1.5 (bau1p): Räumung des Baltikums

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Das Kabinett BauerKabinett Bauer Bild 183-R00549Spiegelsaal Versailles B 145 Bild-F051656-1395Gustav Noske mit General von Lüttwitz Bild 183-1989-0718-501Hermann EhrhardtBild 146-1971-037-42

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Räumung des Baltikums

Die politische und militärische Lage in den zur Eigenstaatlichkeit drängenden ehemals russischen Ostseeprovinzen hatte nach der Novemberrevolution und dem Zusammenbruch der deutschen Westfront im November 1918 verständlicherweise nicht im Zentrum der deutschen Reichspolitik und der alliierten Aufmerksamkeit gestanden. Vor dem Hintergrund eines noch unentschiedenen Ausgangs des russischen Bürgerkriegs verband bei den Waffenstillstandsverhandlungen in Compiègne die gemeinsame Furcht vor einer Europa überschwemmenden kommunistischen Gefahr die Vertreter der Weltkriegssieger und die Repräsentanten des demokratisch-republikanischen Deutschland, so daß der vorläufige Verbleib der noch im Baltikum stehenden deutschen Kampf- und Besatzungstruppen zum Schutz gegen bolschewistische Übergriffe vereinbart[XLVI] wurde. Die den deutschen Streitkräften zugewiesene Rolle war geeignet, auf deutscher Seite trügerische Hoffnungen bei den Exponenten einer Politik zu wecken, die bestrebt war, nach dem Weltkrieg im Osten den politischen Ausgleich für den in Mittel- und Westeuropa verlorenen Einfluß zu schaffen und das Baltikum zum Glacis eines Arrangements Deutschlands im Osten beziehungsweise zum Bindeglied einer erneuerten deutsch-russischen Annäherung zu machen. Sowohl der deutsche Generalbevollmächtigte für die Baltischen Lande, der Sozialdemokrat August Winnig, wie auch der seit Februar 1919 die deutschen Truppen befehligende Generalmajor Graf von der Goltz verfolgten daraufhin mit vielfach durch die Aussicht auf Landbesitz und Ansiedlung in das Land gelockten Freikorpssoldaten über den passiven Grenzschutz hinaus antibolschewistische Kreuzzugsideen und kolonisatorische Annexionsabsichten131. Damit entzog sich im Frühjahr 1919 das deutsche Baltikumengagement weitgehend der Steuerung durch die Berliner Regierungsstellen, um – was abzusehen war – dafür zunehmend mit den nationalen baltischen Interessen, den territorial-revolutionären Belangen Sowjetrußlands und den politisch-ökonomischen Ambitionen der Alliierten zu kollidieren132.

131

Dok. Nr. 71.

132

Dok. Nr. 37, P. 12; 140, P. 1.

Die Aussicht, am Aufbau später eventuell ententeabhängiger baltischer Ostseerepubliken mitzuhelfen, die sich dann wie ein Sperriegel zwischen Deutschland und Rußland legen würden, veranlaßte das Kabinett Scheidemann im Mai 1919, die Baltikumpolitik neuzuorientieren und die Liquidierung des Unternehmens einzuleiten133. Diesem Vorhaben hatten die Alliierten unter Hinweis auf die Waffenstillstandsvereinbarungen zunächst widersprochen, es am 18. Juni 1919 mit Bezug auf die gleiche Rechtsgrundlage jedoch zu einer eigenen Forderung erhoben. Damit verschoben sich für das Kabinett Bauer die diplomatischen Grundlagen der deutschen Baltikumpolitik entscheidend. Eine weiterhin dilatorische Behandlung der im Mai beschlossenen Kurskorrektur drohte von nun an die Glaubwürdigkeit der mit der Unterschrift unter den Friedensvertrag besiegelten neuen Phase der deutschen Außenpolitik zu kompromittieren. Reichspräsident Ebert räumte am 3. Juli 1919 einer sogenannten deutschen „Versöhnungspolitik in Lettland“, wie sie die Kommandostelle Kolberg, die die deutschen Osttruppen befehligte, immer noch für möglich hielt, „keinerlei Erfolg“ mehr ein und befürwortete lebhaft „zum wiederholten Male die Durchführung der beschleunigten Räumung, namentlich die Abberufung des Generals v. d. Goltz“134. Mit der Beschränkung Winnigs auf das Amt des Oberpräsidenten von Ostpreußen und der Bestellung eines deutschen Gesandten im Baltikum, „der die derzeitige Auffassung des Auswärtigen Amtes vertreten soll“135, gelang es Reichsaußenminister Müller den von hohen Militärs, Diplomaten und Beamten verursachten Kursabweichungen endlich entgegenzusteuern.[XLVII] Die schlingernde Baltikumpolitik sollte dem vehement für die Einhaltung der „mit der Entente geschlossenen Abkommen“ plädierenden Reichsaußenminister aber noch wiederholt aus dem Ruder laufen136.

133

Siehe diese Edition: Das Kabinett Scheidemann, Dok. Nr. 52; 66, P. 7.

134

Randvermerk Eberts vom 3.7.1919 auf einem Telegramm der Kommandostelle Kolberg an das AA vom 2.7.1919 (PA, Wk 20d, Nr. 1a, Bd. 39).

135

Dok. Nr. 35, P. 5.

136

Dok. Nr. 35, P. 5; 52; 53, P. 2; 58, P. 3.

Die Räumung des Baltikums enthüllte erneut, in welcher Diskrepanz Handlungswille und Handlungsvermögen der Reichsregierung zueinander standen. Vor dem Hintergrund der machtpolitischen Abhängigkeit der Regierung von den Militärs vermochten Reichswehrminister Noske und Oberst Reinhardt sich mit vordergründig auf die Sicherung der ostpreußischen Grenze abzielenden militärischen Argumenten gegen einen voreiligen Rückzug der Baltikumtruppen im Kabinett zunächst noch durchzusetzen137. Mit der vom Reichswehrminister insgeheim geduldeten Eingliederung nicht rückkehrwilliger Deutscher in die Reihen der weißrussischen Westarmee des Obersten Bermondt wurde den erklärten Absichten des Gesamtkabinetts sogar zuwider gehandelt138. Die aus dieser kabinettsinternen Zerrissenheit resultierenden unklaren Befehle waren geeignet, die auf ihrem inzwischen obsolet gewordenen Siedlungsrecht in Lettland beharrenden „Baltikumer“ in der Annahme zu bestärken, den Berliner Regierungsstellen komme die Verzögerungstaktik ihrer zunehmend realitätsfernem Wunschdenken verhafteten militärischen Führer durchaus gelegen.

137

Dok. Nr. 29; 53, P. 2.

138

Dok. Nr. 67, P. 1, Anm. 4.

In immer dringlicheren Interventionen unterstellten die Alliierten der Reichsregierung dagegen, sie hintertreibe ebenso böswillig den Abbruch des Baltikumunternehmens wie die vereinbarten Kohlelieferungen an Frankreich139. Am 27. September 1919 setzten die Alliierten den Schraubstock wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen an und sperrten Anfang Oktober die Ostsee erneut für deutsche Schiffe. Erst jetzt überwand das Kabinett seine unentschlossene Haltung und zog – im wesentlichen durch die Sperrung der finanziellen Mittel – einen endgültigen Trennungsstrich zwischen sich und den obstinaten Baltikumkämpfern140.

139

Dok. Nr. 58, P. 3; 67, P. 1; 77, P. 3; 90, P. 2.

140

Dok. Nr. 67, P. 1; 72, P. 1; 77, P. 3; 82, P. 2 und 3.

Die Regierungsautorität wurde in diesen Monaten auf eine ernste Belastungsprobe gestellt. Mit militärischen Machtmitteln konnten die abberufenen, gleichwohl unbotmäßigen Truppenkontingente deutscherseits nicht zum Einlenken gezwungen werden141. Es gelang der Reichsregierung nicht einmal, den eigenen Beschluß, die ostpreußische Grenze für weitere Truppen- und Munitionstransporte ins Baltikum zu schließen, gegenüber den eigenen Militärbehörden durchzusetzen142. Erst in militärisch aussichtsloser Lage unterstellten sich die Bermondt-Truppen einschließlich der in sie inkorporierten deutschen Korps dem Kommando des von der Reichsregierung mit der Abwicklung des Rücktransports beauftragten Generalleutnant von Eberhardt143.

141

Dok. Nr. 58, Anm. 5; 72, Anm. 2.

142

Dok. Nr. 90, P. 1.

143

Dok. Nr. 97, P. 3; 106, P. 1.

[XLVIII] Die republik- und regierungsfeindlichen Umtriebe einzelner zurückkehrender Baltikumoffiziere wurden in jenen Tagen auf dem Markt der Meinungen offen gehandelt und der Reichsregierung teils abwiegelnd, teils warnend zur Kenntnis gebracht. Diese widmete dem von den Osttruppen ausgehenden Sicherheitsrisiko und der Stärkung des national-revolutionären Kräftepotentials keine erkennbare Aufmerksamkeit144. Dagegen zogen die lettischen und litauischen Überfälle auf die nun zu einem militärisch gedeckten Rückzug gezwungenen Truppen neben der Abwehr als hemmend und anmaßend empfundener Eingriffe der Interalliierten Baltikumkommission in das laufende Räumungsgeschehen das Augenmerk des Kabinetts verstärkt auf sich145. Der Tatsache, daß die lettische Regierung noch am 26. November 1919 dem Deutschen Reich den Krieg erklärt hatte, wurde sich die Reichsregierung erst bewußt, nachdem die letzten Einheiten am 16. Dezember 1919 die Reichsgrenze bereits überschritten hatten und der Weg frei war für die Bestandsaufnahme einer „zwölf Monate lang zaudernd, mit untüchtigen Mitteln und falscher Perspektive“146 von der Reichsregierung mehr geduldeten als geführten deutschen Ostpolitik147. Es ist bezeichnend, daß sich das Kabinett Bauer im Rahmen der Demobilmachungsmaßnahmen zuletzt noch mit der ihr von den Militärbehörden aufgenötigten, nicht mehr rückgängig zu machenden Amnestierung der befehlsverweigernden Baltikumsoldaten befassen148 und der Reichskanzler den Reichswehrminister Anfang März 1920 auf die „politisch bereits fühlbaren und schwer erträglichen“ Folgen der Verzögerung von Disziplinarverfahren gegen Soldaten aufmerksam machen mußte, denen die Interalliierte Baltikumkommission Verfehlungen während der Räumungsaktion zur Last legte149.

144

Dok. Nr. 71; 102; 122, Anm. 7; 156, Anm. 7.

145

Dok. Nr. 99, P. 1; 106, P. 1; 112, P. 12; 137, P. 4.

146

Zit. nach H. E. Volkmann: Das deutsche Reich und die baltischen Staaten 1918 bis 1920. S. 402.

147

Dok. Nr. 133, P. 2; 137, P. 3; 140, P. 1.

148

Dok. Nr. 156, P. 1 und 2.

149

Der RK an den RWeM, 4.3.1920 (R 43 I /49 , Bl. 140). – Zum Gesamtzusammenhang s. Dok. Nr. 106, Anm. 3; 140, P. 1.

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