2.67.3 (feh1p): 3. Innere Lage.

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3. Innere Lage.

Minister v. Raumer: Aus den Äußerungen der Presse gehe hervor, daß die Sozialdemokratie den Wunsch habe, in die Regierung einzutreten. Durch Spaltung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei3 werde die SPD einen[172] Zuwachs erhalten. Der Wunsch, ins Kabinett einzutreten, würde dadurch gestärkt werden. Es frage sich nun, ob und eventuell unter welchen Bedingungen man dem stattgeben solle.

3

Ende 1919 hatte der a. o. Parteitag der USPD in Leipzig beschlossen, Verhandlungen über den Eintritt der Partei in die III. Internationale aufzunehmen (Schultheß 1919, I, S. 494). Im Juli 1920 hatte sich daraufhin eine Delegation der Partei nach Moskau begeben, um an dem 2. Kongreß der III. Internationale teilzunehmen. Auf diesem Kongreß hatte die III. Internationale nun ihrerseits 21 Bedingungen aufgestellt, bei deren Annahme ein Eintritt in die III. Internationale nur möglich sein sollte. Zu diesen Bedingungen gehörte u. a. der Aufbau einer zentralen kommunistischen Parteiorganisation, die Schaffung eines illegalen Organisationsapparates, die Ausweitung der Propaganda auf das Heer und auf das flache Land, die bedingungslose Anerkennung der Beschlüsse der III. Internationale und der Ausschluß der gemäßigten Kräfte aus der Partei. Über diese Bedingungen war es innerhalb der USPD zu tiefgreifenden Differenzen gekommen. Für den bevorstehenden Parteitag der USPD in Halle erwartete man allgemein eine Spaltung der Partei (Schultheß 1920, I, S. 248).

Reichsminister Dr. Scholz: Die SPD arbeite auf die Auflösung des Reichstages hin, weil sie durch die Spaltung der Unabhängigen einen erheblichen Mandatszuwachs voraussichtlich erhalten werde. Der Eintritt der SPD in die Regierung könne nur von Vorteil sein. Die Schwierigkeiten würden vorwiegend aber daran liegen, daß die SPD sich dahin festgelegt habe, ein Zusammenarbeiten mit der Deutschen Volkspartei abzulehnen4.

4

Nachdem der DVP-Abg. Heinze am 13.6.1920 vom RPräs. mit der Regierungsbildung beauftragt worden war, hatte er noch am gleichen Tage die SPD um die Entsendung von Unterhändlern gebeten. Am Abend des 13. 6. hatten die sozialdemokratischen Führer H. Müller und P. Löbe Heinze den Beschluß der sozialdemokratischen Parteikonferenz überreicht, in dem eine Beteiligung der SPD an einer Regierungskoalition mit den Rechtsparteien grundsätzlich abgelehnt wurde. Vgl. dazu Schultheß 1920, I, S. 156.

Der Herr Reichskanzler Es würde nötig sein, in dieser Frage mit der SPD Fühlung zu nehmen. Wenn er, der Reichskanzler, den Auftrag erhalte, mit dem Reichstagspräsidenten in diesem Sinne zu sprechen, so würde die Fühlungnahme mit der SPD am besten durch den Herrn Reichspräsidenten erfolgen.

Die SPD suche zur Zeit einen Zusammenhang mit dem rechten Flügel der Unabhängigen zu gewinnen, daher sei zu befürchten, daß sie in eine Art Abhängigkeit von diesem Teil der Partei geraten würde. Die SPD scheine nach wie vor ein Zusammenarbeiten mit der Deutschen Volkspartei abzulehnen, während er, der Reichskanzler, nach wie vor mit dieser Partei zusammenarbeiten wolle.

Reichsminister Dr. Scholz: Das Kabinett sollte keine Schritte tun, um einen Eintritt der SPD in die Regierung herbeizuführen, man solle diese vielmehr an uns herantreten lassen.

Staatssekretär Dr. Lewald: Seines Erachtens würden von den 86 unabhängigen Abgeordneten etwa nur 16, im Höchstfalls 25 nach links abmarschieren; die Partei würde also immer noch sehr stark bleiben. Träte die Spaltung ein, so würde der rechte Flügel auch weiterhin seine radikalen Tendenzen betonen. Auch bei ihm stehe die Räterepublik auf dem Programm; dies trenne ihn grundsätzlich von der SPD. Im übrigen glaube er auch, daß die SPD nur dann in die Regierung eintreten würde, wenn die Deutsche Volkspartei ausscheide.

Reichsminister Dr. Simons: Er habe neulich mit Breitscheid und Stampfer gesprochen. Die Unabhängigen hätten zur Zeit eine schlechte Position bei den Wählermassen. Breitscheid und Stampfer seien der Ansicht, daß die Wählerschaft der USPD in Massen zur SPD und KPD abschwenken würde. Zu beachten sei, daß nach Angabe der genannten Abgeordneten bolschewistische Emissäre in Parteikreisen zur Zeit für den Kampf gegen Frankreich agitierten. Die Parteiführer[173] träten energisch dagegen auf, um Deutschland nicht zum Schlachtfeld zu machen. Die SPD schaue intensiv nach links; sie hoffe durch einen Umschwung der allgemeinen Lage in die Regierung zu kommen, und zwar durch Neuwahlen. Deshalb benutze sie jede Möglichkeit, um der jetzigen Regierung Schwierigkeiten zu machen. Dies sei auch aus der Haltung Scheidemanns im Auswärtigen Ausschuß zu erkennen gewesen5. Die Kraftprobe solle offenbar erst nach der Genfer Konferenz gemacht werden, deren Odium auf die jetzige Regierung fallen solle. Die derzeitige Schärfe in der Stellungnahme hänge mit dem Bevorstehen des Parteitages zusammen6. Wir würden jetzt von der SPD nur eine Zurückweisung erfahren, daher müsse man abwarten, ob die SPD an uns mit dem Wunsche herantritt, ins Kabinett einzutreten.

5

Während eines Aufenthaltes in der Schweiz hatte RAM Simons eine Reihe von Interviews gegeben, deren Veröffentlichung in schweizerischen und italienischen Zeitungen zu Mißverständnissen Anlaß gegeben hatten. Scheidemann hatte RAM Simons deswegen in einer Sitzung des Auswärtigen Ausschusses am 1.9.1920 scharf angegriffen (Schultheß 1920, I, S. 247; Vorwärts Nr. 436 v. 2.9.1920).

6

Der Parteitag der SPD war am 26.8.1920 auf den 10. 9. nach Kassel einberufen worden (Vorwärts Nr. 426 v. 27.8.1920).

Reichsminister v. Raumer: Er habe seinerzeit bei der Kabinettsbildung den Führern der SPD stark zugeredet, in die Regierung einzutreten. Jetzt könne man ihr keine Einladungskarte schicken, außerdem müßten erst die Fraktionen gefragt werden. Im übrigen sei die jetzige Regierung nicht so schwach, wie sie sich vorkäme. Aber die Regierung täte nicht alles, was sie tun könnte. Sie könnte jederzeit sich eine Mehrheit verschaffen. In dieser Frage sei zu berücksichtigen, daß die Deutschnationale Volkspartei diese Regierung nicht stürzen würde, weil sie doch nur einer ausgesprochenen Linksregierung Platz machen würde. Das Volk verlange von der Regierung stärkere Entschlossenheit und größere Aktivität. Er resümiere dahin, daß man die SPD zum Eintritt in die Regierung nicht auffordern und daß man eine aktivere Politik treiben solle. Hierbei dürfe man vor dem zu erwartenden Entrüstungssturm der SPD nicht zurückschrecken und ihrer Kritik nicht weichen.

Überall herrsche Empörung wegen der Überfülle von Angestellten bei Post und Eisenbahn, Kriegsgesellschaften und Abwicklungsstellen. Wenn man hier energisch durchgriffe, so würde man die Majorität des Volkes hinter sich haben. Es müsse sofort ein klares Programm über die notwendigen Entlassungen aufgestellt und so Ordnung in den Betrieben geschaffen werden.

Der Herr Reichskanzler Er sei im wesentlichen mit den Ausführungen des Ministers v. Raumer einverstanden. Man müsse jedoch dem bestehenden Kabinett zugute halten, daß von den wenigen Monaten, die es jetzt amtiere, eine lange Zeit durch die Verhandlungen in Spa und durch den notwendigen Erholungsurlaub in Anspruch genommen gewesen sei. Deshalb habe man noch nicht an alle großen Aufgaben herangehen können.

Reichsminister Dr. Brauns: Die Kernfrage sei, was die zwei sozialistischen Parteien tun wollten. Er erblicke den Hauptgegensatz zwischen ihnen weniger in der Stellung zur Rätefrage als in der zur dritten Internationale. Nachdem dies entschieden sei, würden sie in der Rätefrage einig werden. Denn wenigstens[174] zur Zeit sei die Haltung der Unabhängigen völlig gewandelt, was sich auch in den Reichstagsausschüssen gezeigt habe. Komme eine Spaltung in der Unabhängigen Partei zustande, so würden die beiden Parteien sich finden, wenn nicht sofort, so doch vor den Wahlen. Dann würden sie geschlossen in den Wahlkampf mit der Front gegen die Kommunisten und die bürgerlichen Parteien ziehen. Die SPD strebe nicht den Eintritt in die jetzige Regierung an, sondern baldige Neuwahlen. Sie fürchte die Taten der Regierung mehr als ihre Unterlassungen. Die SPD würde im Winter Neuwahlen provozieren, vorher aber die Regierung nicht stürzen. Käme ein Eintritt der SPD in Frage, so würden sie die Führung verlangen, was insbesondere außenpolitisch äußerst bedenklich sei. Die Regierung müsse jetzt, wie vom Minister v. Raumer vorgeschlagen, eine klare Politik machen. Ein außenpolitisches Programm aufzustellen, sei zur Zeit nicht möglich, aber wirtschaftspolitisch, sozialpolitisch und finanzpolitisch müsse dies geschehen. Im übrigen müßte auch die Regierung die Neuwahlen wollen. Wir könnten uns auf die Rechte und Zufallsmajoritäten nicht verlassen, sonst würden wir plötzlich in die Luft fliegen. Daher hätten auch wir ein Interesse an baldigen Neuwahlen zwecks Klärung der Lage. Die Neuwahlen müßten aber durch eine klare und entschiedene Politik schon jetzt vorbereitet werden. Eine innere Gesundung sei nur möglich, wenn die Linke oder wenn die Rechte über die Mitte des Hauses hinauswachse. Er halte für nötig, eine Politik gegen Wucher und Schieber zu machen und die Frage des Preisabbaues in Angriff zu nehmen7. Die Politik der Angleichung der Preise an die Weltmarktpreise sei nicht möglich. Die Landwirtschaft müsse mit den Preisen heruntergehen, sonst sei auch ein Lohnabbau ausgeschlossen. Der Reichstag werde wohl vor dem 18. Oktober einberufen werden müssen8. Der Wunsch hiernach werde immer lauter. Einzelne Minister müßten den Auftrag erhalten, ein Programm aufzustellen. Im übrigen sei auch er der Ansicht, daß man an die SPD nicht herantreten solle.

7

Siehe dazu Dok. Nr. 106, P. 7.

8

Der RT trat erst am 19.10.1920 zu seiner nächsten Sitzung zusammen (RT-Bd. 345, S. 737 ).

Der Herr Reichskanzler teilte mit, daß die Abgeordneten Stresemann, Schiffer und Burlage an ihn herangetreten seien, um eine intimere Fühlung der Regierung mit den Parteien anzuregen9. Dem stimme er zu. Zwei Ereignisse der letzten Zeit kämen auf das Kreditkonto der Regierung, nämlich erstens ihre Stellung zur Frage der Eisenbahnkontrolle10 und zweitens das Verhalten[175] der Württembergischen Regierung beim Steuerlohnabzug11. Auch er sei der Ansicht, daß die Regierung ein scharf umrissenes Programm in den Fragen der inneren Politik und der Wirtschaftspolitik12 aufstellen müsse.

9

In der Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses der DVP am 13.9.1920 berichtete Stresemann darüber: „Ich habe mit den Führern der beiden anderen Regierungsparteien, den Abgeordneten Schiffer und Spahn, Fühlung genommen. Die Aussprache, die vertraulich war, hat dazu geführt, daß wir uns zum Reichskanzler begeben und dort ausgeführt haben, daß die Parteien, die heute die Verantwortung für die Regierungspolitik mitzutragen hätten, mit der Regierung außerordentlich unzufrieden wären. Schiffers Ausführungen im besonderen hätten an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig gelassen; Schiffer habe hervorgehoben, daß tatsächlich ein Schwinden der Regierungsautorität vorliege. […] Wir haben dem Reichskanzler gegenüber weiter zum Ausdruck gebracht, daß keine Fühlung zwischen der Regierung und den Regierungsparteien bestünde.“ (R 45 II /53 , Bl. 433–435).

10

In der Frage der Eisenbahnkontrolle hatte sich die RReg. gegen die Gewerkschaften und die sozialistischen Parteien durchgesetzt. Siehe Dok. 54, P. 3 und Dok. Nr. 58, P. 1.

11

Zum Steuerabzug, auch Steuerlohnabzug genannt, s. Dok. Nr. 50, P. 2.

In Württemberg war es über den Steuerabzug am 28. 8. zu einem Generalstreik gekommen (Schultheß 1920, I, S. 246; Vorwärts Nr. 429 v. 28.8.1920). Bei den bald einsetzenden Verhandlungen zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und der Landesregierung hatte die Landesregierung die bedingungslose Anerkennung des Steuerabzuges verlangt (Vorwärts Nr. 435 v. 1.9.1920). Am 4. 9. hatten die Verhandlungen zu einer Einigung geführt. Der Landesregierung war es gelungen durchzusetzen, daß die Arbeitnehmer sich bei der Wiederaufnahme der Arbeit schriftlich verpflichteten, den Steuerabzug anzuerkennen (Vorwärts Nr. 444 v. 7.9.1920).

12

Siehe u. Anm. 20.

Reichsminister Dr. Geßler erörtert die Gründe, aus denen das alte Kabinett zum Absterben gekommen sei. Es habe nie im eigentlichen Sinne geführt, sondern nur die Geschäfte aufgearbeitet. Im übrigen habe eine zweite Regierung bestanden, die die eigentliche Politik gemacht hätte. Er brauche zu diesem Punkte kaum deutlicher zu werden. Auch jetzt bestehe die Gefahr, daß nicht geführt werde. Fraglich sei, ob das Kabinett mit der jetzigen parlamentarischen Grundlage die schwierigen politischen Fragen lösen könne. Richtig sei, daß die SPD eine aktive Politik des Kabinetts nicht wünsche; sie ginge vielmehr nur darauf aus, die Regierung zu diskreditieren und Neuwahlen herbeizuführen. Die Regierung müsse eine aktive, starke Politik machen. Fraglich sei ihm allerdings, ob dies mit der Raumerschen Schaukelpolitik möglich sei; auf die Dauer scheine es ihm unmöglich. Es bestehe die Möglichkeit, offen zu erklären, daß die parlamentarische Basis zu schmal sei. Wolle die SPD durch ihren Eintritt die Basis nicht verbreitern, so könne die Regierung erklären, daß sie bei dieser Sachlage nicht weiter im Amte verbleiben wolle. Der gleiche Vorgang in Bayern habe zur Regierung der bürgerlichen Parteien und zur Beruhigung des Landes geführt13. Durch eine solche Politik kämen wir zu baldigen Neuwahlen, aber unter unserer Initiative, so daß der SPD die Wahlparole „weg mit dieser unfähigen Regierung“ von vornherein genommen wäre.

13

Im Anschluß an die Landtagswahlen in Bayern vom 6.6.1920 war es Anfang Juli zwischen den Parteien zu Verhandlungen über die Regierungsbildung gekommen. Am 8. 7. hatten die DDP und die BVP die SPD und die USPD zur Beteiligung an der Regierungsbildung aufgefordert. Die sozialistischen Parteien hatten dies jedoch abgelehnt. Daraufhin hatten die bürgerlichen Parteien am 10. 7. beschlossen, die Regierung ohne die sozialistischen Parteien zu bilden (Schultheß 1920, I, S. 197–200).

Die wirtschaftliche Lage verschlechtere sich ständig, den Preisabbau aber halte er für eine Utopie. Zur Frage des Zusammenhaltens des Reichs sei er der Auffassung, daß Bayern sich vom Reich nicht trennen wolle. In Bayern herrsche aber überall der Eindruck, daß die Berliner Regierung in die Hände der Gewerkschaften geraten sei und nach links abgleite. Dieser Eindruck des Treibenlassens dürfe unter keinen Umständen bestehen bleiben.

Reichsminister v. Raumer: Die Ausführungen des Ministers Geßler stützten seine Ansicht. Das Volk schreie nach Aktivität, Energie und einem Herrn. Selbstverständlich würden bei einer starken Politik Konflikte eintreten. Es sei Nervensache, dann durchzuhalten. Wenn die Regierung dann gestürzt würde,[176] hätte sie wenigstens ihre Pflicht getan. Alles komme auf die Qualität der Arbeit des Kabinetts an. Der Untätige verliere den Boden im Volke. Wer durch Aktivität gestürzt wird, würde bei Neuwahlen gute Geschäfte machen. Er halte es nicht für nötig, die Basis im Parlament zu verbreitern.

Reichsminister Dr. Scholz: Eine aktive Politik sei das Lebenselement des Kabinetts. Wir würden aber durch das parlamentarische System hieran gehindert, das zu Deutschland passe wie die Faust aufs Auge. Dieses System nötige uns zur Schaukelpolitik. Wir würden an ihm wahrscheinlich zugrunde gehen, wenn wir es nicht ändern.

Die Gesundung müsse an den Finanzen angefaßt werden. Im übrigen müsse jedes Ressort bei sich eine aktive Politik treiben. Mit Minister v. Raumer nehme er an, daß die Position des Kabinetts gar nicht so schlecht sei; wir müßten nur etwas tun, dann würde die Sozialdemokratie an uns herantreten, wie es viele von ihnen im Lande schon jetzt wollten. Aber wir dürften ihnen nicht als erste die Hand reichen.

Reichsminister Dr. Brauns: Wenn wir die SPD zum Eintritt in das Kabinett bringen wollten, so sei dies nur durch Neuwahlen zu erreichen. Durch eine Erklärung, daß wir allein nicht weiter könnten, würden wir die Massen nach links treiben. Die Regierung müsse ihre Politik evtl. zur Wahlparole machen, durch diese würde dann die Parteibildung beeinflußt werden. Andere Parteigruppierungen seien nötig und würden allmählich kommen. Die Lage würde erleichtert sein, wenn wir links nur Kommunisten und Mehrheitssozialisten hätten. Von der Möglichkeit eines Preisabbaues sei er überzeugt.

Staatssekretär Dr. Lewald: Den Gedanken der Neuwahlen halte er für besorgniserregend. Es ständen Neuwahlen in Preußen14 und bezüglich des Reichspräsidenten bevor15. Die Reichstagswahlen würden unter diesen Umständen unter starker Ermüdung stattfinden. Eine sehr große Mehrheit im Parlament sei zum Regieren nicht nötig, wie sich oft in anderen Staaten gezeigt hätte. Wir hätten kein Interesse an der Herbeiführung von Neuwahlen.

14

Die Landtagswahlen in Preußen fanden am 20.2.1921 statt (Schultheß 1920, I, S. 323).

15

In den Kabinettssitzungen vom 1. 7. und 28.7.1920 war die RPräs.-Wahl auf einen Termin nach der Abstimmung in den Abstimmungsgebieten verschoben worden. Siehe dazu Dok. Nr. 7, P. 5 und Dok. Nr. 36, P. 6.

Reichsminister Dr. Geßler: Das Kabinett werde vielfach als ein Provisorium angesehen; dies sei ihm schädlich. In kritischen Zeiten gäbe es zwei Wege: entweder Diktatur, die auch auf verfassungsmäßigem Wege zustande kommen könnte, oder ein Koalitionskabinett von rechts bis links. Unter aktiver Politik verstehe er in erster Linie die Stärkung der Staatsautorität. In seinem Ressort denke er dabei zunächst an die Abwürgung der Bünde. So könne jeder Minister in seinem Ressort aktiv sein. Auf den Widerstand der Interessenten müßten wir es ankommen lassen, auch wenn dabei das Kabinett gestürzt würde. Eine solche Politik müßte auch den Parteien gegenüber durchgesetzt werden. Winterwahlen seien s. E. möglichst zu vermeiden.

Reichsminister v. Raumer: Man müsse den Mut haben, notwendige Entschlüsse durchzuführen, auch wenn sie unpopulär seien. Ein unerschrockenes[177] Programm auch in sozialen und wirtschaftlichen Fragen sei aufzustellen, auf dieses müßten dann die Parteien der Koalitionsregierung festgelegt werden. Weiter müßten die Minister ins Land gehen und dort das Programm vertreten. Er halte es insbesondere für nötig, gründlichere Reformen auch im Justizwesen einzuführen, denn zur Zeit könne man ohne Übertreibung sagen, daß wir so gut wie keine Justiz hätten. In der Finanzfrage würde es sich seines Erachtens empfehlen, statt des Reichsnotopfers16 die Zwangsanleihe17 zu bringen, beides nebeneinander sei unmöglich. Endlich müsse die gesamte Verwaltung vereinfacht werden. Das Zweckmäßigste würde sein, einige Herren des Kabinetts zu beauftragen, ein Programm über alle wichtigen Fragen aufzustellen.

16

Zum „Reichsnotopfer“ s. Dok. Nr. 103.

17

Eine vielfach unverzinsliche oder niedrig verzinsliche Anleihe, deren Übernahme durch die Bevölkerung der Staat zwangsweise anordnet. Siehe dazu Dok. Nr. 73, P. 2.

Reichsminister Dr. Brauns: Seines Erachtens sei es nicht notwendig, jetzt bereits die Wahl des Reichspräsidenten vorzunehmen, diese müsse vielmehr den Reichstagswahlen unmittelbar folgen. Diese dürften uns nicht unvorbereitet treffen.

Staatssekretär Dr. Lewald: Die Durchführung einer aktiven Politik, wie sie von einzelnen Ministern vorgeschlagen sei, würde zur Zeit durch den Gegensatz zwischen Reichskabinett und preußischem außerordentlich erschwert. So habe beispielsweise der Preußische Ministerpräsident dem Staatskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung erklärt, er dürfe keine Aufträge von der Reichsregierung entgegennehmen, dabei trage das Reich 2/3 der Kosten des Staatskommissariats. In dieses Gebiet der Gegensätze falle ferner die Frage Hörsing und die des Ausnahmezustandes in Sachsen18.

18

Vgl. dazu den Band „Das Kabinett Müller I“ dieser Edition, Dok. Nr. 28 und RGBl. 1920, S. 479  f.

Reichsminister Groener: Regieren heiße Macht anwenden, um politische Ziele zu erreichen. Habe man die notwendige Macht nicht, so müsse man die Ziele zurückstellen und zunächst die Macht schaffen. Es sei also notwendig, sich über die Ziele klar zu werden und zu prüfen, ob die Regierung zu ihrer Erreichung stark genug sei. In seinem Ressort handle es sich vor allem darum, die Staatsautorität zu befestigen und nicht zu dulden, daß die verschiedenartigen Organisationen anordnenden und bindenden Einfluß hätten19. Es sei nicht erforderlich, im Einzelfall gleich die stärksten Mittel anzuwenden, aber man müsse Festigkeit und Zähigkeit zeigen. Wenn die Regierung kein klares Ziel auf den einzelnen Gebieten habe, denen sie zäh nachgehe, so würde sie immer mehr diskreditiert werden. Auf diese Weise schliddere man in eine neue Revolution. Daher sei es erforderlich, alsbald ein festes Programm aufzustellen und dieses rücksichtslos zu verfolgen.

19

Gemeint war die Rolle der Gewerkschaften und der Eisenbahnerorganisationen in der Frage der Eisenbahnkontrolle. Siehe o. Anm. 10.

ReichskanzlerFehrenbach: Er halte es für verfehlt, jetzt schon unter allen Umständen neue Reichstagswahlen ins Auge zu fassen. Wir müßten so regieren, als wenn die Regierung und der Reichstag noch auf lange Zeit bestehen blieben.[178] Er stelle die Einmütigkeit des Kabinetts fest, daß man jetzt nicht an die SPD zwecks Eintritts in die Regierung herantreten solle.

Dem Minister Dr. Scholz erwidere er, daß wir zur Zeit kein parlamentarisches System hätten, denn die Regierung sei eine solche der Minderheit und müsse ihre Mehrheit bald rechts, bald links suchen. Den Forderungen nach aktiver Politik und Wahrung der Staatsautorität stimme er zu. Er schlage vor, aus der Mitte des Kabinetts eine Kommission zu bilden, die ein Programm der Regierung vorlegen solle. Diese Kommission müsse sich zusammensetzen aus dem Reichswirtschaftsminister, dem Reichsminister der Finanzen, dem Reichsschatzminister, dem Reichsarbeitsminister und dem Reichsernährungsminister unter Führung des Reichswirtschaftsministers.

Auf Vorschlag des Reichsministers Groener wird diesem Vorschlag mit der Maßgabe zugestimmt, daß auch der Reichsverkehrsminister dieser Kommission angehören soll20.

20

Dies war der wirtschaftliche Ausschuß des Kabinetts, auch Wirtschaftsausschuß oder Sechserausschuß genannt. Er trat in den Monaten September bis November zu zahlreichen Sitzungen zusammen, in denen unter Mitarbeit der beteiligten Ressorts ein Wirtschaftsprogramm der RReg. aufgestellt wurde. Das Wirtschaftsprogramm wurde am 29.11.1920 durch den RWiM im RT vorgetragen (RT-Bd. 346, S. 1334  f.).

Zum Wirtschaftsausschuß s. auch Dok. Nr. 89, P. 5.

Reichsminister Dr. Geßler wirft die Frage auf, in welcher Weise die Reichspolitik im Inland und Ausland publizistisch vertreten wird. Er weist darauf hin, daß die Pressekonferenz allmählich zu einem Nebenparlament geworden sei. Zweifelhaft sei ihm ferner, ob die Tätigkeit der Zentrale für Heimatdienst21 in der geübten Form zweckmäßig sei. Was die Vertretung der Regierungspolitik in der ausländischen Presse angehe, so fürchte er, daß vieles dem Zufall überlassen sei. Schon die bayerischen Blätter klagten, daß sie keine ausreichende Information seitens der Reichsregierung erhielten. Auch die Vertretung der Heeresangelegenheiten in der Provinzpresse sei kläglich.

21

Die „Reichszentrale für Heimatdienst“ war eine am 1.3.1918 geschaffene Organisation, die der Bevölkerung über außenpolitische, soziale und kulturelle Fragen überparteiliche und sachliche Aufklärung erteilen sollte.

Reichsminister Dr. Simons: Seiner Ansicht nach dürfte es Pressechefs der einzelnen Ressorts nicht geben, sondern nur einen solchen der gesamten Reichsregierung22. Ihm sei zweifelhaft, ob durch eine Änderung in der Organisation oder einen Wechsel des Personals im Presseamt viel erreicht werden könnte, denn er habe den Eindruck, daß die deutsche Presse unverbesserlich sei. Die Beziehungen zur Auslandspresse seien geregelte, bedürften aber noch stärkerer Organisierung.

22

Dies war der Leiter der Vereinigten Presseabteilung der RReg., WLegR Heilbron.

Geheimer Legationsrat Heilbron: Das Urteil des Reichsministers Dr. Geßler über die Pressekonferenz könne er nur noch verschärfen. Wortführer seien dort die Unabhängigen und Georg Bernhard23. Es hätte sich eingebürgert, daß die Regierungsvertreter dort sozusagen ad audiendum verbum erschienen. Er halte die Pressekonferenz nicht für das nützlichste Instrument der Reichsregierung.[179] Nützliche Arbeit auf dem Gebiet der Presse könne nur durch individualisierende Behandlung erreicht werden. Die Presse litte jetzt noch unter der verhängnisvollen Behandlung, die sie im Kriege durch den Generalstab erfahren habe. Sie sei im höchsten Grade verwahrlost. Die Arbeitslosen der Intelligenz strömten ihr zu und betrachteten ihre Aufgabe lediglich vom geschäftlichen Standpunkt. Daher sei ein Rennen nach Nachrichten und Informationen an der Tagesordnung. Im einzelnen sei zu sagen, daß die Zentrumspresse in der Hand ihrer Partei sei und tadellos arbeite. Die sozialdemokratische Presse sei nicht mehr wie früher in der Hand der Partei. Insbesondere fehle zur Zeit dem „Vorwärts“ eine klargerichtete Führung. Die demokratische Presse pariere ihrer Partei überhaupt nicht – wie schon seit den Zeiten des Prinzen Max. Die Deutsche Volkspartei habe hier kein eigenes Parteiblatt. Die „Tägliche Rundschau“ fange an, sich zu einem solchen zu entwickeln, und sei gut geführt24. Die Provinzpresse der Deutschen Volkspartei sei gut, sie pflege aber nicht genügend die Beziehungen zur Zentrale. Im allgemeinen könne man sagen, daß zur Zeit alles auf Sensationen eingestellt sei und nicht auf politische Feinarbeit.

23

Georg Bernhard, Chefredakteur der „Vossischen Zeitung“ und Vorsitzender des Ausschusses der Pressekonferenz.

24

Die „Tägliche Rundschau“ war eine Berliner Tageszeitung. Ihr Herausgeber, H. Rippler, war selbst Mitglied der DVP und Abg. im RT für diese Partei.

Die Arbeit des Pressechefs sei vergeblich, wenn nicht eine gemeinsame Linie in der Koalitionspresse hergestellt werde. Nötige Voraussetzung hierzu sei ein klares Programm der Regierung. Ein stärkeres Zusammenarbeiten zwischen den Ressorts und dem Reichspressechef sei erforderlich, besonders vermisse er dies beim Reichswehrministerium.

Um auf die Provinzpresse einwirken zu können, brauche man viel Geld. Wesentlich seien hierbei auch die Nachrichtenbüros. Wie bekannt, sei das W.T.B. sozusagen bankrott und lebe von den Reichszuschüssen25. Immerhin bleibe es das wesentlichste Instrument der Regierung, das stark gemacht werden müsse. Andere Nachrichtenbüros seien in der Hand von Interessentengruppen, so z. B. die Telegraphenunion26 in der Hand der Industrie. Darin liege eine Gefahr. Wenn wir unser Instrument nicht stützen, so würden wir durch die anderen Büros zurückgedrängt werden.

25

Ende 1919 war es zwischen der RReg. und WTB zu einer Rahmenvereinbarung über die Verbreitung von amtlichen Nachrichten gekommen. Nach dieser Vereinbarung sollte WTB Nachrichten amtlicher Stellen, soweit sie kurz gefaßt waren, kostenlos verbreiten. Dagegen sollte für die Verbreitung von längeren amtlichen Bekanntmachungen, wie Artikeln, VOen oder Kommentaren, eine Entschädigung durch das Reich geleistet werden (Muster eines Abkommens zwischen WTB und amtlichen Stellen, R 43 I /2526 , Bl. 262–263; s. auch RT-Drucks. Nr. 1011 und 1281, Bd. 365 ). In der Folgezeit war dies die Haupteinnahmequelle für WTB geworden.

26

Die „Telegraphen-Union“ war neben WTB das größte dt. Telegraphenbüro.

Was den Auslandsdienst anlange, so könnten wir leider das Ausland noch nicht genügend erreichen. In England und in Paris hätten wir keine Vertreter. Der Vertreter der „Vossischen Zeitung“ in Paris wirke gefährlich27. Mit Italien seien die Beziehungen besser. Tüchtige italienische Journalisten seien hier, und auch unsere Presseleute dort würden gut behandelt. Nach Amerika sei die[180] Wirkung sehr gering. Die amerikanischen Journalisten hätten kein sachliches Interesse an uns. So sei beispielsweise bisher kein amerikanischer Journalist trotz erfolgter Anregung nach Oberschlesien oder in das Saargebiet gegangen. Der Grund hierfür sei, daß sie den Franzosen nicht weh tun wollten. Leidlich seien die Pressebeziehungen mit den skandinavischen Ländern, mit Spanien und Südamerika, aber dies verursache enorme Kosten. So habe ein Pressevertreter in Buenos Aires in einem Jahr zwei Millionen Mark Kosten verursacht. Bei der Höhe dieser Ausgaben könnten sich die Zeitungen keine Auslandsvertreter halten. Hierdurch würde die Sache außerordentlich beeinträchtigt. Es müsse sorgfältig erwogen werden, ob hier nicht mit Reichsmitteln eingegriffen werden solle.

27

Auslandskorrespondent der „Vossischen Zeitung“ in Paris war 1920/1921 Dr. Wilhelm Feldmann.

Reichswehrminister Dr. Geßler betont, daß der Vertreter des Auswärtigen Amts in München mit der bayerischen Presse stärkere Fühlung suchen müsse28.

28

Siehe dazu Dok. Nr. 139.

Geheimer Legationsrat Heilbron: In der Haltung der „Münchener Neuesten Nachrichten“ sei durch Eintritt Cossmanns in die Redaktion eine Wendung zu erwarten. Es sei jedoch noch nicht klar, welche Haltung dieses Blatt in Zukunft einnehmen werde. Wahrscheinlich würde es sensationell arbeiten, aber keine feste Linie halten29.

29

Die „Münchener Neuesten Nachrichten“, die größte Münchener Tageszeitung, waren im Juni 1920 an ein Konsortium verkauft worden, in dem die Großindustrie stark vertreten war. Mit dem Verkauf war auch ein Wechsel im Redaktionsstab eingetreten. Vgl. dazu Dok. Nr. 139.

Reichsminister Dr. Simons: Der Presse mangele jedes politische Verständnis, aber bei individualisierender Behandlung sei eine Besserung vielleicht zu erhoffen, wenn man sich nämlich zu bestimmten Zwecken bestimmter Leute bediene. Gegebenenfalls dürfe man sich nicht scheuen zu sagen, die Pressekonferenz habe versagt, also sei mit dieser Institution zu brechen. Zunächst würde hierdurch die Presse verprellt werden. Sie würde sich aber wohl bald wieder beruhigen. Über die Zentrale für Heimatdienst habe er neben Schlechtem auch viel Gutes gehört. Man dürfe sie nicht ungehört verdammen.

ReichskanzlerFehrenbach bittet, die Zentrale für Heimatdienst erst nach Rückkehr des Staatssekretärs Albert zu besprechen.

Auf Vorschlag des Reichskanzlers wird beschlossen, den Geheimen Legationsrat Heilbron zu beauftragen, Vorschläge über die Besserung der Presseverhältnisse zu machen.

Auf Vorschlag des Reichsministers Groener wird beschlossen, daß der Pressechef der Reichsregierung regelmäßig die Pressereferenten der einzelnen Ressorts zu sich bitten und sie informieren solle.

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