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Arbeit und Soziales
Nach dem Streik der Fluglotsen im Vorjahr geriet die Bundesregierung zu Beginn des Jahres 1974 in den Tarifverhandlungen für den Öffentlichen Dienst erneut in Konfrontation mit den Gewerkschaften. Diese forderten Lohn- und Vergütungserhöhungen um 15 bzw. 14% sowie zusätzlich ein Urlaubsgeld in Höhe von 300 bzw. 400 DM, während die öffentlichen Arbeitgeber einen Abschluss im zweistelligen Prozentbereich vermeiden wollten. In einer eigens anberaumten Sondersitzung erläuterte der Bundesminister der Finanzen Schmidt die finanziellen Auswirkungen eines Abschlusses namentlich auf das Preisniveau bis hin zur Gefahr erhöhter Arbeitslosigkeit. Nach Angeboten von zuletzt 9,5% bei einem Mindestbetrag von 130 DM erklärten die Gewerkschaften die Verhandlungen Ende Januar für gescheitert. Die Arbeitskampfmaßnahmen, die besonders hart den öffentlichen Nahverkehr, die Post und die Müllabfuhr betrafen, dauerten vom 11. bis 13. Febr. 1974 an. Bund und Länder verständigten sich am 13. Febr. 1974 auf ein Angebot in Höhe von 11% mit einem Mindestbetrag von 170 DM, dem die Gewerkschaften am selben Tag zustimmten. Eine am 12. Dez. 1974 unterzeichnete Schlichtungsvereinbarung sollte dazu beitragen, eine ähnliche Eskalation bei künftigen Tarifauseinandersetzungen zu vermeiden. Danach konnte jede Tarifvertragspartei innerhalb von sechs Werktagen nach dem Scheitern der Verhandlungen ein Schlichtungsverfahren verlangen. Die Schlichtungskommission hatte innerhalb bestimmter Fristen ihre Beratungen aufzunehmen und eine Einigungsempfehlung zu beschließen. Während des Schlichtungsverfahrens und der anschließenden neuen Tarifverhandlungen bestand Friedenspflicht.
Weniger dramatisch als die vorherige verlief die neue Tarifrunde Ende 1974. Die Forderungen der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) umfassten lineare Lohn- und Gehaltserhöhungen um 6%, einen einheitlichen Sockelbetrag von monatlich 50 DM sowie ein Urlaubsgeld in Höhe von 300 DM zuzüglich 50 DM für jedes Kind. Arbeitgeber und Gewerkschaften handelten zu Beginn des Jahres 1975 Lohn- und Vergütungserhöhungen von 6% und eine Einmalzahlung von 100 DM aus. Darüber hinaus kamen die Auseinandersetzungen über Verbesserungen bei der Eingruppierung der Arbeiter und Angestellten des Öffentlichen Dienstes zu einem vorläufigen Abschluss.
Nachdem Anfang 1972 die öffentlichen Arbeitgeber eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit der Arbeiter und Angestellten von 42 auf 40 Stunden zum 1. Okt. 1974 zugestanden hatten, wurde diese Regelung auch für die Beamten übernommen. Dabei stellte Bundeskanzler Schmidt klar, er werde deswegen für das Haushaltsjahr 1975 in keinem Fall einer Personalvermehrung im Öffentlichen Dienst zustimmen. Bedenken wegen möglicher Auswirkungen auf den militärischen Bereich sowie auf die Regelungen der Bundesressorts zur Kernarbeitszeit konnten ausgeräumt werden.
Aufgrund der Einbeziehung in das Kindergeldsystem entfielen für die Angehörigen des Öffentlichen Dienstes zum 1. Jan. 1975 der besoldungsrechtliche Kinderzuschlag und die bisherigen steuerrechtlichen Kinderfreibeträge. Als Ausgleich für mögliche Einkommensnachteile insbesondere bei Familien mit einem Kind oder zwei Kindern sollte der Ortszuschlag erhöht werden. Nach dem hierfür vom Bundesinnenminister Werner Maihofer (FDP) vorgelegten Gesetzentwurf waren die Ausgleichsbeträge so zu berechnen, dass bei einem „Eckmann" mit Monatsbezügen von 2800 DM die Einbußen vollständig ausgeglichen wurden, während für Empfänger höherer oder niedrigerer Bezüge leichte Nachteile bzw. Vorteile entstanden. Mit Rücksicht auf Forderungen des Bundesfinanzministers nach Haushaltseinsparungen und aufgrund des Zeitdrucks für eine rechtzeitige Neuregelung verzichtete Maihofer auf die von ihm favorisierte Lösung auf der Basis eines „Eckmanns" mit Bezügen von 3500 DM.
Im Oktober 1974 beauftragten die Regierungschefs von Bund und Ländern eine gemeinsame Staatssekretärskommission mit der Prüfung, ob durch Gesetz ein zweijähriges Moratorium für strukturelle Verbesserungen im Öffentlichen Dienst verwirklicht werden könne, das Beamte, Angestellte und Arbeiter bei Bund, Ländern und Gemeinden erfassen sollte. Entsprechend den Ergebnissen dieser Kommission stimmten die Regierungschefs Ende November 1974 dem Moratorium zu. Bund und Länder verständigten sich auf eine gemeinsame Erklärung, in der beide Seiten ihren Verzicht auf kostenwirksame Maßnahmen bis zum 31. Dez. 1976 bekannt gaben. Die Bundesregierung verpflichtete sich, die Einsparungsvorschläge bei bereits laufenden Gesetzgebungsverfahren mit Gesamtkosten von 679 Millionen DM im Bundestag zu unterstützen.
Bereits am 19. Jan. 1974 einigten sich die Koalitionsparteien SPD und FDP auf die Grundlinien zweier zentraler Reformvorhaben. Zum einen zielte eine Neuregelung der Mitbestimmung darauf ab, die Aufsichtsräte in allen Kapitalgesellschaften mit mehr als 2000 Beschäftigten paritätisch mit jeweils zehn Vertretern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer zu besetzen. Zum anderen wurde, wie bereits in der Regierungserklärung vom 18. Jan. 1973 angekündigt, eine Beteiligung „breiterer Schichten der Bevölkerung am Zuwachs des Produktivvermögens der Großunternehmen" mit einem Volumen von 5 Milliarden DM angestrebt. Zur Finanzierung sollte eine am Gewinn bemessene Vermögensbeteiligungsabgabe in Form von börsennotierten Aktien oder Geldleistungen der Unternehmen erhoben werden. Während die Mitbestimmungsregelung gegen Ende der 7. Legislaturperiode verwirklicht werden konnte, erreichte das Vorhaben zur Vermögensbildung nicht das Stadium eines Gesetzentwurfs.
Offensichtlich wurde die Expansion der Ausgaben für die soziale Sicherung anlässlich der Anpassung der gesetzlichen Renten und der Unfallrenten, die, wie Bundeskanzler Schmidt hervorhob, im Jahr 1974 zum dritten Mal in Folge in einem zweistelligen Prozentbereich erfolgte. Gleichzeitig wollte die Bundesregierung bestehende Lücken im System der Sozialversicherung schließen bzw. dessen dauehafte Finanzierung sicherstellen. Dies betraf den gesetzlichen Krankenversicherungsschutz Studierender sowie die Kranken- und Rentenversicherungspflicht bei Beschäftigten in Behinderten- oder Blindenwerkstätten, bei Auszubildenden in Berufsbildungswerken sowie bei Jugendlichen, die in Einrichtungen der Jugendhilfe auf eine Erwerbstätigkeit vorbereitet wurden. Schwerbehinderte sollten freiwillig der gesetzlichen Krankenversicherung beitreten können. Die Bundesregierung verfolgte das Ziel, Verbesserungen des Familienlastenausgleichs im Rahmen der Steuerreform nur Kindern mit Wohnsitz bzw. gewöhnlichem Aufenthalt in der Bundesrepublik zugutekommen zu lassen. Dies erforderte Neuverhandlungen zu den jeweiligen Abkommen über soziale Sicherheit mit den Anwerbeländern Türkei, Griechenland, Jugoslawien, Spanien und Portugal, in deren Ergebnis die geltendenbisherigen Kindergeldsätze beibehalten wurden unter Wegfall der bisherigen Einkommensgrenze bei den zweiten Kindern sowie einer zusätzlichen Gewährung von 10 DM für das erste Kind.