1.2 (bau1p): Regierungsbildung und Annahme des Versailler Vertrags

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Das Kabinett BauerKabinett Bauer Bild 183-R00549Spiegelsaal Versailles B 145 Bild-F051656-1395Gustav Noske mit General von Lüttwitz Bild 183-1989-0718-501Hermann EhrhardtBild 146-1971-037-42

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[XXII] Regierungsbildung und Annahme des Versailler Vertrags

Im Endstadium einer auf allen politischen und militärischen Ebenen geführten Diskussion über die Annahme oder Ablehnung der alliierten Friedensbedingungen demissionierte das in dieser Frage unüberbrückbar gespaltene Kabinett Scheidemann in den frühen Morgenstunden des 20. Juni 1919. Weniger als 100 Stunden vor der von den Alliierten für den Fall der Ablehnung angekündigten Wiederaufnahme des Krieges besaß das Deutsche Reich keine handlungswillige Regierung mehr. Die Entscheidungssituation glich weniger aus ideologischen Gründen als infolge pragmatischer Überlegungen der Quadratur des Kreises. Ob sie sich dem Diktat der Friedensbedingungen verweigern oder unterwerfen würden, Gegner wie Befürworter der deutschen Unterschrift unter den Friedensvertrag stimmten überein in der Einschätzung der Folgen, die die Unterzeichnung ebenso wie die Unterlassung dieses Rechtsaktes zeitigen würden. Mit der Besetzung Deutschlands durch fremde Truppen und militärischen Widerstandsaktionen im Osten des Reiches, separaten Friedensschlüssen einzelner Reichsteile und dem Wiederaufflammen bürgerkriegsähnlicher Wirren wäre das Land einem Chaos preisgegeben, das die über die Revolution hinweg gerettete Reichseinheit, das im Aufbau begriffene parlamentarische System und die Chancen eines mit sozialen Reformen verknüpften wirtschaftlichen Wiederaufbaus nachhaltig beeinträchtigen würde.

Mit deprimierender Ratlosigkeit hatte das Kabinett Scheidemann ernsthaft erwogen, ob es opportun sei, außenpolitisch Konkurs anzumelden und den Kriegsgegnern die Regierungsgewalt über Deutschland anzubieten. Verständigt hatte man sich schließlich darauf, seine ganze Hoffnung in die Vorlage deutscher Gegenvorschläge zu setzen, um so zu einer substantiellen Änderung des Vertragsentwurfs zu gelangen. Eine Handlungsalternative für den Fall kompromißloser Unerbittlichkeit der Entente war, um die eigene Verhandlungsposition nicht zu schwächen, vom Kabinett nicht entwickelt worden. Zwar war von illusionslosen Beobachtern verschiedentlich darauf hingewiesen worden, daß auf die durch Scheidemanns „Unannehmbar“ festgelegte Reichsregierung ein „Unterzeichnungskabinett“ folgen werde, das sich zwangsläufig den Friedensbedingungen unterwerfen müsse, doch traf, als die Alliierten ultimativ die deutsche Unterschrift forderten, die nun unvermeidliche Regierungskrise die politisch Verantwortlichen unvorbereitet. Den Parteien und dem Reichspräsidenten oblag es jetzt, in fieberhafter Eile personelle und sachliche Entscheidungen von unabsehbarer Tragweite zu treffen. Das in dieser Not geborene Kabinett war das Kabinett Bauer.

Die Regierungsbildung gestaltete sich insofern schwierig, als mit der Entscheidung über den Friedensvertrag auch die Koalitionsfrage einer Antwort bedurfte. Waren die Gegner der Vertragsunterzeichnung bereit, sich in einem Kabinett zur gemeinsamen Bewältigung der anstehenden Probleme zusammenzufinden? In der Tagespresse wurde eine Regierungsbildung aus den heterogenen Reihen der Nicht-Unterzeichnungswilligen für „schlechterdings unmöglich“ gehalten16.[XXIII] In den Fraktionen der die Weimarer Koalition bildenden Parteien war der Meinungsbildungsprozeß zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht abgeschlossen, doch zeichnete sich unter dem rührigen Einsatz des Optimismus ausstrahlenden Leiters der deutschen Waffenstillstandskommission, Matthias Erzberger, schon eine schwache parlamentarische Mehrheit für die bedingte Annahme des Friedensvertrags ab, die die Zentrumsfraktion an die Obsoleterklärung einiger ehrverletzender Klauseln17, die SPD-Fraktion an die „Erhebung eines daneben laufenden Protestes“ knüpfen wollte18. Die Demokraten dagegen, seit langem auf die Ablehnung der Friedensbedingungen festgelegt, schickten sich durch die Lancierung eines nachweislich taktisch gemeinten, substantielle Zugeständnisse zur Voraussetzung der Vertragsunterzeichnung erklärenden Vermittlungsvorschlags19 an, dem Unterzeichnungsmanöver durch rechtzeitiges Ausbooten zu entgehen. Reichspräsident Ebert mußte daran gelegen sein, die Bürde einer wie auch immer gearteten Unterzeichnung auf eine möglichst breite politische Basis zu verteilen. Drohungen des Reichspräsidenten mit seinem eigenen Rücktritt und selbst das nur taktisch verständliche, vorübergehende Einschwenken der Sozialdemokraten und des Zentrums auf die illusorischen Vorbehalte der Demokraten zeitigten bei diesen nicht die erhoffte Wirkung, sie zum Verbleib in der Koalition und in der Regierungsverantwortung zu bewegen. Als die Partei am Morgen des 21. Juni ihren führenden Politikern kategorisch die Mitarbeit im neuzubildenden Kabinett verbot, war auch für das Zentrum, das bislang eine Koalition allein mit der SPD nicht eingehen wollte, die Wiederauflage einer Regierung der Weimarer Koalition gescheitert, da nunmehr die Möglichkeit, unterzeichnungswillige, von ihrer Partei „neutralisierte“ Demokraten (Dernburg, Preuß)20 in das Kabinett einzubeziehen, nicht mehr gegeben war. Der Reichspräsident mußte von seiner Erklärung, „nie“ ein nur aus Sozialdemokraten und Zentrumsvertretern bestehendes Kabinett zu berufen21, abgehen. Während in der Öffentlichkeit allgemein erwartet wurde, daß Ebert den Parteivorsitzenden der SPD, Hermann Müller, mit der Regierungsbildung beauftragen würde, benannte die Nationalversammlungsfraktion der Sozialdemokraten bereits am frühen Nachmittag des 20. Juni „gegen wenige Stimmen“ den im Kabinett Scheidemann[XXIV] neben Erzberger eifrigsten Befürworter einer bedingten Unterzeichnung des Versailler Vertragswerkes, den Minister ohne Portefeuille Eduard David, zum möglichen Kandidaten für das Amt des Reichsministerpräsidenten22. Als Ergebnis der folgenden Koalitionsverhandlungen konnte Hermann Müller seiner Fraktion am Morgen des 21. Juni schon eine fast vollständige, mit der endgültigen nahezu identische Kabinettsliste präsentieren. David allerdings, so teilte er mit, sei aus „verständlichen“ gesundheitlichen Gründen nicht zur Übernahme des Ministerpräsidentenamtes bereit. Noske, dessen Kandidatur man auch erwogen habe, müsse ebenso wie Wissell und Schmidt auf seinem Ministerposten verbleiben. Als möglicher Regierungschef sei nun der bisherige Reichsarbeitsminister Bauer vorgeschlagen worden. Wer Bauer, der im Kabinett Scheidemann „sehr energische Töne gegen den Vertrag“ angeschlagen23, sich ansonsten aber kaum zur Erörterung der großen innen- und außenpolitischen Fragen zu Wort gemeldet hatte, als Chef eines „nur für die Übergangszeit“ gedachten, also eines Unterzeichnungskabinetts in Vorschlag gebracht hatte, verriet Müller nicht. Seine Fraktionskollegen schienen nicht wenig überrascht zu sein. Deshalb versicherten sie sich zunächst, ob Bauer auch wirklich bereit sei, die Unterzeichnung zu vertreten, und wiederholten dennoch ihre am Vortag bereits erfolglos geäußerte Bitte an Müller, das Amt des Regierungschefs doch selbst zu übernehmen. Diesem Antrag hielt der Parteivorsitzende erneut entgegen, die Partei möge ihn für spätere Zeiten „in Reserve halten“24.

16

Kölnische Volkszeitung Nr. 475 vom 20.6.1919.

17

Die Zentrumsfraktion der Nationalversammlung formulierte folgende „Bedingungen“: „1. Keine Auslieferung der sogenannten [Kriegs-]Schuldigen. 2. Ablehnung der Anerkenntnis der Schuld am Kriege. 3. Ablehnung der Formel, daß Deutschland nicht geeignet sei, Kolonien zu verwalten.“ (Germania Nr. 275 vom 20.6.1919).

18

Protokolle der SPD-NatVers.-Fraktion, 19.6.1919, 21 Uhr.

19

Entgegenkommen wurde erwartet in der Völkerbund-, Schuld- und Auslieferungsfrage, bezüglich Danzigs und Westpreußens, im Hinblick auf die Festsetzung der Entschädigungssumme und die Vertragsrevision innerhalb von zwei Jahren (Kölnische Volkszeitung Nr. 477 vom 21.6.1919). Vgl. dazu die Tagebuchaufzeichnung Koch-Wesers vom 23.6.1919 (Nachl. Koch-Weser , Nr. 16, S. 191 f.) sowie die Tagebuchaufzeichnung Erkelenz’ vom 21.6.1919 (Nachl. Erkelenz, Nr. 84, Bl. 129).

20

Antrag Wissells in der Sitzung der SPD-NatVers.-Fraktion vom 20.6.1919, 18.30 Uhr (Protokolle der SPD-NatVers.-Fraktion, 20.6.1919, 18.30 Uhr); vgl. dazu auch den Brief Wissells an von Moellendorf, 21.6.1919 (abgedruckt in dieser Edition: Das Kabinett Scheidemann, Dok. Nr. 116).

21

Tagebuchaufzeichnung Koch-Wesers vom 23.6.1919 (Nachl. Koch-Weser , Nr. 16, S. 183).

22

Protokolle der SPD-NatVers.-Fraktion, 20.6.1919, 13.30 Uhr.

23

Philipp Scheidemann: Der Zusammenbruch. S. 250. Siehe auch diese Edition: Das Kabinett Scheidemann, Dok. Nr. 99.

24

Protokolle der SPD-NatVers.-Fraktion, 21.6.1919, 9 Uhr.

Es kann nicht Aufgabe dieser Einleitung sein, die aktenmäßig nicht belegbaren Vorgänge um die Auswahl Gustav Bauers als neuen Reichsministerpräsidenten eindeutig zu klären. Ob Bauer wirklich in Ermangelung geeigneter Persönlichkeiten „der Kandidat der Verlegenheit in einer Krise, die eine rasche Regierungsbildung notwendig machte“25, war, ist mehr als fraglich. Als am 21. Juni mittags die SPD-Zentrum-Koalition angesichts der Haltung der Demokraten unausweichlich wurde und eine parlamentarische Mehrheit von USPD, SPD und Zentrum für eine im Sinne der Zentrumsvorbehalte bedingte Friedensvertragsannahme wahrscheinlich war, schien Davids Gesundheit plötzlich nicht mehr so angeschlagen, daß er für das strapaziöse Amt des Innenministers nicht doch zur Verfügung stehen konnte. Auch Hermann Müller legte seine kurz zuvor mit Hinweis auf mögliche parteipolitische Aufgaben begründete Zurückhaltung ab, um als Außenminister des neuen Kabinetts die anstehende außenpolitische Zerreißprobe meistern zu helfen.

25

Ernst Deuerlein: Deutsche Kanzler. S. 262.

Die Kabinettsbildung erfolgte in so frappanter Weise über den Kopf der SPD-Fraktion hinweg, daß die Abgeordneten eine Stunde vor der konstituierenden Sitzung des neuen Kabinetts von ihrem Parteivorsitzenden eine rechtfertigende Erklärung verlangten. Leider macht das Sitzungsprotokoll dazu keine näheren Angaben26. Verständlich werden die Vorgänge wohl erst, wenn man[XXV] die entschiedene Mitwirkung des Reichspräsidenten in Rechnung stellt, der bei der Lösung der wichtigsten Personenfragen aus hier nicht näher zu untersuchenden Motiven seine Kompetenzen, die der § 8 des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919 für ihn bereithielt, voll ausschöpfte. Es mag zutreffen, daß für Bauer die Tatsache sprach, daß er „bereits dem alten Kabinett angehört hatte und daher seit Monaten mit allen Geschäften der Reichsregierung vertraut war“27. Diese Begründung hebt Bauer aber noch nicht aus der Reihe seiner bisherigen Kabinettskollegen heraus, zumal Bauer sicherlich nicht die souveräne Persönlichkeit war, der es zur Bewältigung der voraussehbaren Schwierigkeiten bei der Erfüllung des Friedensvertrags und der noch nicht gebannten Gefahr einer zweiten, wirtschaftlich-sozialen Revolution bedurft hätte. Da man Ebert angesichts seiner freundschaftlichen Beziehungen zu Bauer auch nicht unterstellen kann, er habe diesen und das neue Kabinett mit dem Gang nach Versailles kurzfristig verschleißen wollen, ist das Motiv für die Entscheidung Eberts anderweitig zu suchen: Der Reichspräsident hatte sich erst kurz vor dem Rücktritt des Kabinetts Scheidemann in einem Akt höchsten Pflichtbewußtseins zu einer der aussichtslosen Lage des Reichs angepaßten Unterzeichnungsbereitschaft durchgerungen. Anders als beispielsweise David und die übrigen als Regierungschef in Frage kommenden Vertragsbefürworter befand sich Bauer, dessen bisherige Gegnerschaft gegenüber einer Vertragsunterzeichnung bekannt war, in einer Ebert vergleichbaren psychologischen Situation. Solidarität unter Parteigenossen und Verbundenheit zwischen persönlichen Freunden erklären sowohl das Angebot Eberts als auch die Bereitschaft Bauers, als Chef eines „Unterzeichnungskabinetts“ die Weltkriegsniederlage vor den Augen der Weltöffentlichkeit einzugestehen, entschieden besser als Hinweise auf die Persönlichkeit des jetzt aus dem Hintergrund in das Rampenlicht der großen Politik tretenden Ministerpräsidenten, der, ganz passiver Wille, „dem Reichspräsidenten unbedingt ergeben“ gewesen sein soll28.

26

Protokolle der SPD-NatVers.-Fraktion, 21.6.1919, 14 Uhr.

27

Wilhelm Ziegler: Die Deutsche Nationalversammlung 1919/1920 und ihr Verfassungswerk. S. 78, der sich auf Aussagen von Bauers Kabinettskollegen Müller und Bell stützt.

28

Philipp Scheidemann: Memoiren eines Sozialdemokraten. Bd. 2. S. 373; ähnlich Otto Geßler: Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit. S. 374.

Es war vorauszusehen, daß kaum einer dem neuen Reichsministerpräsidenten den Opfermut danken würde, den dieser bekundete, als er vor der Nationalversammlung am 22. Juni für sich und seine Regierung erklärte: „Wir stehen nicht aus Parteiinteresse und noch weniger – das werden Sie mir glauben – aus Ehrgeiz an dieser Stelle. Wir stehen hier aus Pflichtgefühl, aus dem Bewußtsein, daß es unsere verdammte Schuldigkeit ist, zu retten, was zu retten ist“29. In die Ohren drang vielen Zeitgenossen lediglich das Demütigende, das in diesen Worten lag, und in die Augen sprang die Unterwerfungsgeste, zu der sich das Kabinett Bauer nach einem letzten fehlgeschlagenen Versuch, die als „ehrverletzend“ empfundenen sogenannten „Schmachartikel“ 227 bis 231 aus dem[XXVI] Vertragstext zu entfernen, von der Nationalversammlung ermächtigen lassen mußte. Da hiermit die von Diplomaten bei der Deutschen Friedensdelegation in Versailles und in der fieberhaften Weimarer Atmosphäre von Matthias Erzberger bis zuletzt gehegten Hoffnungen in sich zusammenfielen30, war das neue Kabinett schon in seinen ersten Stunden mit dem Makel eines außenpolitischen Mißerfolgs behaftet. Als in dieser Situation Gerüchte über einen drohenden Militärputsch die Zentrumsfraktion in ihrer Bereitschaft, dem Vertrag zuzustimmen, wankend machten, die Minister Bell und Mayer sich dafür aussprachen, den Vertrag doch noch abzulehnen, und ihr Verbleib im Kabinett somit in Frage gestellt war, konnte nur das beschwichtigende Eingreifen der militärischen Führung unter General Groener und dessen Stellungnahme, daß bei einer Wiederaufnahme der Feindseligkeiten „ein Enderfolg aussichtslos“ sei, den schnellen Zusammenbruch der gerade aus der Taufe gehobenen Regierung Bauer verhindern31.

29

Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenografische Berichte. Bd. 327, S. 1113. – Nachfolgend zit. als NatVers.-Bd. mit Bandangabe.

30

Dok. Nr. 1; 3, Anm. 4.

31

Dok. Nr. 3.

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