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[1. Grundsatzfragen der Alters- und Invalidenversicherung
a. Einführendes Referat durch Herrn Dr. Wilfrid Schreiber]
Der Bundeskanzler dankt dem Vizekanzler für die bisher unter seinem Vorsitz durchgeführten Arbeiten des Ministerausschusses und bittet Dr. Schreiber, sein Referat über Grundsatzfragen der Alterssicherung zu beginnen 4. Dr. Schreiber trägt wesentliche Grundgedanken seiner Schrift „Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft" vor. Er hebt insbesondere hervor, daß die Voraussetzungen der alten Sozialpolitik, die zur Zeit Bismarcks vorgelegen haben, größtenteils entfallen seien. Die Arbeitnehmer hätten in der Zeit vor der Jahrhundertwende eine einkommensschwache Minderheit dargestellt, die von der Unterstützung der besitzenden Mehrheit des Volkes abhängig gewesen sei. Heute bestehe die Gesellschaft der westlichen Welt zu 4/5 aus Arbeitnehmern; heute sei der Arbeitnehmer nicht mehr funktionell arm. Es komme nunmehr darauf an, das Individualeinkommen des Arbeitnehmers, das für viele die einzige Einkommensquelle bedeute, auf sämtliche Phasen des Lebens (Kindheit, Arbeitsalter und Lebensabend) gerecht zu verteilen. So sehr die private Spartätigkeit des einzelnen auch erwünscht sei, so müsse sie doch als unzureichend für die Sicherung im Alter und bei Krankheit angesehen werden. Deshalb sei es erforderlich, im Rahmen einer Rentenversicherung die drohenden Risiken soweit wie möglich auszuschalten. Die Rentenversicherung sei unbedingt reformbedürftig, denn sie vermische Elemente der Selbsthilfe und der Versicherung mit denen der Versorgung und der Fürsorge. Sie beruhe noch auf dem Gedanken einer Neuverteilung der Einkommen zugunsten der Einkommensschwachen und zulasten der Einkommensstarken. Der Staatszuschuß, der in der Gesetzgebung zur Zeit Bismarcks mit Recht eingeführt worden sei, sei heute nicht mehr vertretbar. Der Sozialversicherte von heute zahle die Zuschüsse, die der Staat ihm gewähre, zu 90% oder mehr aus eigener Tasche, einfach weil keine einkommensstarke Schicht mehr über ihm bestehe, die diese Zuschüsse aufbringen könne. Daraus müsse der Schluß gezogen werden: Streichung des Staatszuschusses und Schaffung einer Rentenversicherung als autonome Selbsthilfeveranstaltung. Die freiwerdenden Etatmittel sollten jenen Sozialhilfeleistungen vorbehalten werden, die auch weiterhin Sache des Staates seien und bleiben müßten.
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Paul Adenauer hatte seinem Vater während des gemeinsamen Urlaubs in Mürren im August 1955 die Schrift des Geschäftsführers des Bundes katholischer Unternehmer und apl. Professors an der Universität Bonn, Wilfrid Schreiber: Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft. Vorschläge zur Sozialreform, Köln 1955, nahegebracht. Er hatte es auch übernommen, das Bundeskanzleramt auf das „besondere Interesse" des Kanzlers an der Rentenkonzeption Schreibers hinzuweisen und seinen Wunsch zu übermitteln, Schreiber und andere Herren des Bundes katholischer Unternehmer, insbesondere Prof. Joseph Höffner, nach seiner Rückkehr aus Moskau zu empfangen (Schreiben P. Adenauers an Pühl vom 26. Aug. 1955 in B 136/1384). Pühl gab die Anregung zum Vortrag Schreibers vor dem Ministerausschuß und bereitete diesen Vortrag in engem Kontakt mit Paul Adenauer vor (vgl. hierzu Einleitung, S. 31). Ursprünglich war das Referat Schreibers im Sozialkabinett für den 25. Okt. 1955 vorgesehen, wurde aber aufgrund der schweren Erkrankung Adenauers verschoben. Am 25. Nov. 1955 übersandte Schreiber Pühl ein Exposé (B 136/1384), in dem er die unterschiedlichen Standpunkte zu sieben Grundfragen der Altersversorgung (Notwendigkeit einer gesetzlichen Pflichtversicherung, Personenkreis, Rentenformel, zu deckende Risiken, Finanzierung, Organisation, Höhe der Renten) darstellte. Abschließend formulierte Schreiber seine Grundgedanken: „a) Die Rentenversicherung ist keine Veranstaltung für Hilfsbedürftige, sondern ein reines Versicherungsgeschäft unter den Beteiligten nach dem Grundsatz der Aequivalenz (Leistung-Gegenleistung) im Wege des „Solidar-Vertrags zwischen 2 Generationen. b) Gefordert wird saubere Trennung zwischen Renten-Vertrag unter sozial eigenständigen Existenzen und Fürsorge-Gesetzgebung für Hilfsbedürftige. Die Hilfsbedürftigen sollen nicht darben, - es sollen aber keine sozial Eigenständigen in die Rolle des Almosen-Empfängers - entgegen den Tatsachen gepreßt werden. c) Deckungs-Kapital ist in einer Volksversicherung, die ca. 75-80 % der Erwerbstätigen umfaßt, unnötig, unwirksam, unerwünscht. Daher: Umlageverfahren mit Korrekturen nach Maßgabe des Notwendigen. d) Die Renten müssen den Beitragsleistungen jedes einzelnen Versicherten proportional sein (Leistungsprinzip). e) Die Renten müssen der Entwicklung des allgemeinen Lebensstandards auf dem Fuße folgen und gegen Geldwert-Schwankungen immun sein. Der Vorschlag Schreibers [Schreiber spricht im Exposé von sich in der 3. Person Singular] wird diesen 5 Grundforderungen auf einfachste Weise gerecht. Er erstrebt eine moderne, dynamische, für Dauer berechnete gesetzliche Rentenordnung, die mit einer freiheitlichen Wirtschafts-Ordnung konform ist (Leistungsprinzip) und die Gefahr des Hineinschlitterns in den totalen Versorgungsstaat - die eigentliche Gefahr der heutigen Sozialentwicklung - nachdrücklich bannt." Am 6. Dez. übersandte Schreiber den Entwurf seines Referats an Pühl (B 136/1384). Entwurf des Referates siehe Anhang 1, Dokument 9. - Weitere Unterlagen, vor allem Schriftwechsel Paul Adenauers mit Pühl in B 136/1359 und im Nachlaß Schreiber N 1331/1 (Korrespondenz), 22 (Entwürfe des Vortrags) und 41 (Materialien und Presseausschnitte). Zu den Vorbehalten im BMZ gegenüber Schreiber vgl. den Vermerk Sonnenburgs für Blücher vom 21. Okt. 1955 in B 146/1753. - Vgl. auch Herder-Dorneich, Schreiber. - Vor der Sitzung sollte Schreiber gemeinsam mit den Vorstandsmitgliedern des BKU Prof. Höffner, Franz Greiss und Wilhelm Naegel von Adenauer empfangen werden (Einladungen in B 136/1384). Im Tageskalender Adenauers ist dieses Treffen nicht vermerkt (StBKAH I 04.06).
Es sei eine allgemein bekannte Tatsache, daß der Wirtschaft des industriellen Zeitalters eine sich stetig entwickelnde, zu immer größerer Produktivität fortschreitende dynamische Kraft innewohne. Hieraus müsse bezüglich des Rentners die Folgerung gezogen werden, daß auch das Existenzminimum und das standesgemäße Einkommen des einzelnen keine Fixgrößen mehr darstellten, sondern sich stetig nach aufwärts bewegten. Auch wenn der Realwert der Währungseinheit völlig konstant bleibe, sei die Vorsorgekraft einer DM, die man heute für die Alterssicherung zurücklege, bei wachsendem Lohnniveau unweigerlich einem relativen Schwund unterworfen. Die Errechnung der Rente könne daher nicht an einen Nominalbetrag in DM angelehnt, sondern müsse an eine vergleichbare Anzahl von Arbeitsstundenentgelte gekoppelt werden.
Dr. Schreiber trägt sodann folgende Reformvorschläge vor:
- 1.
Die Rentenversicherung als eine Alterssicherung muß alle Empfänger von Arbeitseinkommen erfassen und eine zweckmäßige Solidarveranstaltung aller Beteiligten darstellen, die mit Hilfeleistung für Schwache und Hilfsbedürftige nichts zu tun hat. Es ist daher zu fordern: Klare Ausgestaltung der gesetzlichen Rentenversicherung zu einer autonomen Selbsthilfeveranstaltung.
- 2.
Die Ausgaben der Rentenversicherungsträger müssen vollständig durch die Beiträge der Versicherten gedeckt werden.
- 3.
Der Rentenanspruch jedes Versicherten muß seinen Beitragsleistungen vollkommen proportional sein. Eine relative Höherbelastung der höher Verdienenden findet nicht statt. Die Absoluthöhe der Renten muß der allgemeinen Wohlstandsentwicklung - gemessen am Lohnniveau - folgen:
Die vorgeschlagene Rentenformel erläutert Dr. Schreiber wie folgt:
Jeder Versicherte leistet im Laufe seines Arbeitslebens Beiträge zur Rentenversicherung in Höhe von a-Prozent seines Bruttoeinkommens. A-Prozent vom Arbeitsverdienst bedeuten also den Gegenwert von a-Prozent der geleisteten Arbeitsstunden. Die Zahl der als Beitrag geleisteten Stundenlohnentgelte wird dem einzelnen gutgeschrieben. Diese Gutschrift bildet die Grundlage seines Rentenanspruchs. Hierdurch wird erreicht, daß die Rentenhöhe an die Größe des Jahr für Jahr eingehenden Beitragsaufkommens gebunden wird. Da das allgemeine Beitragsaufkommen das jeweilige Einkommensniveau widerspiegelt, sichert es dem Rentner eine Rentenhöhe, die mit der Einkommensentwicklung der arbeitstätigen Versicherten Schritt hält. Voraussetzung ist, daß das Verhältnis zwischen aktiven und passiven Versicherten konstant bleibt.
Ein Deckungskapital sei für diesen Normalfall nicht erforderlich. Die bisherige Kumulierung von Kapitalien in Händen der Rentenversicherungsträger sei unerwünscht, da sie nur die Umlenkung eines Teiles des laufenden Einkommensstromes darstelle und im Notfalle nicht zu liquidieren sei. Sein Vorschlag könne als ein Solidarakt zwischen zwei Generationen angesehen werden: Die jeweils Arbeitstätigen verpflichteten sich, die jeweils Alten durch ihre Beitragsleistungen mitzuernähren und erwürben dadurch einen Anspruch, in ihrem eigenen Alter von den dann Arbeitstätigen miternährt zu werden. Störungen der in diesem Vorschlag enthaltenen Konstruktion würden dann auftreten, wenn das Zahlenverhältnis der aktiven zu den passiven Versicherten sich verschlechtere. Dies sei in einem schrumpfenden Volke der Fall. Dieser Gefahr könne nur dadurch begegnet werden, daß ein gewisses Mindestmaß von Bevölkerungspolitik in den Rahmen der Wirtschafts- und Sozialpolitik einbezogen werde. Durch die beiden letzten Kriege sei ein erheblicher Einbruch in den Altersaufbau unserer Bevölkerung erfolgt.
Hierdurch werde sich das Verhältnis zwischen aktiven und passiven Versicherten etwa in den Jahren 1965 bis 1980 merklich verschlechtern. Um in dieser befristeten Zeit von 15 Jahren das Rentenniveau zu halten, müsse nach seiner Auffassung erwogen werden, ob man etwa eine Erhöhung der Beiträge vornehmen wolle. Andere Gutachter hätten sich zur Überbrückung dieser kritischen 15 Jahre für die Bildung einer Kapitalreserve ausgesprochen. Dieser letztgenannte Vorschlag sei auch nach seiner Meinung durchaus diskutabel. Er halte ihn aber nicht für geeignet zur Überbrückung bedeutender wirtschaftlicher Rückschläge wie z.B. Wirtschaftskrisen mit Massenarbeitslosigkeit und stark rückläufigem Beitragsaufkommen. Im Krisenfall müsse die Liquidation des vorhandenen Deckungskapitals die Krise unerhört verschärfen. Für den Fall einer wirtschaftlichen Depression größten Ausmaßes bleibe nur der Weg einer autonomen Kaufkraftschöpfung durch Verschuldung des Staates an die Zentralnotenbank. Was im Falle einer allgemeinen Wirtschaftskrise den Rentenkassen an Beitragsaufkommen fehle, müsse ihnen aus dieser Quelle, also keinesfalls aus dem Steueraufkommen, zugeschossen werden. Diese konjunkturpolitische Spritze durch Kaufkraftschöpfung wirke im Krisenfall niemals inflationistisch sondern nur antideflationistisch, unter der Voraussetzung allerdings, daß sie an der richtigen Stelle zur Belegung des rückläufigen Massenkonsums eingesetzt würde.
Zum Personenkreis führt Dr. Schreiber aus, daß das Umlageverfahren und die dynamische Rentenformel um so sicherer funktioniere, je mehr das Strukturbild der Versicherten mit dem des Gesamtvolkes übereinstimme. Er empfehle daher, auch die bisher nicht erfaßten kleinen Selbständigen bis zu einer gewissen Einkommensgrenze in die Versicherungspflicht einzubeziehen.
In Anlehnung an das Vier-Professoren-Gutachten tritt er dafür ein, die neue Rentenversicherung als reine Altersrente für alte Menschen, ihre Witwen und unmündige Waisen zu konstruieren und die Lebensrisiken der Frühinvalidität und des Frühtodes zusammen mit denen der Krankheit und des Unfalls einem zweiten System von Risikenträgern zu übertragen 5.
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Das Professoren-Gutachten hatte vorgeschlagen, die „Altersrentenversicherungen [...] von dem Risiko Invalidität und dem damit zusammenhängenden Heilverfahren" zu entlasten. Nur Vollinvalidität unterhalb der Altersgrenze sollte in die Altersversicherung einbezogen werden (Achinger u.a., Neuordnung, S. 117). Die Professoren hatten in ihrem Gutachten hinsichtlich des Generationenvertrags auf das Manuskript Schreibers verwiesen (ebenda, S. 108 f. und Anm. 57).