2.130 (mu11p): Nr. 130 Geheimer Lagebericht des Staatskommissars für die Überwachung der öffentlichen Ordnung. 5. Juni 1920

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Nr. 130
Geheimer Lagebericht des Staatskommissars für die Überwachung der öffentlichen Ordnung. 5. Juni 1920

R 43 I /2305 , Bl. 102-106

Die Lage in Ostpreußen.

Über die Lage in Ostpreußen liegen ausführliche Berichte des Reichs- und Staatskommissars Borowski sowie des Mitarbeiters der „Freiheit“, Herrn Oehme, vor, der sich im Einverständnis mit dem Staatskommissar für die öffentliche Ordnung nach Ostpreußen begeben hatte, um dort zu den beunruhigenden Gerüchten, die über Vorbereitung eines Rechtsputsches umgehen, Eindrücke zu sammeln. Der Staatskommissar, der jene Gerüchte für weit übertrieben ansieht, legte Wert darauf, sie durch einen politisch linksstehenden Mann nachprüfen zu lassen und dessen Urteil kennen zu lernen1.

1

Hierzu hatte es im Lagebericht des StKom. vom 17. 5. geheißen: „In den Arbeiterkreisen Ostpreußens wird konsequent das Gerücht verbreitet, daß ein reaktionärer Kapitalistenputsch unmittelbar bevorstehe, der sofort durch ein Losschlagen von seiten der Linksradikalen beantwortet werden müsse. Das Oberpräsidium Königsberg ist der Meinung, daß die Hetzer, da das Gerücht von einem geplanten Putsch der Rechten willkürlich aus der Luft gegriffen sei, für ihre eigenen Zwecke einen solchen Frevel irgendwie in Szene setzen könnten. […] Im Gegensatz zu der Auffassung des Oberpräsidiums, daß der Ausbruch einer rechtsradikalen Aufstandsbewegung in Ostpreußen gegenwärtig gänzlich ausgeschlossen sei, wird von anderen Stellen eine gegenteilige Ansicht vertreten. Bei der Wichtigkeit der Sache erscheint es geboten, sich über die Lage in Ostpreußen volle Aufklärung zu verschaffen“ (R 43 I /405 , Bl. 146-150).

[314] Der Bericht Borowskis stellt fest, daß sich weite Teile der arbeitenden Bevölkerung in erheblicher Besorgnis vor einem von rechter Seite ausgehenden Putsch befinden. Er nimmt als erwiesen an, daß sich auf vielen Gütern umfangreiche Waffenlager befinden, die nicht nur zu Selbstverteidigungszwecken dienen oder den Waffenbeständen der Einwohnerwehr entstammen. Ob es sich dabei um militärischerseits organisierte Waffendepots, die Waffen vor der „Entente“ in Sicherheit bringen und für Ostpreußens Schutz zurückbehalten sollten, handelt oder um von den Baltikumtruppen zurückgelassenes Heeresgut hätte nicht festgestellt werden können. Ebenso hätte die Richtigkeit von Mitteilungen über Einzelheiten eines bevorstehenden Rechtsputsches nicht erwiesen werden können. Berichte, die von der Anwesenheit schwer bewaffneter ehemaliger Heeresangehöriger auf dem Lande sprachen, die sich offen mit Putschabsichten brüsten, seien unbestätigt geblieben2. Die Umbildung der Sicherheitspolizei habe die Putschgefahr von rechts erheblich gemildert. Beunruhigend sei dagegen die Haltung maßgebender Persönlichkeiten im Wehrkreiskommando I. Das Wehrkreiskommando I in seiner heutigen Zusammensetzung werde vielleicht einem Umsturzversuch, der sich nach außen hin gegen die Regierung richte, nicht beitreten, sollte ein solcher aber unter nationalem Deckmantel, im Kampfe gegen Polen oder Rußland, verkleidet sein, so würde das Wehrkreiskommando recht bald zu den „Geschobenen“ zählen3.

2

Demgegenüber war in der Abendausgabe der „Freiheit“ vom 28. 5. ein Artikel erschienen, wonach der Reichs- u. StKom. Borowski gesagt haben sollte: „Er fürchte tagtäglich den Ausbruch eines Rechtsputsches, er habe erst in den letzten Tagen auf Gütern eine größere Anzahl von Maschinengewehren beschlagnahmt, es fehle ihm an polizeilichen Hilfskräften, das Reichswehrgruppenkommando verteile entlassene Soldaten auf Güter und reihe sie in die Einwohnerwehren ein, die Einwohnerwehren hätten überall große Waffendepots, hielten militärische Übungen ab und verrichteten, z. B. in Tilsit, Militärdienste, neuangeworbene Söldner strömten dauernd nach Ostpreußen, alle Organisationen seien im Reichswehrgruppenkommando I unter Leitung des Generals von Dassel zusammengefaßt usw.“ (Lagebericht des StKom. vom 31. 5.; R 43 I /398 , gefunden in R 43 II /398 , Bl. 43-47). Da nach Borowskis Meinung dieser Artikel an Landesverrat grenzte, ließ er Oehme verhaften. Der RIM forderte daraufhin Borowski auf, die strafrechtlichen Gründe für die Verhaftung mitzuteilen, „da nach Aufhebung des Ausnahmezustandes eine Inschutzhaftnahme nicht zulässig sei“ (a.a.O.).

3

Wegen dieser Äußerungen verwahrte sich der RWeM – wie schon früher – dagegen, daß „ohne Anhörung des RWeMin. schwere Anschuldigungen gegen eine militärische Behörde, das Wehrkreiskommando I, zur Kenntnis vieler Regierungs- und Verwaltungsstellen gebracht“ würden. Der RWeM fügte hinzu: „Die Verdächtigungen sind völlig grundlos und ich kann nur annehmen, daß der Verfasser des Berichtes, der sie ungeprüft weitergab, sich der vollen Schwere seiner Anklagen nicht bewußt gewesen ist“ (R 43 I /2305 , Bl. 101). In einem Randvermerk vom 6. 7. wies Kempner darauf hin, daß Vorwürfe wie gegen den StKom. vom RWeM auch gegen die Pressekonferenz erhoben worden seien. Der StSRkei habe angeordnet, die Angelegenheit solle ruhen, „bis ein ruhigerer Geschäftsgang eingetreten sei“ (a.a.O.).

Im gegenwärtigen Augenblick sei die Gefahr eines Rechtsputsches mit Rücksicht auf die Umgestaltung der Sicherheitspolizei „nicht völlig akut“.

Die kommunistische Agitation habe sich seit der ersten Hälfte des Mai recht lebhaft gestaltet. Die Kluft zwischen KPD und USPD erscheine sehr breit, und die KPD mache die größten Anstrengungen, die Mitglieder der USPD zu sich herüberzuziehen4. Eine stärkere Position habe die KPD jedoch nur in[315] Wehlau, in Eydtkuhnen, Stadt und Land, sowie in Tilsit, wo die Zentrale der Bewegung vermutet wird, von der anscheinend Verbindungen nach Rußland hinüberlaufen. Von dem Bestehen eines kommunistischen Landbundes werde berichtet, doch sei dieser bisher nirgends hervorgetreten. Die Betätigung und der Einfluß russischer Agenten könne als erwiesen gelten. Im Gegensatz zur Auffassung des Wehrkreiskommandos sei nichts festzustellen gewesen, was auf einen bevorstehenden Linksputsch hindeute. Die Gefahr, daß bei einem fortschreitenden Erfolg der bolschewistischen Heere auch in Ostpreußen kommunistische Umsturzbestrebungen ausgelöst werden, ließe sich in ihrem ganzen Umfange nicht übersehen, bestehe aber jedenfalls in erheblichen Maße.

4

Im Lagebericht vom 17. 5. hatte der StKom. über die ostpreußische KP mitgeteilt, sie habe starken Zuzug aus dem Ruhrgebiet erhalten. „Die Mehrzahl der USPD-Mitglieder in Allenburg, Wehlau und Gumbinnen ist in das kommunistische Lager übergegangen“ (R 43 I /405 , Bl. 146-150).

Nach dem Bericht Oehme kann man von einem kommunistischen Putschbestreben nicht gut sprechen wegen der geringen Ausdehnung der kommunistischen Bewegung in Ostpreußen und der Tatsache, daß dort Rechtssozialisten und Unabhängige harmonisch zusammenarbeiten. Die großen im Lande vorhandenen Waffenlager könnten aber im Falle einer Beunruhigung von den Arbeitern, denen ihr Vorhandensein zumeist bekannt sei, gestürmt werden, wie es in diesen Tagen im Kreise Preußisch-Eylau geschehen ist. Hierin liege eine gewisse Gefahr.

Ebensowenig könne ein Rechtsputsch in der nächsten Zukunft als bevorstehend angenommen werden. Die Bewaffnung der Gutsbesitzer sei in der Hauptsache tatsächlich auf die Furcht zurückzuführen, die sie vor den Bolschewisten und auch vor den eigenen Arbeitern hätten. Dagegen müßte das Wehrkreiskommando I in seiner heutigen Zusammensetzung mit Mißtrauen betrachtet werden.

Der Bericht Oehme schließt mit einigen Wünschen für Änderungen in der Besetzung von militärischen und Verwaltungsstellen, Ausbau der Sicherheitspolizei, restlose Beseitigung von Waffendepots und illegalen Waffenvorräten usw.

Militärische Vorbereitungen der Revolutionären.

Ein an den „Aktionsausschuß in Weißenfels“ gerichtetes Schreiben vom 25. März, das irrtümlich beim Weißenfelser Landratsamt abgegeben worden war, liegt hier im Original vor. Der Umschlag ist auf der Vorderseite mit dem Stempel „Frei durch Ablösung Nr. 11 Landesregierung Gera“ und auf der Rückseite mit dem Briefstempel „Die Landesregierung des Volksstaates Reuß“ versehen. Der Inhalt des Schreibens ist folgender:

Einteilung der Militärabteilung.

A. Kampfleitung.

B. Wehrorganisation.

C. Stab.

1.

Leitung und Befehlsabteilung.

2.

Nachrichtenabteilung.

3.

Volkswehr:

a. Schreibstube, b. Verpflegungsabteilung, c. Zahlmeisterei.

I., II. und III. Hundertschaft zu je 150 Mann.

4.

Spezialabteilungen (mit Löhnung und Verpflegung der I. Hundertschaft zugeteilt.)

[316]1. Stoßtrupps mit Sprengkolonnen, 2. Kavallerieabteilung, 3. Autoabteilung, 4. Fahrräderabteilung, 5. Munitionsabteilung, Ferngläser, 6. Waffenmeisterei.

Die Behauptung, daß von einer Vorbereitung roter militärischer Kampforganisationen nirgends die Rede sei, dürfte durch dieses Schriftstück widerlegt sein.

Kein „regierungsloses“ Interregnum.

Der Reichswehrminister hat in einer Besprechung den Generalen der Reichswehr am 3. Juni d. Js. eröffnet, daß er im Namen des Reichskanzlers die Zusicherung geben könne, daß nach den Wahlen eine verfassungsmäßige Regierung unter allen Umständen gebildet werden würde5. Diese Erklärung ist deshalb außerordentlich wichtig, weil die Bedenken nicht nur das Verhalten der Reichswehr und anderer Sicherheitsorgane betreffen, falls auch nur wenige Tage ein „regierungsloser“ Zustand eintreten sollte. Auch eine Wirkung auf die Auslandspolitik, insbesondere die bevorstehende Konferenz in Spa, ist nicht von der Hand zu weisen. Am bemerkenswertesten aber erscheint der Umstand, daß nach den vorliegenden Nachrichten die KAPD und die auf Gewalt drängenden Hetzer anderer linksradikaler Parteien ihre besondere Hoffnung auf eine „regierungslose Zeit“ setzen, um unter der Behauptung: „Die Mehrheit ist nicht imstande, eine lebensfähige Regierung zu begründen“, einen Versuch zu unternehmen, ihr Ziel, „die Aufrichtung der Diktatur des Proletariats“, durchzusetzen.

5

Zu diesem Abschnitt bemerkte der RWeM, „daß mir der Zweck dieser Verwendung meiner Ansprache vom 3. 6. nicht recht verständlich ist“ (R 43 I /2305 , Bl. 101). Zum Inhalt der Besprechung s. DBFP 1st ser. vol. IX, pp. 518 sq.

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