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Einführung

Inhalt



Einleitung

Im Gedenkbuch „Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945“ kann mittels einer Suchmaske gezielt nach Personen recherchiert werden. Darüber hinaus sind Informationen zur Entstehung des Gedenkbuchs zu finden, zur Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung im Deutschen Reich 1933-1945 und zur Abschiebung polnischer Juden aus dem Deutschen Reich 1938/39. Zusätzlich wird eine chronologische Auflistung der Deportationen aus dem Deutschen Reich (einschließlich Österreich, dem Protektorat Böhmen und Mähren und den sudetendeutschen Gebieten), aus Belgien, Frankreich, Luxemburg und den Niederlanden bereitgestellt.

Im Gedenkbuch werden alle ermordeten oder anderweitig verfolgungsbedingt verstorbenen Jüdinnen und Juden dokumentiert, die zwischen 1933 und 1945 im Deutschen Reich und zwar in den Grenzen vom 31. Dezember 1937, freiwillig ihren Wohnsitz genommen hatten, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit. Mit der Bezeichnung „Jüdisch“ folgt das Gedenkbuch – notgedrungen – der damals geltenden Definition, wonach diejenigen, die einen jüdischen Großelternteil hatten, als „Vierteljuden“ bezeichnet wurden.


Ergänzungen und Korrekturen

Die Onlineversion ermöglicht es, Ergänzungen und Korrekturen, die sich auch aus den umfangreichen Rückmeldungen von Nutzer/innen des Gedenkbuchs ergeben, sukzessive zu veröffentlichen.

Trotz laufender Bemühungen um Ergänzung und Verifizierung der vorhandenen Informationen ist das Gedenkbuch immer noch nicht vollständig. Das Bundesarchiv ist weiterhin an Ihren Korrekturen und Ergänzungen interessiert. Bitte melden Sie sich bei uns:

  • Nutzen Sie zur Übermittlung das Formular „Korrekturvorschlag senden“ unter dem jeweiligen Personeneintrag direkt im Online-Gedenkbuch oder
  • schicken Sie uns eine E-Mail an folgende Adresse: gedenkbuch@bundesarchiv.de.

Das Bundesarchiv bedankt sich bei allen Nutzerinnen und Nutzern, die seine Arbeit zur Dokumentation der Judenverfolgung bislang unterstützt haben und ist auch zukünftig für entsprechende Mitteilungen dankbar.



Hinweise zur Darstellung der Personenangaben

Im Gedenkbuch „Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945“ werden, sofern bekannt, ausschließlich folgende Angaben dokumentiert:

  • Nachname, Vorname, ggf. Geburtsname, ggf. Pseudonym.
  • Geburtsdatum und Geburtsort: Der Name des Geburtsorts ergibt sich aus der jeweiligen zeitgenössischen Bezeichnung (bezogen auf den Zeitpunkt der Geburt der betreffenden Person).
  • Wohnorte: Chronologisch werden die zwischen 1933 und 1945 freiwillig gewählten Wohnorte im Deutschen Reich aufgeführt.
  • Abschiebung: Hier wird die Abschiebung nach Polen 1938/1939 dokumentiert, soweit bekannt, mit Angabe des Zeitpunktes der Abschiebung.
  • Inhaftierung/Internierung: Daten und Orte von Lager- oder Haftaufenthalten.
  • Emigration: Zeitpunkt der Auswanderung und Nennung des Ziellands.
  • Deportation: Angabe des Ortes, an dem der Deportationszug abfuhr, mit Abfahrtsdatum und Zielort sowie gegebenenfalls weitere Transporte mit Datum und Zielort.
  • Todesdatum: Die Angabe des Todesdatums erfolgt nur, wenn dieses eindeutig bekannt ist.
  • Todesort: Die Angabe des Todesorts erfolgt nur, wenn dieser eindeutig bekannt ist.
  • Zusätzlich wird dokumentiert, ob die Person angesichts der Verfolgung Selbstmord begangen hat, Opfer der NS-„Euthanasie“ geworden ist oder, ob eine amtliche Todeserklärung vorliegt.

Um wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden, dokumentiert das Bundesarchiv ausschließlich Daten, die eindeutig durch schriftliche Quellen belegt sind.

Trotz laufender Bemühungen sind die oben aufgeführten Daten nicht für jede im Gedenkbuch dokumentierte Person bekannt. Das Bundesarchiv bleibt deshalb an Korrekturvorschlägen und Ergänzungen interessiert. Bitte nutzen Sie dazu entweder die Möglichkeit „Korrekturvorschlag senden“, die Ihnen bei jedem Personeneintrag angeboten wird, oder die Mailadresse gedenkbuch@bundesarchiv.de.



Entstehung des Gedenkbuchs „Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945“


Das erste Gedenkbuch

Ausgehend von der Initiative der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem erging 1960 ein Rundschreiben des Bundesministers des Innern an die Länder und Gemeinden der Bundesrepublik Deutschland mit der Aufforderung, Quellen zur jüdischen Bevölkerung zusammenzustellen. Diese sollten als Grundlage für die Erarbeitung eines Gedenkbuchs genutzt werden.
Ziel des Gedenkbuchs war es, alle jüdischen Opfer der Shoah aus Deutschland zu dokumentieren, also auch diejenigen, die im Zuge des Novemberpogroms 1938 ermordet worden waren, die 1938/1939 im Rahmen der so genannten „Polenaktion“ aus Deutschland abgeschobenen polnischen Juden und Jüdinnen, diejenigen, die angesichts der verzweifelten Situation Selbstmord begingen, und diejenigen, die zunächst ins Ausland fliehen konnten, aber letztendlich von dort aus in Vernichtungslager und -zentren deportiert wurden.

Das Bundesarchiv wurde von der Bundesregierung mit der Recherche für das Gedenkbuch beauftragt. Dessen erste Auflage erschien 1986 unter dem Titel „Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945“ in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes in Arolsen und beruhte im Wesentlichen auf den dort gesammelten Quellen und Informationen. Das Buch verzeichnete insgesamt ungefähr 128.000 Namen von jüdischen Opfern.


Das zweite Gedenkbuch

Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden insbesondere in zahlreichen mittel- und osteuropäischen Staaten in großem Umfang Quellen für die internationale Forschung ohne die vorherigen Beschränkungen zugänglich. Das Bundesarchiv begann daher Mitte der 1990er Jahre mit einer umfassenden Neubearbeitung des Gedenkbuchs. Dabei sollten erstmalig systematisch Opfer Berücksichtigung finden,

  • die aus dem Gebiet stammten, das später das Territorium der Deutschen Demokratischen Republik bildete,
  • die in den ehemaligen deutschen Gebieten im Osten wohnhaft waren.

Die Ergänzungskarten der Volkszählung 1939

Für diese Neubearbeitung war ein Quellenbestand besonders wichtig: die so genannten Ergänzungskarten der Volkszählung vom 17. Mai 1939. Als diese Anfang der 1990er Jahre durch die Übernahme des Zentralen Staatsarchivs der DDR ins Bundesarchiv kamen, wurden sie dem Bestand R 1509 Reichssippenamt zugeordnet.

Auf den Ergänzungskarten waren alle in einem Haushalt lebenden Personen hinsichtlich ihrer „Rasse“-Zugehörigkeit auf der Grundlage des Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre erfasst worden. Sofern ein Haushaltsmitglied mindestens ein jüdisches Großelternteil angegeben hatte, gelangten die Karten nach der regulären statistischen Auswertung zum Reichssippenamt. Aus der Gesamtheit der Ergänzungskarten entstand im Statistischen Reichsamt die „Reichskartei der Juden und jüdischen Mischlinge“.

Die Ergänzungskarten sind zu 85 Prozent überliefert und inzwischen auch digitalisiert. Damit ist ein großer Teil der in Deutschland unmittelbar vor dem Holocaust lebenden Juden namentlich bekannt. Mithilfe dieser Ergänzungskarten konnte die Datenqualität und -dichte im Gedenkbuch enorm verbessert werden.

Weitere Quellen aus dem In- und Ausland

Aber auch andere Quellen, überwiegend von Dritten, wurden und werden bis heute sukzessive ausgewertet und die Daten den jeweiligen Personen in der Datenbank zugeordnet.
Besondere Aufmerksamkeit galt der weiteren Präzisierung der Deportationsabläufe sowie der Erhebung von in- und ausländischen Quellen zur Emigration zwischen 1933 bis 1939, also vor der Volkszählung am 17. Mai 1939. Dadurch konnte das Verfolgungsschicksal vieler Emigrant/innen, die vor allem in westeuropäische Ländern geflohen waren, genauer nachgezeichnet werden.

Außerdem flossen Korrekturen und Ergänzungen aus den zahlreichen Zuschriften, die das Bundesarchiv im Laufe der Jahre erhielt, in die Neubearbeitung des Gedenkbuchs ein.

Im Mai 2006 stellte das Bundesarchiv die zweite, wesentlich erweiterte Auflage des Gedenkbuches vor. Es umfasste vier Bände mit 150.000 Personeneinträgen. Die Dokumentation zu den einzelnen Personen wurde in dieser Auflage um folgende Daten erweitert: Wohnort, Deportationsverlauf und -daten, Abschiebung nach Polen, NS-„Euthanasie“ und Selbstmord.
Diese zweite Auflage war die letzte Fassung des Gedenkbuchs in gedruckter Form.


Das Online-Gedenkbuch

Seit 2007 steht das Gedenkbuch auf der Internetseite des Bundesarchivs online und wird rege genutzt, kommentiert und korrigiert. Die Arbeit am Gedenkbuch ist keinesfalls abgeschlossen, sondern eine work-in-progress. Weiterhin sind wir zum einen um die Erschließung neuer Quellen bemüht, vor allem um noch bestehende Desiderate zu bearbeiten, zum anderen sind wir mit der Pflege der vorhandenen Daten beschäftigt.

Das Ausmaß der Änderungen wird an der Anzahl der dokumentierten Personen deutlich: Enthielt die gedruckte Fassung von 2006 noch 149.625 Namen jüdischer Opfer, so umfasst das Online-Gedenkbuch 176.475 Namen (Stand: Februar 2020).

Im Unterschied zur Druckversion dokumentiert die Onlineversion auch rund 7000 Personen, die Ende Oktober 1938 oder im Sommer 1939 nach Polen, häufig in den Grenzort Bentschen (Zbaszyn), abgeschoben wurden. Auch wenn Einzelnen noch die Flucht gelungen sein könnte, so ist die überwiegende Mehrzahl doch später Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen geworden. Daher wurde dieser Personenkreis ins Gedenkbuch aufgenommen, sofern nicht Informationen über eine erfolgreiche Emigration oder ähnliches vorlagen. Die Abgeschobenen lassen sich durch entsprechende Eintragungen im Feld „Abschiebung“ suchen.

Die Residentenliste

Mit dem Gedenkbuch auf das Engste verknüpft ist die Arbeit an der Datenbank „Liste der jüdischen Einwohner im Deutschen Reich 1933 – 1945 in den Grenzen vom 31.12.1937“ („Residentenliste“). Dieses erstmals 2002/2003 zur Prüfung von Entschädigungsansprüchen jüdischer Versicherungsnehmer/innen entwickelte und mit Mitteln der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ geförderte Vorhaben gehört seit 2008 zu den Daueraufgaben des Bundesarchivs. Auf der Grundlage des Gedenkbuchs entstand damals die Datenbank „Residentenliste“, in der alle jüdischen Einwohner/innen des Deutschen Reichs, die dort zwischen 1933 und 1945 freiwillig ihren Wohnsitz genommen hatten, dokumentiert werden sollten. Diese Datenbank wird kurz „Residentenliste“ genannt.
Die „Residentenliste“ ist Benutzer/innen des Bundesarchivs aus Gründen des Datenschutzes der Überlebenden und Betroffenen sowie aufgrund verschiedener bilateraler Vereinbarungen mit Datengeber/innen und wegen ihres noch unvollständigen Bearbeitungsstands nicht direkt zugänglich. Das Bundesarchiv erteilt daraus aber nach den Vorgaben des Bundesarchivgesetzes Auskunft.



Die Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland 1933-1945

Am 31. Januar 1933 wurde der NSDAP die Macht im Staat übertragen. Die neuen Machthaber erließen nach und nach Verordnungen, mit deren Hilfe sie etliche Bürger- und Freiheitsrechte einschränkten oder abschafften sowie die Gleichschaltung des deutschen Staats und der deutschen Gesellschaft vorantrieben. Mit den beiden infolge des Reichstagsbrands erlassenen Notverordnungen vom 28. Februar 1933 wurde der permanente Ausnahmezustand verhängt.

Am 1. April 1933 begann mit dem so genannten Aprilboykott eine Serie von sukzessiv erlassenen antisemitischen Gesetzen und Terrormaßnahmen, in deren Folge viele Jüdinnen und Juden aus dem Deutschen Reich flohen. Die Entrechtung der jüdischen Bevölkerung wurde in hohem Tempo betrieben: Menschen wurden ausgebürgert oder zu Staatsangehörigen mit minderen Rechten degradiert.[1] Seit 1935 leiteten die Machthaber die „Entjudung“ der Wirtschaft ein, nach dem Novemberpogrom 1938 setzte die „Zwangsarisierung“ von Betrieben in jüdischem Besitz ein.[2]

Waren bei der Volkszählung im Juni 1933 noch 502.799 der insgesamt 65 Millionen Einwohner/innen jüdisch[3], sank die Gesamtzahl der jüdischen Bevölkerung zum Jahresende 1937 auf 400.000 Jüdinnen und Juden. Der Großteil von ihnen, 140.000, lebte in Berlin.[4]

Am 17. Mai 1939 erfolgte eine weitere Volkszählung. Diese „Volks-, Berufs- und Betriebszählung“ mit den vorausgegangenen von 1925 und 1933 zu vergleichen, ist kaum möglich. Zum einen hatte sich das Territorium des Deutschen Reichs durch die „Heimholung“ des Saarlandes im März 1935, die Annexion Österreichs im März 1938 und des Sudetengebietes im September 1938 deutlich vergrößert. Zum anderen wurde das Judentum nicht mehr als Religionsgemeinschaft, sondern als „Rasse“ definiert und erfasst. Rund 80 Millionen Bürgerinnen und Bürger des Deutschen Reichs inklusive des annektierten Österreich und Sudetenlands sowie des Saarlands wurden erfasst. Ziele dieser Volkszählung waren die Erfassung der jüdischen Bevölkerung sowie die Registrierung von wehrfähigen Männern und arbeitsfähigen Frauen im Hinblick auf die geplante Mobilisierung. Die Auswertung, so vermeldete es das Statistische Reichsamt, ergab, dass es zum Zeitpunkt der Volkszählung 330.892 „Volljuden“, 72.738 jüdische „Mischlinge 1. Grades“ und 42.811 jüdische „Mischlinge 2. Grades“ gab.[5] 39.466 so genannte Volljuden hatten eine ausländische Staatsangehörigkeit, davon kamen die meisten aus Polen.[6]

Trotz der territorialen Expansion des Deutschen Reiches war unübersehbar, dass im Ergebnis die Gesamtzahl der jüdischen Bevölkerung im alten Reichsgebiet auf 233.973 zurückgegangen war.[7] Diese Verringerung um mehr als 266.000 Personen resultiert zum einen aus der Flucht von Juden und Jüdinnen aus Deutschland, aber auch aus dem Sterbefallüberschuss, der infolge von Überalterung sowie dem starken Geburtenrückgang bereits seit langem festzustellen war.

Emigration und Überalterung waren jedoch nicht die einzigen Gründe. So wurden etwa 17.000 vorrangig männliche erwachsene Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit am 28. und 29. Oktober 1938 zu Übergangsbahnhöfen an der Grenze zu Polen gebracht. In lokalen Zügen wurden sie nach Polen weiterbefördert, die meisten von ihnen jedoch noch im Laufe der Nacht zu Fuß über die Grenze gejagt. Andere wurden in einem Lager bei Bentschen (Zbaszyn) interniert.[8] Ein Großteil der nach Polen abgeschobenen Juden gelangte in andere polnische Städte und Ghettos. Starben sie nicht an den dortigen Arbeits- und Lebensbedingungen, so fielen sie in der Folgezeit den brutalen Vernichtungsaktionen zum Opfer.

Diese „Polenaktion“ hatte weitreichende Folgen. Zu den Abgeschobenen gehörten die Eltern des aus Hannover stammenden Herschel Grynszpan, der dann am 7. November 1938 in Paris ein Attentat auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath verübte. Sein Tod diente den nationalsozialistischen Machthabern anschließend als Vorwand für den unter anderem von der SA, SS und HJ initiierten Novemberpogrom, dem sich Teile der Bevölkerung anschlossen. Einige Hundert Juden verloren ihr Leben, reichsweit wurden über 2000 Synagogen niedergebrannt, massenhaft Wohnungen und Häuser, Geschäfte, Hachschara-Lager, Waisenhäuser und andere jüdische Einrichtungen zerstört und geplündert und etwa 30.000 Juden in die Konzentrationslager Sachsenhausen, Buchenwald und Dachau verschleppt.[9] Die Mehrzahl der Inhaftierten wurde nach wenigen Tagen oder Wochen wieder entlassen. Vor ihrer Freilassung mussten sie sich jedoch dazu verpflichten, umgehend ihre Auswanderung in die Wege zu leiten. Unter dem Eindruck des Novemberpogroms öffnete Großbritannien seine Grenzen für 10.000 jüdische Kinder, weitere 10.000 Kinder konnten bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs organisiert nach Schweden, Frankreich, Belgien, in die Schweiz und die Niederlande entkommen. Der erste Kindertransport verließ Deutschland am 1. Dezember 1938. In weiteren Kindertransporten befanden sich nicht nur Kinder aus Deutschland, sondern auch aus Österreich und Tschechien.[10]

Wer nicht fliehen konnte, geriet auf unterschiedliche Weise in den Verfolgungs- und Vernichtungsapparat. So waren Juden 1938 überproportional von KZ-Einweisungen im Zuge der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ betroffen.[11] Zudem wurden innerhalb verschiedener „Euthanasie“-Programme besonders viele Jüdinnen und Juden ermordet. Ihre Zahl ist nicht einmal schätzbar.[12] Aber auch die Selbstmordrate stieg. Schätzungen gehen von 10.000 Selbstmorden aus; manchmal nahmen sich ganze Familien das Leben.[13] Insgesamt verringerte sich die Gesamtzahl der jüdischen Bevölkerung in Deutschland zwischen dem 17. Mai 1939 und dem 30. September 1941 um etwa 70.000 Personen.

Bevor die Deportationen geplant und systematisch durchgeführt wurden, gab es verschiedentlich, auf Betreiben einiger Gauleiter bereits 1940/1941 erste Deportationen, etwa aus Stettin und Schneidemühl in den Distrikt Lublin, am 22. Oktober 1940 von etwa 6500 Personen aus Baden, der Pfalz und dem Saarland in das Internierungslager Gurs im damals noch unbesetzten südlichen Teil Frankreichs. Weitere kurzfristig angesetzte Transporte fuhren im Februar und März 1941 mit insgesamt etwa 5000 Personen[14] von Wien in das Ghetto Litzmannstadt. Dasselbe Ziel hatte ein Transport ab Danzig vom 1. Februar 1941.[15]

Der langjährige Herausgeber der „Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden“, Bruno Blau, registrierte am 1. Oktober 1941 nur noch 163.696 Juden in Deutschland.[16] Kurz zuvor, im September 1941, war das sichtbare Tragen des „Judensterns“ verpflichtend geworden. Am 18. Oktober begannen die Massendeportationen von Juden aus dem sogenannten Altreich mit einem Transport aus Berlin in das Ghetto Litzmannstadt (Lódz) im annektierten Reichsgau Wartheland, in dem sich über 1000 Menschen befanden. Vom 18. Oktober an bis zum Ende des Jahres 1941 wurden mehr als 28.100 Personen aus Deutschland in die Ghettos von Litzmannstadt, Minsk, Kowno und Riga deportiert. Im folgenden Jahr, 1942, fuhren die meisten Deportationszüge ab. Am 27. Februar 1943 wurden die verbliebenen jüdischen Zwangsarbeiter/innen im Zuge einer reichsweiten Razzia, der „Fabrik-Aktion“, verhaftet und deportiert. Damit waren fast alle Jüdinnen und Juden gen Osten verschleppt worden. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich fast ausschließlich durch so genannte „Mischehen“ geschützte Menschen und einige tausend Untergetauchte auf dem Territorium des „Altreichs“. 176.475 Jüdinnen und Juden aus dem Deutschen Reich haben die Shoah nicht überlebt (Stand Februar 2020).

[1] Miriam Rürup, Wie aus Deutschen Juden wurden. Staatsangehörigkeit von Jüdinnen und Juden in den 1930er-Jahren, in: Alina Bothe, Gertrud Pickhan (Hrsg.), Ausgewiesen! Berlin, 28.10.1938. Die Geschichte der „Polenaktion“, Berlin 2019, S. 54-58; siehe auch: J. Walk (Hg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat, 2. Aufl., Heidelberg 1996.

[2] Frank Bajohr, „Arisierung“ und Restitution. Eine Einschätzung, in: Constantin Goschler; Jürgen Lillteicher, „Arisierung“ und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in Deutschland und Österreich nach 1945 und 1989, Göttingen 2002, S. 41.

[3] Rürup, Deutschen, S. 53.

[4] Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945 (EJV), Bd. 2, Susanne Heim: Einleitung, München 2009, S.13.

[5] Die Juden und jüdischen Mischlinge im Deutschen Reich. Vorläufiges Ergebnis der Volkszählung vom 17. Mai 1939, in: Wirtschaft und Statistik, hrsg. vom Statistischen Reichsamt 1. u. 2. März-Heft, Nr. 5/6 (1940).

[6] Ebenda, S. 84 u. S. 87.

[7] In der Forschungsliteratur gibt es bisweilen Differenzen zwischen den statistischen Angaben. Die häufig anzutreffende Zahl 330.892 schließt das annektierte Österreich mit 94.270 Juden sowie die sudetendeutschen Gebiete mit 2694 Juden ein. Die hier angeführte Zahl von 233.973 Juden im Deutschen Reich bezieht sich auf das alte Reichsgebiet und ermöglicht so eher einen direkten Vergleich mit den Zahlen der Volkszählung von 1933.

[8] Wolf Gruner, Von der Kollektivausweisung zur Deportation der Juden aus Deutschland (1938-1945), in: Die Deportation der Juden aus Deutschland. Pläne – Praxis – Reaktionen 1938-1945 (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, Bd. 20), hrsg. von Birthe Kundrus und Beate Meyer, Göttingen 2004, S. 21-62.

[9] Wolf Gruner, Totale Verwüstung: die vergessene Massenzerstörung jüdischer Häuser und Wohnungen im Novemberpogrom 1938, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 67 (2019) 10, S. 793-811, besonders: S. 794.

[10] Website Jüdisches Museum Berlin, https://www.jmberlin.de/thema-kindertransport [eingesehen am 28.1.2020].

[11] Beate Meyer, Einleitung, in: Beate Meyer (Hg.) unter Mitarbeit von Esther Yen, Deutsche Jüdinnen und Juden in Ghettos und Lagern (1941–1945), Łódź. Chełmno. Minsk. Riga. Auschwitz. Theresienstadt. Berlin 2017, S. 11.

[12] Siehe dazu: Bundesarchiv, Inventar der Quellen zur Geschichte der „Euthanasie“-Verbrechen 1939–1945, https://www.bundesarchiv.de/geschichte_euthanasie/ .

[13] Meyer, Einleitung, S. 17.

[14] EJV, Bd. 6, Susanne Heim: Einleitung, München 2019, S.32.

[15] Beate Meyer, Einleitung, S. 14 f.

[16] Bruno Blau, Das Ausnahmerecht für die Juden in Deutschland 1933-1945, 3. Aufl., Düsseldorf 1965, S. 10.



Die Abschiebung polnischer Jüdinnen und Juden aus dem Deutschen Reich 1938/1939

Die Zwangsausweisung polnischer Jüdinnen und Juden aus dem Deutschen Reich Ende Oktober 1938 („Polenaktion“) wird in der Literatur oft als Vorgeschichte des Novemberpogroms 1938 erwähnt. Der polnische Jude Herschel Grünspan (Herszel Grynszpan) – ursprünglich aus Hannover, nun im französischen Exil – erschoss am 7. November 1938 in der deutschen Botschaft in Paris den Legationsrat Ernst Eduard vom Rath, um auf das Schicksal seiner während der so genannten Polenaktion über die deutsche Grenze nach Bentschen (Zbaszyn) abgeschobenen Eltern aufmerksam zu machen. Die Nationalsozialisten nutzten diese Tat als propagandistischen Vorwand für das Novemberpogrom 1938.

Die „Polenaktion“ selbst, in deren Rahmen 17.000 Jüdinnen und Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit aus Deutschland äußerst rabiat abgeschoben wurden, fand lange weder in der Forschung, noch in der Erinnerungskultur besondere Beachtung.


Die Zwangsausweisung nach Polen im Oktober 1938

Mit der Annexion Österreichs am 12. März 1938 veränderte sich die Situation der im Reichsgebiet lebenden Juden entscheidend, da sie einen nachhaltigen Einfluss auf die Einwanderungspolitik vieler europäischer Staaten hatte. Nun, da Österreich nicht mehr als Zufluchtsort in Frage kommen konnte und gleichermaßen der nationalsozialistischen „Judenpolitik“ unterlag, befürchteten die Nachbarstaaten des Deutschen Reiches einen noch größeren Zustrom jüdischer Emigrant/innen, wovor sie sich durch Verschärfung der Einreisebestimmungen schützen wollten. Anders jedoch als in der Schweiz, in Frankreich oder in Großbritannien richteten sich in Polen die Maßnahmen gegen eigene Staatsangehörige, die sich außerhalb des Landes aufhielten.

So sah das am 31. März 1938 vom polnischen Parlament verabschiedete Gesetz die Möglichkeit vor, allen polnischen Staatsangehörigen, die länger als fünf Jahre ununterbrochen im Ausland lebten, die Staatsangehörigkeit zu entziehen, da jene, so wurde argumentiert, ihre Verbindung zur polnischen Nation verloren hätten. Das betraf im Deutschen Reich schätzungsweise 30.000 und in Österreich zusätzliche 20.000 polnische Juden. Mit einem Erlass von Anfang Oktober 1938 sollte das genannte Gesetz umgesetzt werden. Die polnische Regierung wollte mit allen Mitteln einer Massenausweisung aus dem Deutschen Reich zuvorkommen und forderte nun jeden polnischen Bürger im Ausland auf, sich bei dem für ihn zuständigen Konsulat zu melden, um seinen Pass mit einem Kontrollvermerk versehen zu lassen. Tat er das nicht, sollte der polnische Pass mit dem 30. Oktober 1938 ungültig werden. Als der Erlass über die Deutsche Botschaft in Warschau auch in Berlin bekannt wurde, erhielten kurz darauf tausende polnischer Jüdinnen und Juden im Deutschen Reich ab dem 27. Oktober 1938 einen Ausweisungsbefehl, wurden verhaftet und mit größter Eile entweder zu Fuß oder in Sammeltransporten über die polnische Grenze abgeschoben.

Da die Anordnung zur Zwangsausweisung der polnischen Juden nicht alle Reichsteile zeitgleich erreichte, variierte das Abschiebedatum je nach Wohnort zwischen dem 27., 28. oder 29. Oktober 1938. Ferner ließ der Erlass den Behörden vor Ort einen gewissen Interpretationsspielraum, so dass sich nicht nur die Art und Weise der Durchführung reichsweit unterschied, sondern auch die Entscheidung darüber, wem die Ausweisung drohte. Waren es in einer Stadt bzw. Region ganze Familien, die von der Polizei aus ihren Wohnungen geholt wurden, traf es andernorts nur die männlichen Mitglieder eines Haushaltes. Erreichte die Ausweisung einmal nur polnische Juden, die das 18. Lebensjahr vollendet hatten, so wurden an anderer Stelle auch Klein- und Kleinstkinder abgeschoben.

Ebenfalls abhängig vom Wohnort war der Grenzübergang, zu dem die von der „Polenaktion“ betroffenen polnischen Juden transportiert wurden. Entsprechend dem Streckenverlauf des deutschen Eisenbahnnetzes gelangten die Sammeltransporte vor allem an drei Grenzorte mit Bahnanschluss. Neben der bereits erwähnten Stadt Bentschen gingen größere Transporte nach Konitz (heute Chojnice) in Pommern und Beuthen (heute Bytom) in Oberschlesien.


Die Quellenlage bei der namentlichen Ermittlung der Betroffenen

Einen ersten Schritt zur namentlichen Ermittlung der Betroffenen hat das Bundesarchiv bereits während der Arbeit am Gedenkbuch und der Datenbank Liste der ehemaligen jüdischen Einwohner des Deutschen Reiches 1933-1945 durch die Auswertung unterschiedlicher Quellen getan. Eine der umfangreichsten Quellen ist die in den Arolsen Archives aufbewahrte Namensliste zu Opfern der „Polenaktion“, die über Bentschen abgeschoben wurden.[1] In der Datenbank des Bundesarchivs wurde ihr Schicksal im Feld „Abschiebung“ mit dem Datum „28.10.1938“ und dem Zielort „Bentschen (Zbaszyn)“ angegeben, sofern durch ergänzende Quellen kein abweichendes Abschiebedatum ermittelt werden konnte.[2]

Für die anderen Grenzübergänge lagen keine vergleichbaren Quellen vor, da die polnischen Grenzbehörden vor Ort unterschiedlich agierten. Wurde in Bentschen der Versuch unternommen, die abgeschobenen Personen zu internieren und zu registrieren, konnten sie andernorts zumeist ungehindert weiterreisen, ohne namentlich erfasst zu werden. In der Datenbank findet sich das Schicksal derer, für die kein genauer Abschiebeort nachweisbar ist, mit dem allgemeinen Hinweis auf das Zielland „Polen“ im Feld „Abschiebung“ wieder.

Anhand der verschiedenen genannten Quellen – neben der Bentschenliste vor allem Quellen mit regionalgeschichtlichem Hintergrund – konnte das Bundesarchiv ca. 7000 Personen ermitteln, die Ende Oktober 1938 von der Zwangsausweisung nach Polen betroffen waren.[3] Für ca. 4800 von ihnen ließ sich der Ort Bentschen (Zbaszyn), der durch die weiteren Ereignisse in der Presse schon seinerzeit große Aufmerksamkeit erregte, als Grenzübergang nachweisen. Hier begann der Zustrom am Abend des 28. Oktober 1938. Die deutsche Polizei trieb die Menschen über die Landstraßen oder entlang der Eisenbahngleise; später erreichten auch erste Züge den Grenzübergang. Zeitzeugen sprachen von chaotischen Zuständen. Mehrere tausend Menschen irrten im Niemandsland umher, drängten sich auf dem Bahngelände, hausten im Stationsgebäude oder auf nahe gelegenen Plätzen in der polnischen Grenzstadt Bentschen sowie auf den die Stadt umgebenden Wiesen. Die von diesen Ereignissen überraschten polnischen Behörden waren mit der Situation völlig überfordert.

Nachdem sich die polnischen Grenzposten darum bemüht hatten, die Ausgewiesenen zu registrieren bzw. ihre Pässe zu kontrollieren, konnten viele von ihnen innerhalb der ersten zwei Tage in das Landesinnere weiterreisen. Diejenigen allerdings, die nicht wussten, wohin sie gehen sollten und denen man die Einreise verweigerte, wurden in Bentschen interniert.


Das Schicksal der nach Bentschen Abgeschobenen

Bereits am 31. Oktober 1938 begann die polnische Polizei damit, die Stadt weiträumig abzusperren. Sie quartierte die Mehrzahl der Betroffenen in der alten Kaserne mit den dazugehörigen Ställen ein und erlaubte die Abreise fortan nur noch unter bestimmten Voraussetzungen. Diese waren erfüllt, wenn der Betroffene nachweisen konnte, dass er in Polen entweder bei Familienangehörigen bzw. Bekannten unterkommen würde oder entsprechende Papiere für eine bevorstehende Emigration besaß. Auch finden sich Fälle, in denen die Betroffenen kurzzeitig in das Deutsche Reich zurückkehren durften, um dort ihren Haushalt aufzulösen und ihre Vermögensverhältnisse zu klären. Im Anschluss daran wurden sie aber wieder nach Polen ausgewiesen.

Der Verbleib der in Bentschen internierten Menschen hing also von verschiedenen Faktoren ab. Konnten sie Bentschen nicht auf irgendeinem Wege vorzeitig verlassen, verblieben sie dort bis zur allmählichen Auflösung des Lagers im Sommer 1939. Über die davon Betroffenen lag dem Bundesarchiv eine Namensliste aus dem Archiv des American Joint Distribution Committee in New York vor.[4] Im Online-Gedenkbuch des Bundesarchivs ist das Schicksal der dort verzeichneten Personen über das Feld „Inhaftierung“ (Eintrag: „bis Sommer 1939 Bentschen (Zbaszyn), Internierungslager“) zu recherchieren.

Für einige der bisher durch das Bundesarchiv identifizierten Betroffenen der „Polenaktion“ ließ sich ein Emigrationsort ermitteln. Allerdings gelang es nicht jedem von ihnen, sich dem deutschen Zugriff auf Dauer zu entziehen. Viele holten Krieg und Verfolgung in den Niederlanden, Belgien oder Frankreich ein. Sie wurden von dort deportiert. Ähnlich erging es jenen, die aus verschiedenen Gründen in das Deutsche Reich zurückkehrten. Überlebten sie die Inhaftierung in Konzentrationslagern wie Sachsenhausen, Dachau oder Buchenwald, kamen auch sie später in die Vernichtungslager, in das Ghetto Theresienstadt oder in ein Arbeitslager.

Die Spuren der nach ihrer Zwangsausweisung in Polen verbliebenen Juden verlieren sich zumeist in einem der unzähligen von den Deutschen dort errichteten Ghettos, wohin sie mit ihren Familienangehörigen oder Bekannten, bei denen sie einstmals Zuflucht gefunden hatten, deportiert wurden. Zu vielen Opfern der „Polenaktion“ allerdings lassen sich bis heute noch keine genauen Aussagen treffen. Ihre Schicksale bleiben nach dem derzeitigen Kenntnisstand ungewiss. Es ist nicht bekannt, ob sie deportiert wurden, emigrieren konnten oder den Krieg überhaupt überlebten.

[1] Bentschen-Liste, Eingangslisten des polnischen Auffanglagers Zbaszyn/Bentschen, Arolsen Archives.

[2] Mit dem Suchbegriff „Bentschen (Zbaszyn)“ im Feld „Abschiebung“ können in der Datenbank alle Personen recherchiert werden, die nachweislich in den polnischen Grenzort gebracht wurden. Als Abschiebedatum gilt der Tag, an dem die betreffende Person den Ausweisungsbefehl erhielt und von der Polizei mitgenommen bzw. verhaftet wurde. Viele mussten noch einen Tag in Gewahrsam verbringen oder kamen erst in eine andere Stadt, bevor man sie mit Sammeltransporten an die polnische Grenze brachte.

[3] Im Gedenkbuch sind nur diejenigen Personen aufgeführt, die die Verfolgung nicht überlebt haben bzw. deren weiteres Schicksal nach dem derzeitigen Kenntnisstand ungeklärt ist.

[4] Namensliste der Juden, die im Sommer 1939 in Zbaszyn registriert wurden, hier Daten aus dem Archiv des American Jewish Joint Distribution Committee, New York.