2.201.1 (ma11p): 1. Politische Lage.

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1. Politische Lage.

Der Reichskanzler berichtet über die heute gepflogene Parteiführerbesprechung1. Der Gedanke des Blocks der Mitte sei zunächst durch die Stellungnahme der Deutschen Volkspartei nicht zu verwirklichen. Es sei in der Parteiführerbesprechung der Wunsch geäußert worden, die Deutschnationalen an die Regierungsbildung heranzulassen. Scheiterten sie, so sei eine neue Lage geschaffen. Es sei ferner darauf hingewiesen worden, daß vielleicht die drei Parteien der Regierung sich zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammenschließen könnten und daß bei Besprechungen mit den mit der Kabinettsbildung etwa beauftragten Deutschnationalen die drei jetzigen Regierungsparteien dann einheitlich handeln würden. Andere Teilnehmer der Besprechung hätten dieses Vorgehen als gefährlich bezeichnet, die Mehrzahl sei aber für eine Beteiligung der Deutschnationalen eingetreten.

[641] Es sei auch die Ansicht vertreten worden, das jetzige Kabinett solle nicht zurücktreten. Weiter sei angeregt worden, man solle unter der Hand mit anderen Parteien Fühlung nehmen. Dieser Weg wurde von anderer Seite aber als aussichtslos bezeichnet. Einigkeit habe darüber bestanden, daß ein Interregnum möglichst zu vermeiden sei. Unter dieser Voraussetzung wurde auch der Wunsch ausgesprochen, daß das Kabinett möglichst bald demissionieren müsse. Hiergegen wurde wiederum eingewendet, daß die Parteien noch nicht konstituiert seien. Endlich wurde die Ansicht vertreten, daß vor der Demission keine Regierungsbildungsverhandlungen stattfinden sollten, denn durch solche Verhandlungen würde die Autorität des jetzigen Kabinetts geschwächt werden.

Heute nachmittag habe er, der Kanzler, mit dem Reichspräsidenten über den gestern vom Kabinett in Aussicht genommenen Brief2 gesprochen. Der Präsident habe das Bedenken, daß auch durch die Absendung und Veröffentlichung eines solchen Briefes die Autorität der Regierung geschwächt würde. Den Gedanken des ersten Teiles des Briefes habe der Reichspräsident aber als geeignet für eine Willenskundgebung des Kabinetts bezeichnet. Der Reichspräsident sei bereit, dann hinzusetzen zu lassen, daß er diese Auffassung teile.

Der Reichsarbeitsminister erscheint und berichtet, daß im Bergarbeiterstreik ein Schiedsspruch in kurzer Zeit zu erwarten sei3. Er beabsichtige auch jetzt noch, sich völlig zurückzuhalten und bitte um Einverständnis des Kabinetts hierzu.

Das Kabinett erklärt sein Einverständnis.

Hierauf wurde in der Besprechung über die politische Lage fortgefahren.

Der Reichswehrminister Nach den Mitteilungen des Kanzlers wolle der Präsident das Gegenteil von dem, was das Kabinett gestern beabsichtigt habe. Das Kabinett habe gestern abgelehnt, wegen des Ausgangs der Neuwahl zurückzutreten. Es bleibe dann also nur übrig, die außenpolitische Entscheidung im Reichstag zu suchen. Dort würde das Kabinett zwar eine Mehrheit bekommen, aber doch wohl bald gestürzt werden. Die einzige Möglichkeit für das jetzige Kabinett, sich im Reichstag länger zu halten, sei das sozialdemokratische Votum. Dann aber käme man wieder äußerlich in Abhängigkeit von der Sozialdemokratie, was er für unerträglich halte. Aus all diesen Gründen habe er gestern den Gedanken ausgesprochen, daß es jetzt die Aufgabe des Präsidenten sei, mit den Parteien zu sprechen. Verhandlungen der Parteien unter sich hinter den Kulissen halte er für höchst gefährlich. Das Kabinett sollte seines Erachtens erklären, daß es nicht zurücktritt, daß dies aber kein Hindernis dafür sei, daß der Präsident die Möglichkeiten der deutschen Politik mit den Parteien bespreche. Vor einer solchen Erklärung des Kabinetts könne der Präsident dies nicht tun.

Der Reichskanzler Auch dieser Weg habe große Ähnlichkeit mit der Demission.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft berichtet über ein Gespräch, das er mit einem deutschnationalen Führer gehabt hat.

[642] Der Reichskanzler ergänzt seine Ausführungen über die Parteiführerbesprechung dahin: es sei dringend empfohlen worden, daß die drei Regierungsparteien die Grundlinien der zu führenden Außenpolitik festlegten. An der Hand dieses Programmes sollte dann am Montag [19. 5.] eine Besprechung in größerem Kreise stattfinden.

Der Reichswehrminister Das Kabinett müsse sich klar darüber werden, was es wolle und dementsprechend seinen Beschluß fassen. Er empfehle auch jetzt noch den Brief an den Präsidenten. Ginge dies nicht, dann bliebe nur die Möglichkeit, vor den Reichstag zu treten und sich stürzen zu lassen. Er bedauere den Standpunkt des Präsidenten; er müsse die Verhandlungen führen und die Legitimation dazu durch den Brief des Kabinetts erhalten.

Der Reichsminister des Innern kann den Standpunkt des Präsidenten verstehen, der durch solches Vorgehen eine Schwächung des Kabinetts fürchte, der auch Bedenken habe, seine Kompetenzen zu überschreiten, wenn er über eine Regierungsbildung verhandle, während ein nicht zurückgetretenes Kabinett vorhanden sei. Seines Erachtens könne der gestrige Beschluß des Kabinetts nicht aufgegeben werden. Das Kabinett könne nicht ohne Demission vor den Reichstag treten.

Die Politik könne jetzt nur mit den Deutschnationalen gemacht werden, wobei sie jedoch nicht die Führung zu haben brauchten. Hierzu würden sie nur schwer zu bewegen sein, aber er halte es doch für möglich. Die Deutschnationalen müßten jetzt über die Lage informiert werden, damit die unerträglichen Angriffe aufhörten. Wolle man eine andere Politik treiben, so würde ein tiefer Zwiespalt geschaffen, denn weite Kreise des gebildeten Mittelstandes verlangten die Mitarbeit der DN. Er fasse sich dahin zusammen: Das Kabinett müsse mit dem Zusammentritt des Reichstags zurücktreten, besser jedoch schon am Montag vorher. Dem Präsidenten müsse gesagt werden, das Kabinett sei damit einverstanden, daß er jetzt schon Fühlung mit den Parteien nehme.

Der Reichsminister des Auswärtigen Wenn dies Kabinett jetzt ohne Demission vor den Reichstag trete, so würde es zunächst eine Majorität von etwa 60 Stimmen finden. Es würden dann aber alsbald andere Dinge in die Diskussion geworfen werden, beispielsweise die dritte Steuernotverordnung, die einen Umschwung in dieser Majorität herbeiführen würde. Entscheidend sei für ihn die allgemeine Auffassung, daß das Kabinett durch den Wahlumschwung die moralische Pflicht zum Rücktritt habe. Er sei daher für die Demission. Komme man dann mit den Deutschnationalen nicht zurecht, dann könne das alte Kabinett wiederkommen und würde dann eine viel stärkere Stellung haben. Mit den Deutschnationalen müsse also verhandelt werden, das Organ dazu sei aber nicht der Kanzler. Ein Programm der Außenpolitik müsse formuliert werden, wonach das Gutachten ein unteilbares Ganzes sei; die politischen Fragen würden dabei zur Geltung zu bringen sein. Die Regierungsparteien müßten dann die DN zu einer Besprechung hierüber auffordern und sie vor die Frage stellen, ob sie dieses Programm annähmen. In gleicher Weise müßte die BVP befragt werden. Seiner Kenntnis nach würde Hergt etwa ein Drittel der Partei gegen sich haben, besonders auch in der Frage der Teilnahme der Demokraten. Die DVP bestehe auf der Beteiligung der Demokraten.

[643] Die Auffassung des Reichspräsidenten über den Brief bedauere er sehr. Er sei nicht der Ansicht, daß die Regierungsautorität durch solchen Brief geschwächt würde. Man könne den Entwurf am Schluß so formulieren, daß die Reichsregierung zum Rücktritt bereit sei, „sobald der Präsident nach Vorliegen entsprechender Fraktionsbeschlüsse und Erklärungen der Parteiführer die Bildung …4 für gegeben erachte.“ Er empfehle, daß mit dem Präsidenten nochmals über den Brief gesprochen werde, man brauche ihn ja nicht gleich zu veröffentlichen, könne ihn aber doch als Dokument niederlegen.

Der Reichspostminister Den Sozialdemokraten sei es am liebsten, wenn das jetzige Kabinett bliebe. Dies sei aber für Zentrum und DVP nicht gut möglich. Seines Erachtens müsse das Kabinett zurücktreten, ein Interregnum müsse nach Möglichkeit vermieden werden. Bedenken habe er aber dagegen, daß der Präsident die Deutschnationalen zur Regierungsbildung auffordere. Sie würden dann eine Formulierung finden, bei deren Ablehnung das Odium auf die jetzigen Regierungsparteien fiele. Die Regierungsbildung müsse seines Erachtens dem Mittelblock übertragen werden.

Es wird beschlossen, es bei dem gestrigen Beschluß über die Nichtdemission zu belassen. Staatssekretär Meissner soll den Präsidenten über das gesamte Ergebnis der heutigen Besprechung informieren.

Der Reichskanzler verläßt die Sitzung.

Fußnoten

1

Ein Protokoll über diese Besprechung war in den Akten der Rkei nicht zu ermitteln.

2

S. Dok. Nr. 199, Anm. 16.

3

Zum Schiedsspruch vom 16. 5. vgl. Dok. Nr. 198, Anm. 6.

4

Nach dem Briefentwurf zu ergänzen: „einer neuen RReg. auf parlamentarischer Grundlage“ (vgl. Dok. Nr. 199, Anm. 16).

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