2.123 (sch1p): Nr. 117 Geheime Aufzeichnung des Reichsministers des Auswärtigen über die Kabinettssitzungen in Weimar am 20. Juni 1919. 1. Juli 1919

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[496] Nr. 117
Geheime Aufzeichnung des Reichsministers des Auswärtigen über die Kabinettssitzungen in Weimar am 20. Juni 1919. 1. Juli 1919

PA, Nachlaß Brockdorff-Rantzau, Az. 19

Am Freitag, dem 20. Juni morgens fand eine Kabinettssitzung unter dem Vorsitz des Reichspräsidenten statt. Durch die Demission des Kabinetts1 war die Lage so zugespitzt, daß beschlossen wurde, den Friedensausschuß nicht zu berufen. Ich erklärte auch ausdrücklich, daß ich nicht erscheinen werde oder entschlossen sei, meinen ablehnenden Standpunkt zu begründen. Es wurde dann eingehend beraten, wie gegenüber der Entente zu verfahren sei. Erzberger schlug vor, es solle eine Depesche nach Paris geschickt werden, in der der Entente mitgeteilt wird, das Kabinett habe demissioniert, und es sei eine Mehrheit für die Annahme in der Nationalversammlung nicht zu finden, wenn die Ehrenpunkte der Schuld und der Auslieferung in dem Vertrage stehen blieben. Ich erklärte, ich könne mir von einer derartigen Depesche einen Erfolg nicht versprechen, weil unsere Gegner auf die Schuldfrage ihre ganze schamlose Aktion basiert hätten. Der Reichspräsident bat darauf die Mitglieder des Kabinetts, bis zum Montag, also bis zur Antwort der Entente, die Geschäfte weiterzuführen. Scheidemann erklärte sich sofort damit einverstanden und ebenso der Minister Landsberg. Ich zögerte aber und betonte, daß ich zwar die laufenden Geschäfte vielleicht weiterführen könne, jede politische Verantwortung aber ablehnen müsse. Mir wurde darauf vom Reichspräsidenten erwidert, er sei in dieser Form mit der Weiterführung der auswärtigen Geschäfte durch mich einverstanden und für meine Erklärung dankbar.

1

Siehe Dok. Nr. 118.

Es wurde dann über den Wortlaut der nach Paris zu depeschierenden Note verhandelt, und ich sagte zu, daß ich mit dem Ministerpräsidenten und dem Minister Erzberger den Wortlaut vereinbaren werde, indem ich ausdrücklich wiederholte, ich tue dies nur, um formale Versehen zu vermeiden, eine materielle Verantwortung übernehme ich nicht, werde auch die Depesche nicht unterzeichnen.

Unmittelbar anschließend an die Kabinettssitzung fand eine Beratung bei Scheidemann statt, der Erzberger, Dernburg, der Unterstaatssekretär Albert und außer mir auf meinen Wunsch auch der Ministerialdirektor Simons beiwohnten. Nach ewigem Hin und Her wurde der Wortlaut festgestellt2, worauf[497] Scheidemann plötzlich die Frage aufwarf, wer die Note unterzeichnen solle, indem er hinzufügte, selbstverständlich werde ich das wohl tun. Ich erinnerte ihn daran, daß ich ihm vor einer halben Stunde erklärt habe, ich weigere mich unbedingt, die Unterschrift zu vollziehen. Er antwortete darauf, er selbst denke auch nicht daran, sich noch mit dieser Blamage zu belasten. Jetzt äußerte Dernburg, dann müsse, da ich ja demissioniert habe, der Unterstaatssekretär Baron Langwerth unterschreiben. Ich erwiderte, er habe bereits seinen Abschied eingereicht und werde sich sicher weigern; ich werde ihm aber sofort telefonieren und ihn ersuchen, zu kommen. Nach etwa zehn Minuten erschien Baron Langwerth. Ich erklärte Erzberger, ich werde den Unterstaatssekretär Baron Langwerth nicht persönlich sprechen, damit es nicht heißen könne, ich hätte ihn beeinflußt. Infolgedessen wurde der Unterstaatssekretär Albert zum Baron Langwerth geschickt. Nach kurzer Zeit begab ich mich in das Zimmer, wo beide Herren verhandelten und fand sie in höchster Erregung. Albert hatte dem Baron Langwerth erklärt, ihm werde als Beamten einfach befohlen, die Unterschrift zu vollziehen. Baron Langwerth hatte darauf erwidert, er verbitte sich jeden Befehl, er habe sein Abschiedsgesuch bereits in der Tasche und werde es sofort überreichen. Der Unterstaatssekretär Albert lenkte darauf ein und erklärte sehr liebenswürdig, er habe ja nur den Auftrag, dessen er sich eben entledigt habe, gehabt; im übrigen beglückwünsche er den Baron Langwerth zu seiner männlichen Haltung.

2

Der Wortlaut der geplanten Depesche lehnte sich an den Vermittlungsvorschlag der DDP vom Vortag an, s. Dok. Nr. 118, Anm. 6. Der Text sollte lauten: „Herr v. Haniel wird ersucht, namens der RReg. folgende Note sofort nach Eintreffen Herrn MinPräs. Clémenceau zu übergeben. Die dt. Friedensdelegation hat der RReg. die Antwort der all. und ass. Mächte vom 16.6.1919 überbracht. Die Verhandlungen innerhalb des Kabinetts und in der NatVers haben ergeben, daß die zu einer rechtsgültigen Annahme des Friedensvertrages in der vorgelegten Form notwendige Mehrheit im Parlament nicht zu erzielen ist. Das Kabinett hat seine Entlassung eingereicht und führt einstweilen die Geschäfte weiter.

Dtl. kann eine Verpflichtung zur Auslieferung nach Art 227–230 des Friedensvertrages nicht übernehmen. Dtl. kann nicht anerkennen, daß das dt. Volk der allein Schuldige am Kriege sei.

Eine Mehrheit in der NatVers und ein neues, von ihrem Vertrauen getragenes Kabinett, das bereit wäre, den Friedensvertrag zu unterzeichnen, kann unmittelbar nach Eintreffen der Antwort der all. und ass. Mächte, der vor Ablauf der gestellten oder nach Bedarf zu verlängernden Frist entgegengesehen werden darf, nur dann gebildet werden, wenn diese Antwort den Verzicht auf diese Forderungen ausspricht und außerdem eine befriedigende Lösung in folgenden Punkten bringt:

1. Aufnahme Dtl. als gleichberechtigtes Mitglied in den Völkerbund mit einer Wartezeit bis nicht über den 1.1.1920 hinaus.

2. Danzig, Westpreußen und der Netzedistrikt werden nach Inkrafttreten des Friedens dem Völkerbund unterstellt, und zwar auf die Dauer von 2 Jahren. Während dieser Zeit werden alle Maßnahmen durchgeführt, welche Dtl. in seinen Gegenvorschlägen für Sicherung des freien Zugangs der Polen zum Meer angeregt hat. Nach 2 Jahren prüft der Völkerbund, ob diese Maßnahmen ausreichend sind, um das berechtigte polnische Interesse zu befriedigen. Sind sie ausreichend, so fallen diese Gebietsanteile unter Aufrechterhaltung der getroffenen Maßnahmen an Dtl. zurück. Werden sie vom Völkerbund nicht als ausreichend angesehen, so bleibt es bei den Bestimmungen des Friedensvertrags. Die dt. Reg. macht diesen Vorschlag, um Blutvergießen zu verhindern, das bei einer sofortigen Abtretung dieser Gebiete an Polen unvermeidlich und nicht zu verhindern wäre, und für das jede Reg. die Verantwortung ablehnen müßte.

3. Dtl. nimmt die Vorschläge behufs Festsetzung der Höchstsumme der Entschädigungen an, wonach Dtl. innerhalb 4 Monaten seine Vorschläge einreicht, und die all. und ass. Mächte innerhalb 2 Monaten sie prüfen. Kommt eine Verständigung nicht zustande, so entscheiden über die Höchstsumme nicht die all. und ass. Mächte, sondern eine dritte unparteiische Stelle.

4. Dtl. anerkennt, daß die all. und ass. Mächte in der Note vom 16. 6. bereits zugestanden haben, daß im Völkerbund schon jetzt das Instrument für eine allgemeine Revision des Reglements von 1919 geschaffen worden ist. Diese Revision soll spätestens nach 2 Jahren, gerechnet von der Unterzeichnung des Vertrags, vorgenommen werden.“ (PA, Dt. Friedensdelegation in Versailles, Pol 13. Bd. 5). Eine Unterschrift trägt der Entwurf nicht.

[498] Als den Ministern von mir die Weigerung Langwerths mitgeteilt wurde, äußerte Erzberger, nachdem Dernburg sich inzwischen entfernt hatte, dann könne ja der Minister Dernburg als Vizepräsident des Reichsministeriums unterschreiben.

Nachmittags fand eine Fraktionssitzung der Mehrheitsparteien statt3. Die Demokraten verlangten außer den Ehrenpunkten genau formulierte weitere Forderungen. Es kam dabei zu sehr scharfen Auseinandersetzungen, so daß schließlich Scheidemann, der den Vorsitz führte, erklärte, wenn er gewußt hätte, daß die Note auf solche Schwierigkeiten stoße, wäre er eines schweren Entschlusses enthoben gewesen, nachdem aber er und seine Kollegen sich zu dem Opfer bereitgefunden hätten, im Amte bis zur Antwort der Entente auszuharren und damit die Verantwortung zu tragen, bitte er dringend, sich jetzt doch zu einigen. Dieser Appell blieb nicht wirkungslos. Ich erhob mich aber sofort, bat Scheidemann, ihn unter vier Augen sprechen zu dürfen und erklärte ihm, er habe soeben gesagt, er und seine Kollegen hätten sich entschlossen, die Verantwortung für die Politik bis zum Eintreffen der Antwort der Entente zu tragen, diese Erklärung laufe diametral meiner Auffassung zuwider, und ich werde sofort eine entsprechende Erklärung abgeben; ich lege um so mehr Wert darauf, als die Situation eine sehr große Ähnlichkeit mit der Lage vom 16. Februar habe4, und ich verspürte nicht die Neigung, daß mir heute, wo die Lage noch viel kritischer sei, der Vorwurf wie damals gemacht werde, ich habe vor den Fraktionsführern mich nicht genügend deutlich über meine Stellungnahme geäußert; er werde sich entsinnen, daß ich damals auf seinen ausdrücklichen Wunsch davon Abstand nahm. Scheidemann erwiderte, wenn ich diese Erklärung abgäbe, werde er dasselbe tun.

3

In seiner Tagebuchaufzeichnung vom 23.6.1919 berichtete Koch-Weser: „Seit Freitag ein völlig haltloses Abgleiten von Zentrum und Sozialdemokratie. Der Versuch, eine Einigung herbeizuführen, ist mißglückt. Wir wollten in einer als unser letztes Zugeständnis gesprochenen Antwortnote, ausgehend von einem Kabinett der Gegner der Annahme, gebildet aus unserer Mehrheit und der Minderheit des Zentrums und der Sozialdemokratie, wenigstens die sechs wichtigsten Punkte retten. Ich und die meisten haben diesen Vorschlag an die anderen Parteien nur mitgemacht, um die Mehrheit in der Partei fest zusammenzuhalten und die Minderheit nicht anschwellen zu lassen. Die Ablehnung des Vorschlages bei den beiden anderen Parteien schien mir sicher. Unsere Führer gingen vollmachtlos noch einen Schritt weiter und vereinigten sich mit den anderen Parteien auf die Absendung einer Zwischennote gleichen Inhalts durch das alte geschäftsführende Ministerium. Während ein Mann gesucht wurde, der unterschriebe, kam die sozialdemokratische Fraktion zu der Überzeugung der Unmöglichkeit dieses Schrittes und widerrief ihren Beitritt. […]“ (Nachl. Koch-Weser , Nr. 16).

4

Siehe Dok. Nr. 2.

Ich bat darauf Herrn von Payer, der den Vorsitz führte, ums Wort und erklärte, angesichts der Äußerung des Herrn Ministerpräsidenten, er und seine Kollegen hätten durch die Fortführung ihrer Ressorts die Verantwortung bis zur Antwort der Entente übernommen, stelle ich hiermit ausdrücklich fest, daß ich diese Verantwortung, wie ich bereits im Kabinett betont habe, unbedingt ablehne, daß ich die Note nicht billige, weil ich sie für aussichtslos halte, und daß ich mich darum auch geweigert habe, meine Unterschrift dafür herzugeben. Diese Erklärung wirkte so durchschlagend, daß bei den darauf folgenden[499] Auseinandersetzungen zwischen dem Zentrum und den Demokraten der Präsident Fehrenbach äußerte, er sehe, wenn die Demokraten auf ihrem Standpunkt weiter beharrten, ein ferneres Zusammenarbeiten zwischen dem Zentrum und der demokratischen Partei für aussichtslos an. Daraufhin bequemten die Demokraten sich zu einer Konzession, auf Grund deren gegen meinen Rat eine Vereinbarung über den Wortlaut der Note stattfand.

Als die Sitzung aufgehoben war, begab ich mich zu Erzberger und teilte diesem mit, die Frage der Unterschrift sei noch nicht erledigt. Ich habe sie verweigert, ebenso der Ministerpräsident. Baron Langwerth habe bereits seinen Abschied eingereicht, und da ich die Note nicht billige, werde kein Mitglied des Auswärtigen Amtes, solange ich die Geschäfte führe, die Unterschrift vollziehen. Es bleibe also nur übrig, daß er selbst sich dazu bereit finde. Erzberger antwortete, nachdem er sich ursprünglich unbedingt geweigert hatte, er könne als Vorsitzender der Waffenstillstandskommission ja im Wege der Wako die Note nach Paris gelangen lassen. Ich verabschiedete mich von ihm mit den Worten, „also übernehmen Sie die Unterschrift“, worauf er gereizt erwiderte: „Selbstverständlich muß ich vorher dem Reichspräsidenten Vortrag halten und mit dem Vizepräsidenten des Reichsministeriums sprechen.“ Ich entgegnete darauf, das stehe in seinem Belieben.

Im Schloßhof begegnete ich dem Minister Dernburg und informierte ihn über den Vorgang. Er erklärte, er werde sofort Erzberger aufsuchen.

Als ich abends gegen 11 Uhr nach einer kurzen Spazierfahrt ins Schloß zurückkehrte, meldete sich bei mir der Geheimrat Bohnstedt und unterbreitete mir die beiliegende schriftliche Aufzeichnung5. Danach hat Erzberger unmittelbar, nachdem ich das Schloß verlassen hatte, den Dr. Hemmer mit der Note in das Zentralbüro geschickt und erklären lassen, diese solle sofort abgehen. Auf die Entgegnung Bohnstedts, er sei nicht befugt, eine Note ohne Unterschrift weiterzugeben, hat Hemmer erklärt, der Reichsminister Erzberger wünsche es, und es müsse unbedingt geschehen. Hemmer hat dann zu wiederholten Malen telefonisch angefragt, ob die Note noch nicht abgegangen sei. Inzwischen wurde vom Ministerpräsidenten im Auftrage Herrn Scheidemanns an das Zentralbüro telefoniert, die Note solle unter keinen Umständen abgehen6. Den Anlaß zu dieser Weisung bildete der Umstand, daß die Sozialdemokraten inzwischen –[500] wie ich annehme auf Grund einer Rücksprache, die ich mit Hermann Müller hatte, in deren Verlauf ich ihm in Ergänzung meiner Erklärung vor dem Fraktionsausschuß erklärt hatte, ich halte die Note nicht nur für aussichtslos, sondern für einen schweren politischen Fehler – beschlossen hatten, die Note überhaupt nicht abzusenden. […]7

5

Der Text der Aufzeichnung ist weder in den Akten der Rkei noch des AA zu ermitteln.

6

Eine handschr. Aktennotiz Hemmers vom 20.6.1919 hierzu lautet: „Herr Minister Erzberger hat mich beauftragt, inliegende Note der RReg. [s. Anm. 2] an Clémenceau dem AA (Friko) zur gefälligen sofortigen Weiterleitung heute abend Herrn v. Haniel in Versailles zu übergeben.

Ich habe die Note, da ich Herrn LegR Dr. Roediger und Herrn Graf Bernstorff nicht antraf, Herrn Hofrat Katerbitz übergeben mit der Bitte, sie nach Eintreffen eines Herrn des AA demselben zur weiteren Veranlassung in die Hand zu geben.“

Darunter findet sich ein weiterer Vermerk Hemmers: „Nach Mitteilung des Herrn MinPräs. Scheidemann soll die Note zunächst nicht abgehen, bis von ihm Weisung kommt. Dr. Hemmer.“

Auf dem gleichen Blatt steht abschließend ein Vermerk des Hofrats Katerbitz, datiert „20.6.1919, 10 Uhr p. m.“: „Dr. Rauscher teilt soeben telefonisch im Auftrag des Herrn MinPräs. Scheidemann mit, daß anliegende Note auf keinen Fall abgehen soll.“ (Dt. Friedensdelegation Versailles, Pol 13, Bd. 5).

7

Die weiteren Ausführungen Brockdorff-Rantzaus betreffen nur noch sein persönliches Verhältnis zu Erzberger, dem er vorwirft, von Anfang an gegen ihn intrigiert und hinter seinem Rücken mit unzulässigen Mitteln für die Annahme des Friedensvertrags gearbeitet zu haben.

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