Text
Einleitung
Die Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Ölkrise, welche die Industriestaaten im Vorjahr empfindlich getroffen hatte, blieb auch im Verlauf des Jahres 1974 eine zentrale politische Aufgabe. Aufgrund nationaler Interessen und ungelöster Währungsfragen stagnierte die Integration der Europäischen Gemeinschaften (EG). Unerwartet wechselten auf Ebene der Staats- bzw. Regierungschefs der drei Westmächte die Führungspersönlichkeiten: Im Frühjahr 1974 trat der britische Premierminister Edward Heath zurück, und in den USA kam Präsident Richard Nixon anlässlich der Watergate-Affäre mit demselben Schritt im August 1974 einem Amtsenthebungsverfahren zuvor. Zum Nachfolger des verstorbenen französischen Präsidenten Georges Pompidou wurde Valéry Giscard d'Estaing gewählt. Nach der Enttarnung des DDR-Spions Günter Guillaume erschütterte der Rücktritt Willy Brandts (SPD) vom Amt des Bundeskanzlers die deutsche Innenpolitik. Angesichts gestiegener Inflation und zunehmender Arbeitslosigkeit stand die Bundesregierung unter der Führung Helmut Schmidts (SPD) vor der Aufgabe, angemessen auf die veränderten Rahmenbedingungen zu reagieren. Die künftige Politik stellte der neue Kanzler daher in seiner Regierungserklärung vom 17. Mai 1974 - anknüpfend an diejenige Brandts vom 18. Jan. 1973 - unter die „Leitworte" Kontinuität und Konzentration. 1 Mit der Notwendigkeit zu einer restriktiven Haushaltspolitik war zugleich die Zusage verbunden, wesentliche Ziele der sozial-liberalen Koalition weiterzuverfolgen: Innenpolitische Reformprojekte, namentlich die Reform des Strafrechts im Falle eines Schwangerschaftsabbruchs (§ 218 StGB), einerseits wie auch die praktische Ausgestaltung der Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten andererseits. Gleichfalls sollte die Deutschlandpolitik trotz einer Phase schwerer Belastung fortentwickelt werden. Die Sicherheitslage im Innern blieb selbst nach Verhaftung mehrerer Angehöriger der „Rote Armee Fraktion" (RAF) angespannt. Eine Reform der Strafprozessordnung sollte die Rolle des Gerichts in der Konfrontation mit angeklagten Terroristen stärken.
Das Bundeskabinett trat 1974 zu 50 Sitzungen zusammen. Darunter waren zwei Sondersitzungen am 25. Jan. sowie am 5. Juni 1974, die sich auf die Tarifpolitik im Öffentlichen Dienst bzw. auf die Vorbereitung der Bundestagsdebatte zur Steuerreform konzentrierten. Von insgesamt 513 Tagesordnungspunkten wurden 209 außerhalb der Tagesordnung, d. h. häufig ohne vorherige Abstimmung mit den beteiligten Ressorts oder ohne eine Kabinettsvorlage erörtert. Nach dem Rücktritt von Bundeskanzler Brandt am 7. Mai 1974 nahm der Vizekanzler, Bundesaußenminister Walter Scheel (FDP), die Amtsgeschäfte wahr. Am 16. Mai 1974 wählte der Deutsche Bundestag den Bundesminister der Finanzen und stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Schmidt zum neuen Bundeskanzler, der sein Kabinett am 17. Mai 1974 vorstellte. Soweit es die SPD-geführten Ministerien betraf, setzte er neue personelle Akzente: Das für die künftige Politik zentrale Ressort der Finanzen übernahm Hans Apel, Hans-Jochen Vogel ersetzte Gerhard Jahn als Justizminister. Horst Ehmke schied als Bundesminister für Forschung und Technologie aus und machte Hans Matthöfer Platz. 2 Egon Bahr gab zunächst sein Amt als Bundesminister für besondere Aufgaben ab, kehrte aber nach dem Rücktritt von Erhard Eppler als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit ins Kabinett zurück. Der bisherige Stellvertreter des Bundeskanzlers und Bundesminister des Auswärtigen Scheel war bereits am 15. Mai 1974 durch die Bundesversammlung zum neuen Bundespräsidenten gewählt worden. 3
Fußnoten
- 1
Vgl. Stenographische Berichte, Bd. 81, S. 121-134, bzw. Bd. 88, S. 6593-6605.