für die besetzten Gebiete, ob neben den wirtschaftlichen Wünschen Frankreichs auch politische Forderungen gestellt worden seien, erwiderte der Reichsminister des Auswärtigen daß außer einem Fühler des Herrn Hesnard über weitere Garantien wegen der Entmilitarisierung des Rheinlands bei den Vorverhandlungen, den er sofort unter Hinweis auf das Investigationsrecht des Völkerbundes zurückgewiesen habe6, keinerlei politische Wünsche von französischer Seite vorgebracht seien.

Der Reichswirtschaftsminister erklärte zunächst, daß er die größten wirtschaftlichen Lasten gegenüber einer Befreiung der sämtlichen besetzten Gebiete für gerechtfertigt halte. Bezüglich der finanziellen Maßnahmen, die erörtert worden seien, äußerte er ernste Bedenken. Er erblickte die Schwierigkeiten weniger in der Transfer-Frage als vielmehr in dem erschreckend großen Geldbedarf Deutschlands gegenüber dem Ausland. Schon jetzt betrügen die Zinsen der außerhalb des Dawes-Plans getätigten Anleihen, die dem staatlichen Zugriff entzogen seien, etwa 500 Millionen jährlich. Im Rahmen des Dawes-Plans seien einschließlich der Zahlungen auf Grund des Recovery Acts7 während der letzten zwei Jahre, von 2,2 Milliarden Zahlungen insgesamt, 600 Millionen bar transferiert worden. Schon hieraus ersehe man also, daß für die in Aussicht genommenen Zinsen der Eisenbahn-Obligationen die Transfer-Frage eine verhältnismäßig geringe Rolle spielen werde. Er frage sich nur, wie das Ausland die von Deutschland benötigten Summen aufbringen solle. Vom 1. Januar 1924 bis 1. Juli 1926 habe Deutschland eine Passivität von 6 Milliarden RM zu verzeichnen. Und zwar seien für 1,2 Milliarden gehamsterte ausländische Noten in Verkehr gekommen, für 1,4 Milliarden Auslandsguthaben zurückgezogen worden, 3 Milliarden Anleihen hereingenommen worden und 0,4 Milliarden an anderweitigen Dienstleistungen ausgegeben. Der Reichsbankpräsident8 schätze die Höhe der hereingenommenen Auslandsanleihen ohne die Dawes-Anleihe sogar auf 4,2 Milliarden. Die zur Zeit bestehende Aktivität der Handelsbilanz werde aufhören und einer dauernden Passivität weichen, namentlich wenn die Wirtschaft sich weiter belebe und infolgedessen Rohstoffe eingekauft werden müßten. Rechne man als kommenden Bedarf vom Ausland 1,5 Milliarden für die Obligationen, 300 Millionen für die Saargruben, 240 Millionen für Eupen-Malmedy und 400 Millionen für den Anleihebedarf des Reichs, so komme man auf einen Bedarf von 2,4 Milliarden bis zum nächsten Frühjahr aus Anleihen. Demgegenüber wüchse auch im Ausland und in den anderen Erdteilen der Kapitalbedarf. Dieses ganze wirtschaftliche Bild zwinge zu größter Zurückhaltung. Es dürfe keine zu optimistische Stimmung in Deutschland aufkommen.

[239] Der Reichskanzler sprach den Wunsch aus, daß besonders das Reichsfinanz- und das Reichswirtschaftsministerium für Aufklärung der Presse in diesem Sinne wirken möchten.

Der Reichsarbeitsminister schlug vor, in politischer Hinsicht grundsätzliche und ausdrückliche Zustimmung auszusprechen und zu veröffentlichen. Als zweiten Teil einer Veröffentlichung könne man die wirtschaftlichen Schwierigkeiten berühren.

Staatssekretär Popitz glaubte, trotz der bisherigen grundsätzlichen Gegnerschaft des Reichsministers der Finanzen gegen den Plan, einen Widerspruch des Reichsfinanzministeriums gegen die Billigung dieses ersten Schrittes durch das Reichskabinett und die Weiterführung der Verhandlungen im gleichen Sinne nicht aussprechen zu sollen. Er erbat Auskunft, ob für Deutschland, abgesehen von den Zahlungen für Saargruben und Eupen-Malmedy, eine Mehrbelastung entstehen würde. Bezüglich der Finanzlage wies er darauf hin, daß durch die Ausgabe der Obligationen die sonstigen Anleihen, die Deutschland zu erlangen haben werde, verteuert und gefährdet werden würden, was insbesondere für den Anleihebedarf des Reichs, der sich auf etwa 1 Milliarde belaufen werde, ungünstig sei.

Der Reichsminister des Auswärtigen erklärte sich damit einverstanden, daß die Presse über die Bedeutung der Transfer-Frage und den Ernst der finanziellen und wirtschaftlichen Konsequenzen in geeigneter Weise aufgeklärt werde. Gegenüber dem auf französischer Seite aufgetauchten Gedanken, die deutsch-französische finanzielle Vereinbarung ohne Einvernehmen mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika zu treffen, wies er darauf hin, wie wichtig es für Deutschland sei, stets in engster Fühlung mit den Vereinigten Staaten zu bleiben9. Es müsse ferner verhindert werden, daß dieses Problem mit dem der interalliierten Schulden verbunden werde.

Das Kabinett beschloß als Ausdruck seiner Willensmeinung nachstehende Mitteilung zu veröffentlichen10:

„In der heutigen, unter dem Vorsitz des Reichskanzlers Dr. Marx abgehaltenen Sitzung des Reichskabinetts erstattete der Reichsminister des Auswärtigen Dr. Stresemann Bericht über die Tätigkeit der deutschen Delegation bei der Völkerbundsversammlung in Genf. Das Kabinett stimmte der Haltung der deutschen Vertreter zu und sprach dem Reichsminister Dr. Stresemann sowie den übrigen Mitgliedern der Delegation für die geleistete Arbeit seinen Dank aus.

Anschließend berichtete Dr. Stresemann über den Inhalt seiner Verhandlungen mit dem französischen Minister des Auswärtigen Briand zur Frage des deutsch-französischen Ausgleiches. Das Kabinett billigte einstimmig und grundsätzlich diese Verhandlungen, zu deren Weiterführung ein aus den in Betracht[240] kommenden Ressortministern bestehender Ausschuß gebildet wurde, der dem Kabinett demnächst Bericht erstatten soll11.“

Fußnoten

1

Dieser Tagesordnungspunkt ist auch abgedr. in: ADAP, Serie B, Bd. I,2, Dok. Nr. 105.

2

Vgl. dazu Dok. Nr. 83.

3

Siehe ADAP, Serie B, Bd. I,2, Dok. Nr. 84, Anm. 2.

4

In der Anlage zum Protokoll dieser Ministerbesprechung befindet sich ein ungezeichnetes Exemplar der Aufzeichnung Stresemanns vom 20.9.26 über seine Unterredung mit Briand in Thoiry am 17. 9. (R 43 I /1415 , Bl. 172–186); die Aufzeichnung Stresemanns ist abgedr. in: ADAP, Serie B, Bd. I,2, Dok. Nr. 94.

5

Siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 98, Anm. 4.

6

Siehe die Aufzeichnung Schuberts vom 11.9.26, in: ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 82, Anm. 4.

7

Auf Grund des „Reparation Recovery Act“ erhob Großbritannien von der dt. Einfuhr eine Reparationsabgabe in Höhe von 26% des Warenwerts; auch an Frankreich war eine solche 26%ige Reparationsabgabe zu entrichten. Der Ertrag der Abgabe wurde auf die Reparationszahlungen angerechnet, die Dtld. nach dem Dawes-Plan zu leisten hatte.

8

Schacht.

9

Siehe dazu ADAP, Serie B, Bd. I,2, Dok. Nr. 97, 99 und 103.

10

Der im folgenden wiedergegebene Text ist eine WTB-Meldung vom 24. 9., die in das Protokoll eingeklebt wurde. Der maschinenschr. Entwurf des Kommuniqués befindet sich in der Anlage zu diesem Protokoll (R 43 I /1415 , Bl. 171).

11

Der sog. Thoiry-Ausschuß des Kabinetts, dem Vertreter des AA, des RFMin., des RWiMin. und der Rbk angehörten, hielt drei Sitzungen ab, nämlich am 27. 9., 14. 10. und 1.11.26. Dabei wurden die politischen, rechtlichen und finanziellen Aspekte der in Thoiry erörterten Vorschläge behandelt, insbesondere der Teilmobilisierung der Eisenbahnobligationen, des Rückkaufs der Saargruben, der vorzeitigen Räumung des Rheinlandes und des Saargebiets. Die Protokolle der Sitzungen des Thoiry-Ausschusses sind abgedr. in: ADAP, Serie B, Bd. I,2, Dok. Nr. 114, 144 und 175. Verschiedene Gutachten des RWiMin., des RFMin. und des AA, die offenbar als Material für die Verhandlungen des Thoiry-Ausschusses dienten, befinden sich in R 43 I /474  und R 2 /193 .

Zur weiteren Erörterung der Frage durch das Kabinett siehe Dok. Nr. 89, P. 1.

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