2.150 (feh1p): Nr. 150 Das Bayerische Ministerium des Äußern an den Reichskanzler. München, 9. Januar 1921

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 8). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

   Das Kabinett Fehrenbach  Konstantin Fehrenbach Bild 183-R18733Paul Tirard und General Guillaumat Bild 102-01626AOppeln 1921 Bild 146-1985-010-10Bild 119-2303-0019

Extras:

 

Text

RTF

Nr. 150
Das Bayerische Ministerium des Äußern an den Reichskanzler. München, 9. Januar 1921

R 43 I /1246 , Bl. 178–180

[Betrifft: Stellungnahme der Bayerischen Regierung zu der Auffassung der Reichsregierung über die Anwendung des Art. 48 Abs. 4 der Reichsverfassung]1

Dem Herrn Reichskanzler beehre ich mich ergebenst mitzuteilen, daß im Hinblick auf das am 1. Januar 1921 nunmehr in Kraft getretene Reichsgesetz vom 18. Dezember 1920 über Verschärfung der Strafen wegen Schleichhandels, Preistreiberei und verbotener Ausfuhr lebenswichtiger Gegenstände2 die bayerische Verordnung zur Unterdrückung von Schleichhandel und Preistreiberei vom 25. Oktober d. J.3 durch Verordnung vom 28. Dezember 1920 mit Wirksamkeit vom 1. Januar 1921 an aufgehoben wurde. […]

Mit der einschränkenden Auslegung, die in dem gefälligen Schreiben vom 11. November 1920 dem Art. 48 Abs. 4 der Reichsverfassung gegeben wird, vermag sich die Bayerische Regierung nicht einverstanden zu erklären4. Diese Auslegung steht in Widerspruch mit den Lebensbedürfnissen der Länder, denen unter allen Umständen und in vollem Umfange die Möglichkeit gewahrt bleiben muß, bei Gefährdung des Staates alle zur Abwendung der Gefahren erforderlichen Maßnahmen treffen zu können.

Für dieses Notrecht der Landesregierungen kann, solange nicht das in Art. 48 Abs. 5 der Reichsverfassung vorgesehene Reichsgesetz ergangen ist, lediglich die Vorschrift in Art. 48 Abs. 4 Satz 1 maßgebend sein5. Hierfür sprechen auch die Verhandlungen in den Sitzungen der Nationalversammlung vom 4. und 5. Juli 1919 (s. Sten.Ber. S. 1304, 1335)6. Die weite Fassung der Vorschrift in Art. 48 Abs. 4 Satz 1 ist wohl gerechtfertigt. Denn es lassen sich unmöglich die Fälle, die zu außerordentlichen Maßnahmen der Landesregierungen Anlaß geben, und die Maßnahmen, die in solchen Fällen notwendig werden können,[397] voraussehen. Jede Bindung der Landesregierungen, die sie in der Ausübung des ihnen verliehenen Notrechts hindern oder beschränken kann, muß deshalb abgelehnt werden. Insbesondere kann auch keine Zusicherung wegen der Art der zu treffenden Maßnahmen gegeben werden. Gegen einen Mißbrauch des den Landesregierungen verliehenen Notrechts ist dadurch genügend Sicherheit geboten, daß die Landesregierungen, die allein darüber zu entscheiden haben, ob die Voraussetzungen des Art. 48 Abs. 4 der Reichsverfassung vorliegen, für die von ihnen getroffenen Maßnahmen der Reichsregierung verantwortlich sind und daß die Maßnahmen auf Verlangen des Reichspräsidenten oder des Reichstags außer Kraft zu setzen sind7. Wird ein solches Verlangen gestellt, so übernimmt damit der Reichskanzler oder der zuständige Reichsminister, der die Verfügung des Reichspräsidenten gegenzeichnet, oder der Reichstag die Verantwortung für die mit der Aufhebung der Maßnahmen eintretenden Zustände.

Die bayerische Verordnung vom 25. Oktober ds. Jahres bewegte sich in dem vorstehend geschilderten Rahmen des Art. 48 Abs. 4 der Reichsverfassung. Es lag eine erhebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor. Diese äußerte sich in einer starken Zunahme der Selbsthilfeakte der Bevölkerung (Zurückhaltung von Kartoffeln, Zug der Städter auf das Land in der Pfalz, Aufruhr in Weichshofen, Überhandnahme von Branddrohbriefen und Brandstiftungen auf dem Lande).

Es war auch Gefahr im Verzug gegeben. In den öffentlichen Versammlungen aller Parteien äußerte sich übereinstimmend eine so gereizte und erbitterte Stimmung gegen Wucher- und Schiebertum, daß nach der Anschauung des Gesamtministeriums mit einem schärferen Vorgehen gegen diese Auswüchse unseres Wirtschaftslebens unmöglich noch zugewartet werden konnte.

Der Auffassung des Herrn Reichskanzlers, daß es Pflicht der Landesregierungen ist, unverzüglich nach Erlaß einer Verordnung auf Grund des Art. 48 Abs. 4 der Reichsverfassung dem Reichspräsidenten von der Verordnung und den Gründen, die zu ihrem Erlasse geführt haben, Kenntnis zu geben und ihn insbesondere über die Tatsachen zu unterrichten, in denen eine erhebliche Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und eine Gefahr im Verzug erblickt worden ist, wird beigepflichtet. Nach den Absichten des Gesamtministeriums sollte auch die Benachrichtigung des Herrn Reichspräsidenten unverzüglich erfolgen. Daß sie unterblieben ist, beruht auf einem bedauerlichen Mißverständnis. Jedes der beteiligten Ministerien war der Meinung, daß diese Benachrichtigung durch ein anderes Ministerium erfolgen werde oder schon erfolgt sei.

Was die von dem Herrn Reichskanzler bemängelte Motivierung betrifft, die die Bayerische Regierung ihrer Verordnung in dem begleitenden Aufrufe gegeben hat, so darf zur Klarstellung des Sachverhalts erwähnt werden:

Die Verschärfung der Strafbestimmungen gegen Schleichhandel und Preistreiberei, darunter auch die Vermögenseinziehung, wurde bereits im Oktober[398] 1919 von einer Abordnung bayerischer Minister in Berlin gefordert. Ferner wurde in der Tagung der Landespreisstellen und Landeswucherämter unter dem Vorsitz des Reichswirtschaftsministeriums am 8. April 1920 in Würzburg von dem Vertreter der Bayerischen Regierung neuerdings in formulierten Anträgen die Verschärfung verlangt: der Herr Vorsitzende sagte damals, wie auch in der Niederschrift bemerkt ist, zum Schlusse der Tagung zu, daß nunmehr die Beschlüsse der Tagung möglichst schnell zu einer neuen gesetzlichen Regelung verwertet werden sollen und daß versucht werden soll, vielleicht noch während des April während der Dauer der Tagung der Nationalversammlung die Angelegenheit durchzuführen. Des weiteren wurde die Abänderung der Preistreibereiverordnung wiederum von einem Vertreter der Bayerischen Regierung (Ministerialdirektor Dr. von Nüßlein) in einer Beratung des Reichswirtschaftsministeriums mit den Ländern über Preisprüfung und Wucherbekämpfung in Berlin am 29. Juni 1920 beantragt. Der Herr Vorsitzende äußerte im Anschlusse an die Beratung gegenüber den weiter erschienenen bayerischen Vertretern den Wunsch, daß ihm formulierte Vorschläge zur Änderung der Preistreibereiverordnung übersandt werden möchten. Diese Vorschläge nebst Begründung hat der Leiter der bayerischen Landespreisstelle, Landgerichtsrat Dr. Bretzfeld, im Benehmen mit den beteiligten Ministerien ausgearbeitet und auf deren Veranlassung zur Beschleunigung unmittelbar dem Reichswirtschaftsministerium zu Händen des Herrn Min.Direktors Dr. Hüttenhein am 13. Juli 1920 übersandt; Abschrift wurde auch dem Sachreferenten des Reichsjustizministeriums übermittelt. Um die gleiche Zeit etwa hat auch das Staatsministerium der Justiz in einem Schreiben an das Reichswirtschaftsministerium die Abänderung der Preistreibereiverordnung angeregt. Endlich hat noch der Vertreter der Bayerischen Regierung bei der Tagung der Landespreisstellen mit dem Reichswirtschaftsministerium am 21. Oktober 1920 in Coburg die abschriftlich beiliegende Erklärung abgegeben8, in der die Strafdrohungen, wie sie die bayerische Schleichhandelsverordnung vom 25. Oktober 1920 vorsieht, in der Hauptsache gefordert sind.

Wie sich in Bayern die Verhältnisse zugespitzt hatten, war das Gesamtministerium außerstande, das Ergebnis der Tagung in Coburg abzuwarten, mußte vielmehr im Interesse der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung unverzüglich bis zum Erlasse entsprechender reichsgesetzlicher Vorschriften seine einstweiligen Anordnungen treffen.

Kahr

Fußnoten

1

Zur Vorgeschichte dieses Schreibens s. Dok. Nr. 101, P. 2 und Dok. Nr. 106, P. 7.

2

„Gesetz über Verschärfung der Strafen gegen Schleichhandel, Preistreiberei und verbotene Ausfuhr lebenswichtiger Gegenstände“, RGBl. 1920, S. 2107  f.

3

Zu dieser bayer. VO s. Dok. Nr. 101, Anm. 1.

4

Siehe dazu Dok. Nr. 110.

5

Art. 48 Abs. 4 und 5 der RV lauteten:

„Bei Gefahr im Verzuge kann die Landesregierung für ihr Gebiet einstweilige Maßnahmen der in Abs. 2 bezeichneten Art treffen. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichspräsidenten oder des Reichstages außer Kraft zu setzen.

Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz.“

6

RT-Bd. 327 .

7

Hier findet sich auf dem linken Rand des Schreibens die handschriftl. Notiz MinR Brechts: „Bayern würde sich also fügen, wenn das Verlangen gestellt wird.“ (R 43 I /1246 , Bl. 178).

8

Diese Erklärung war in R 43 I nicht zu ermitteln.

Extras (Fußzeile):