2.60 (vsc1p): Nr. 60 Vermerk des Ministerialrats Neumann zur Frage der rechtlichen Beurteilung einer vom Reichspräsidenten einzuleitenden Abänderung der Reichsverfassung. [17. Januar 1933]

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[267] Nr. 60
Vermerk des Ministerialrats Neumann zur Frage der rechtlichen Beurteilung einer vom Reichspräsidenten einzuleitenden Abänderung der Reichsverfassung. [17. Januar 1933]1

R 43 I /1865 , S. 379–385 Durchschrift

Über die rechtlichen Möglichkeiten zur Änderung der Reichsverfassung wird im Schrifttum in zunehmendem Umfange diskutiert2. In der letzten Nummer der Zeitschrift „Reich und Länder“ verweist Jellinek3 auf Darlegungen, die Johannes Heckel im Jahre 1932 in dem von ihm herausgegebenen „Archiv des öffentlichen Rechtes“ gemacht hat (Jahrg. 1932, 3. Heft4). Die Ausführungen Heckels sind in der Tat von besonderem Interesse.

Heckel geht davon aus, daß es in jedem Staatsleben Verfassungsstörungen gibt, für welche die Verfassung keine Abwehr bereit hält; hiervon mache auch die Weimarer Verfassung keine Ausnahme. Führe eine Verfassungsstörung zu einer voraussichtlich heilbaren Stockung des Verfassungslebens, dann liege eine Verfassungslähmung vor. Diese begründe einen Verfassungsnotstand, der mit verfassungsmäßigen Mitteln nicht zu beseitigen sei, also eine abnorme staatsrechtliche Lage darstelle. Sie lasse das Recht zu einer Notstandsaktion entstehen. Eine solche Notstandsaktion bedeute weder Verfassungsbruch noch Staatsstreich. Sie sei vielmehr legal. Das Recht zur Notstandsaktion folge aus[268] der Treupflicht gegenüber der Verfassung als einer Totalität. Demgemäß müsse sich eine Notstandsaktion allerdings auch, soweit irgend möglich, im Rahmen der Verfassung halten, sie dürfe also die Verfassung nicht weitergehend ändern, als unbedingt notwendig sei. Im übrigen sei eine derartige Notstandsaktion nur als provisorisches und hilfsweises Einschreiten zulässig. Demgemäß sei zweierlei erforderlich:

1)

Ihre Einleitung müsse unter öffentlicher Berufung auf den klar zu legenden Verfassungsnotstand erfolgen,

2)

die Notstandsaktion bedürfe der nachträglichen Anerkennung durch das Volk, wodurch die staatsrechtliche Entlastung für die durch die Notstandsaktion eingegangene Verantwortung erteilt werde.

Als typischen Fall der Verfassungslähmung bezeichnet Heckel das Eintreten der Aktionsunfähigkeit des Reichstages. Diese liege vor, wenn der Reichstag nicht imstande sei, in positivem Sinne – sei es auch nur in der Form des Tolerierens eines Kabinetts und seines Programms – eine politische Gesamtentscheidung über ein Regierungsprogramm herbeizuführen, und wenn auch die Auflösungsbefugnis des Reichspräsidenten keine Abhilfe schaffen könne. Alsdann stocke das ganze Verfassungsleben. Wenn die Verfassung keinen aktionsfähigen Reichstag mehr liefere, versperre sie zugleich die von ihr selbst geschaffenen Wege für eine Verfassungsänderung, die sämtlich einen aktions- und verantwortungsfähigen Reichstag voraussetzen. Ein solcher Zustand könne nicht auf die Dauer ertragen werden. Sobald er feststehe, bleibe nach Versagen aller anderen Mittel nur eine Verfassungsrevision übrig. Alsdann müsse also eine Notstandsaktion zum Ziele der Verfassungsänderung eingesetzt werden.

Da die verfassungsmäßigen Organe zur Verfassungsänderung nicht mehr funktionierten, bleibe nur ein Weg übrig: der Appell des Reichspräsidenten an das Volk als Verfassungsgesetzgeber. Durch die vom Reichspräsidenten eingeleitete Notstandsaktion zur Verfassungsänderung entstehe ein staatsrechtlicher Schwebezustand, der der richterlichen Nachprüfung entzogen sei und durch die Entscheidung des Volkes beendigt werde. Diese enthalte das Urteil über die Einleitung der Notstandsaktion und über die von ihr vorgeschlagenen Maßnahmen. Das Volk handele aus eigenem Rechte. Seine Entscheidung sei endgültig.

Über die Frage, in welcher Weise sich das Volk zu äußern habe, sagt Heckel nichts. Er verweist weder auf die Notwendigkeit der Einberufung einer Nationalversammlung, noch schließt er die Möglichkeit aus, im Wege der verfassungsändernden Notstandsaktion neue Vorschriften über die Bildung von Kammern zu erlassen, die dann die vom Reichspräsidenten deklarierte Verfassungsänderung anzuerkennen hätten.

Die vorbezeichneten Darlegungen Heckels sind in der Wissenschaft natürlich nicht unbestritten. Immerhin ist von Interesse, daß selbst ein Mann wie Jellinek sie nicht von vornherein ablehnt, wenn er sie freilich auch nur in dem Falle gelten lassen will, daß auf dem Wege über die verfassungsmäßig begründete Diktaturgewalt des Reichspräsidenten sich gangbare Lösungsmöglichkeiten nicht bieten. Jellinek fordert also zunächst, daß Artikel 48 Abs. 2 der Verfassung tatsächlich versagen müsse, daß insbesondere sein Versagen nicht bloß[269] konstruiert werde. Über die Unmöglichkeit, die eingetretene „Verfassungslähmung“ über Artikel 48 Abs. 2 zu beseitigen, dürfte inzwischen aber ein Zweifel wohl nicht mehr möglich sein.

Aus dem Vorstehenden wird ersichtlich,

1.)

daß eine vom Reichspräsidenten einzuleitende Verfassungsänderung nicht nur durch seinen Eid gerechtfertigt werden kann – der den Reichspräsidenten nicht nur verpflichtet, die Verfassung und die Gesetze des Reiches zu wahren, sondern ihm auch die Aufgabe auferlegt, Schaden vom deutschen Volke abzuwenden und seinen Nutzen zu mehren –, sondern, daß eine Initiative des Reichspräsidenten zur Verfassungsänderung sich staatsrechtlich auch noch durch andere, auf das Wesen des Verfassungslebens zurückgehende Erwägungen begründen läßt,

2.)

daß eine Aktion des Reichspräsidenten sich nicht allein auf die vorübergehende Ausschaltung verfassungsmäßiger Organe zu beschränken braucht, sondern daß sie auch auf positive Maßnahmen abgestellt sein kann, die die eingetretene Verfassungslähmung wirksam beheben können, derart, daß ein baldiges normales Funktionieren der Verfassung wieder erwartet werden kann,

3.)

daß von vornherein die alsbaldige Entscheidung des Volkes über die vom Reichspräsidenten zu verkündende Änderung der Verfassung vorbehalten werden sollte, wobei dem nichts im Wege zu stehen scheint, daß das Volk zur Meinungsäußerung in Organen aufgerufen werden würde, deren Bildung der Reichspräsident im Rahmen der Notstandsaktion neu regeln würde.

Fußnoten

1

Mit Anschreiben vom 17. 1. von RIM Bracht als Vermerk Neumanns „über den Begriff des staatsrechtlichen Notstandes“ an StS Planck „zur persönlichen Kenntnis“ übersandt (R 43 I /1865 , S. 377).

2

Zu dem über die tagespolitischen Bezüge (s. dazu Dok. Nr. 56) hinausgehenden verfassungsrechtlichen Rahmen der nachfolgenden Überlegungen äußert sich ReichsgerichtsR Schwalb in der „Vossischen Zeitung“, Nr. 43 vom 25.1.1933, u.d.T. „Gibt es ein Staatsnotrecht?“: „Immer häufiger und dringender wird seit einigen Wochen in der rechtsstehenden Presse die Regierung auf ein Staatsnotrecht hingewiesen, mittels dessen sie die bestehenden politischen Schwierigkeiten ausräumen könne und auszuräumen verpflichtet sei. Da der Reichstag trotz wiederholter Auflösungen die zur Stützung einer parlamentarischen Regierung erforderliche Mehrheit nicht biete, andererseits aber nicht gewillt sei, einer ‚Präsidialregierung‘ stillschweigende Handlungsvollmacht auf die zu sachgemäßer Betätigung erforderliche Zeit zu erteilen, so bleibe nur förmliche Ausschaltung des Reichstags übrig, die durch mindestens einjährige Zwangsvertagung oder durch Auflösung mit ähnlich langem Aufschub der Neuwahlen oder ohne Neuwahlen oder mit einer Änderung des Wahlrechts und vielleicht anderer Verfassungsbestimmungen zu bewirken sei. Ein solches Vorgehen wird der Regierung derart nahe gelegt, daß es sich lohnt, die Frage seiner Vereinbarkeit mit der gegenwärtigen Reichsverfassung zu prüfen.“ (Ausschnitt in: R 43 I /1865 , S. 399 f.) Die dem RK nahestehende „Tägliche Rundschau“ propagiert den „Notstands“gedanken in ihrer Ausgabe vom 19. 1. und erneut am 24. 1. mit den Worten: „Das Parlament muß ausgeschaltet werden und mit ihm die Parteien […].“ (Tägliche Rundschau, Nr. 20 vom 24.1.1933). – Zu den Akten der Rkei sind in diesem Zusammenhang mehrere an den RK gerichtete Eingaben vom Januar 1933 genommen worden (R 43 I /1865 , passim). Vgl. dazu die in diesem Bd. als Dok. Nr. 68, 70 und 73 abgedruckten Materialien.

3

Walter Jellinek: „Verfassungsreform im Rahmen des Möglichen.“ A.a.O., 4. Jg., Heft 11, S. 267 ff. (R 43 I /1865 , S. 309–313).

4

Johannes Heckel: „Diktatur, Notverordnungsrecht, Verfassungsnotstand.“ A.a.O., NF 22, 1932, S. 270 ff. – Zur Bedeutung dieser Schrift für die staatstheoretische Diskussion in der späten Weimarer Republik vgl. E. R. Huber: Dt. Verfassungsgeschichte. Bd. VI, S. 702 ff. und Bd. VII, S. 1078 f.

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