2.71 (feh1p): Nr. 71 Der Reichsminister der Finanzen an den Reichskanzler. 17. September 1920

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Nr. 71
Der Reichsminister der Finanzen an den Reichskanzler. 17. September 1920

R 43 I /1304 , Bl. 173 Abschrift

[Betrifft: Rücktrittsgesuch des Reichsministers der Finanzen]

Hochzuverehrender Herr Reichskanzler!

Die Reichsbesoldungsordnung konnte nach dem Vorgehen der Länder bis jetzt leider noch nicht zum Abschluß gebracht werden1. Es liegt zur Zeit ein Referentenentwurf vor, der mit allen Reichsministerien und mit den zuständigen Beamtenorganisationen durchgesprochen wurde und der im wesentlichen eine Zusammenfassung der Stellungnahme der einzelnen Ministerien und Beamtenorganisationen[187] darstellt2. Es ist im höchsten Interesse des Reiches gelegen, diesen Referentenentwurf möglichst rasch im Reichskabinett zum Abschluß zu bringen, um die Beamtenschaft des Reiches und der Länder aus der gefährlichen nervösen Unruhe, die sich dauernd steigert, herauszubringen3. Um dieses wichtige Ziel zu erreichen, ist eine unbedingte Solidarität aller Reichsministerien unumgänglich notwendig. Diese Solidarität ist meines Erachtens nicht vorhanden. Vielmehr tritt eine scharfe Opposition des Reichspostministeriums in Erscheinung, die sich in öffentlichen Versammlungen wie auch, worauf ich besonders aufmerksam mache, im Haushaltsausschuß des Reichstages unbegreiflicherweise geäußert hat4. Angesichts dieser öffentlichen Opposition vermag ich ein gutes Ende in der Frage der Reichsbesoldungsordnung nicht abzusehen. Der Reichsfinanzminister kann unmöglich nur etwa darauf sehen, weitergehende Beamtenwünsche zu befriedigen, ohne gleichzeitig die drohende finanzielle Katastrophe des Reiches zu beachten. Ein nochmaliger Umbau und Ausbau der Reichsbesoldungsordnung nach den Wünschen des Postministeriums erfordert wieder namhafte Millionen, und dabei stehen im Hintergrund aufs neue gewaltige Forderungen der Beamten, die eine weit höhere Teuerungszulage und einmalige Entschuldungssummen verlangen. Nach meiner Auffassung fehlt es bei diesen neuen die Kraft des Reichs weit übersteigenden Wünschen an der nötigen Abwehrstellung einzelner Ministerien. Ich habe darüber im Kabinett die erforderlichen Mitteilungen gemacht5. Ich sehe keine Möglichkeit mehr, wenn die persönlichen Ausgaben des Reichs nochmals gesteigert werden sollten, in der Öffentlichkeit den Haushalt des Reichs zu vertreten. Ich kann eine Verantwortung angesichts der Haltung anderer Ministerien nicht mehr übernehmen, wobei der Aufschub wirtschaftlicher Reformen und der immer mehr um sich greifende Wuchergeist ebenfalls zu berücksichtigen sind. Ich bitte deshalb Sie, hochzuverehrender Herr Reichskanzler, nach Artikel 53 der Reichsverfassung beim Herrn Reichspräsidenten meine Entlassung vortragen zu wollen6.

1

Im Anschluß an das Besoldungsgesetz des Reiches vom 30.4.1920 (RGBl. 1920, S. 805  f.) hatten auch die Länder für ihren Bereich Besoldungsordnungen erlassen. Dabei hatten sie den äußeren Aufbau der Reichsbesoldungsordnung in allen wesentlichen Bestimmungen übernommen. Wichtige Unterschiede hatten sich dagegen in der Einstufung der Beamten in die Gruppen der Besoldungsordnung und bei der Berechnung des Besoldungsdienstalters ergeben.

Da einerseits das Reich nicht in der Lage war, diese Unterschiede finanziell auszugleichen, andererseits aber eine Gleichheit in der Besoldung bestehen sollte, war die im § 32 des Besoldungsgesetzes zum 31.10.1920 vorgesehene Neuregelung der Beamtenbesoldung noch nicht abgeschlossen worden. Vgl. dazu die Begründungen zum Ges.Entw. über die Änderung des Besoldungsgesetzes (RT-Drucks. Nr. 601 , Anlage, Bd. 364) und zum GesEntw. zur Sicherung einer einheitlichen Regelung der Beamtenbesoldung (RT-Drucks. Nr. 905 , Anlage, Bd. 364).

2

Nach langen Verhandlungen hatten sich das Reich und die Beamtenorganisationen auf einen gemeinsamen Vorschlag zur Neuregelung der Beamtenbesoldung geeinigt (Referentenvorschlag für die Besoldungsordnung I, RR-Drucks. Nr. 256, R 43 I /1359 , Bl. 12 ff.).

3

Seit Mitte des Jahres 1920 war eine steigende Unruhe unter der Beamtenschaft zu bemerken. Sie hatte ihre Ursache in der schlechten Besoldung der Beamten, die der steigenden Preisentwicklung gegenüber immer weiter zurückgeblieben war.

4

Der Referentenvorschlag für die Besoldungsordnung hatte dem Haushaltsausschuß des RT bereits zu einer vorläufigen Prüfung vorgelegen (R 43 I /1359 , Bl. 12). Bei dieser Gelegenheit hatte das RPMin. die Höherstufung einer ganzen Reihe von Beamtengruppen gefordert (DAZ Nr. 463 v. 21.9.1920, R 43 I /1304 , Bl. 177).

5

Kabinettssitzungen vom 23.7.1920, P. 3; 3.9.1920, P. 5 und 7.9.1920, P. 5.

6

Nach Art. 53 der RV wurden der RK und auf seinen Vorschlag die Reichsminister vom RPräs. ernannt und entlassen. Im folgenden gelang es jedoch offenbar, die bestehenden Gegensätze beizulegen, so daß Wirth sein Rücktrittsgesuch zurückzog (Schultheß 1920, I, S. 253).

Mit vorzüglicher Hochachtung

Ihr dankbar ergebener

gez. Dr. Wirth

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