2.14.1 (str1p): [Finanzielle Situation des Reichs.]

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[Finanzielle Situation des Reichs.]

Der Reichskanzler eröffnete die Sitzung mit wenigen Bemerkungen, in denen er darauf hinwies, daß durch die Ausgaben für den passiven Widerstand, durch das Defizit in den Staatsbetrieben die Finanzlage des Reichs in einem Zustand sei, demgegenüber die durch den Reichstag letzthin bewilligten Steuern eine vollkommen ungenügende Gegenwirkung darstellten. Sofortige unaufschiebbare Maßnahmen seien notwendig, um einem weiteren Marksturz und der vollkommenen Unhaltbarkeit der Finanzlage des Reichs zuvorzukommen. Mit der Wirtschaft sei bereits Fühlung genommen und zwar in dem Sinne, daß auf die Freiwilligkeit ihrer Leistung nicht mehr gerechnet werden könne und Zwangsmaßnahmen unerläßlich seien4.

4

S. Anm. 48 zu Dok. Nr. 13.

Zur Begründung dieser Maßnahmen nahm der Reichsfinanzminister das Wort5. Er sprach zunächst von der ungeheuren Belastung des Reichs durch die letzten Lohnerhöhungen, die auf der Grundlage eines vorübergehend besonders hohen Dollarstandes bewilligt worden seien und daher zeitweise über dem Friedensstand gestanden hätten6. Diese Belastung des Reichs erhöhe sich noch dadurch, daß das Reich neben den Beamtengehältern von Ländern und Kommunen auch noch Defizits der Länder zu decken gehabt habe, so letzthin ein preußisches Defizit von 12 Billionen. Ferner kommen dazu Ausgaben für die Erhaltung privater gemeinnütziger Einrichtungen und auch jetzt schon Lohnleistungen[57] für die Privatwirtschaft. Um den Buchdruckerstreik zu beenden, habe das Reich die Zahlung einer Differenz von 10 Billionen im August übernommen7.

5

Vgl. zum folgenden die Ausführungen des RFM vom 18. 8. und 20.8.23 (Dok. Nr. 9, 10 und 13).

6

Vgl. Anm. 8 zu Dok. Nr. 13.

7

Ein Abkommen, das unter Beteiligung des RArbMin. angeschlossen worden war und in dem neben wöchentlich zweimaliger Lohnzahlung eine Berücksichtigung der Lohnindices neben den Spitzenlöhnen vorgesehen war, hatte bei den Funktionären der Buchdrucker keine Zustimmung gefunden: „Die Funktionärsversammlung lehnt das Angebot des Reichsarbeitsministeriums als viel zu gering ab und fordert für die laufende Woche 150% zum bestehenden Lohn. Von der neuen Lohnwoche ab sind 20 M Goldlohn pro Woche zu bezahlen.“ Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, waren die Buchdrucker in den Streik getreten und hatten damit die Produktion von Banknoten gefährdet, die in der Druckerei der Reichsbank und Auftragsdruckereien hergestellt wurden (DAZ, Nr. 367, 9.8.23). Unter diesen Umständen war der Eingriff des Reichs erforderlich geworden; s. a. Das Kabinett Cuno, Dok. Nr. 244.

Zu dieser Belastung komme eine vollkommene Anarchie der Währung. In der Zeit der Krisis der Zahlungsmittel hätten die Städte zum Teil ohne Genehmigung der Reichsbank und Sicherheit der Deckung Notgeld ausgegeben. Man schätze, daß 60–70 Billionen solchen Notgeldes im Umlauf seien. Die Vermutung sei nicht abzuweisen, daß diese Notgeldherstellung von der Industrie zum Teil unterstützt worden sei, die dadurch sich die Lohnzahlung erleichtert habe.

Von den auf 450 Billionen geschätzten Steuererträgen seien 170 Billionen eingegangen.

Das Defizit der Reichsbahn (über die Post lagen Ziffern noch nicht vor) betrüge 1355 Billionen (Ausgaben für den Rest des Etatsjahres 1559 Billionen, Einnahmen 1145 Billionen, dazu Ausfall des Ruhrgebiets 875 Billionen).

Im übrigen seien die Defizitquellen des Reichshaushaltes die folgenden:

1. Die Ausführung des Friedens von Versailles. Sie habe im Juli 5 Billionen gekostet. Hier könne vielleicht insofern eine gewisse Entlastung herbeigeführt werden, als man die Entschädigungsansprüche mit Goldanleihe abgelten könne. Allerdings bestehe dann die Gefahr, daß der Kurs der Goldanleihe ungünstig beeinflußt werde, wenn die Leute, denen Goldanleihe aufgedrängt wird, gezwungen sind, die [!] zu verkaufen. Hinsichtlich der Sachlieferungsverträge wird man kaum Erleichterungen schaffen können8. Es ist allerdings festgestellt, daß diese Sachlieferungsverträge zum Teil mit ungeheuren Gewinnen für die Industrie durchgeführt worden wären, die so exorbitant seien, daß der Finanzminister beabsichtige, die Firmen wegen laesio enormis9 zu fassen und einen Teil der Gewinne der Reichskasse zuzuführen.

8

S. hierzu auch die Ansicht des RMWiederaufbau Schmidt in Dok. Nr. 13.

9

Im römischen Recht: Vertragsverletzung mit übermäßigem Gewinn eines Vertragspartners.

2. Die Ruhraktion. Die Leistungen des Reichs für die Löhne haben im Juli 11,8 Billionen betragen, für Bürgschaften 3,7 Billionen. Die Erwerbslosenfürsorge kostet jetzt 35 Billionen wöchentlich10. An Kredit für die Zechen11 sind gezahlt im Juli an das Kohlensyndikat 2½ Billionen, vom 1.–16. August 13 Billionen. Für die preußischen Staatszechen 1750 Milliarden.

10

S. Anm. 11 zu Dok. Nr. 9, vgl. außerdem Dok. Nr. 41.

11

S. hierzu Anm. 6 und 7 zu Dok. Nr. 44.

3. Für die Ernährungswirtschaft würden benötigt an Devisen für den Kauf von Getreide für die zweite Hälfte des Etatsjahres 250 Millionen Goldmark,[58] für den Ankauf von Fett 45 Millionen monatlich. Dazu kommen Kohlen für 232 Millionen Goldmark für ein halbes Jahr12.

12

S. Anm. 3 zu Dok. Nr. 13; vgl. ferner Dok. Nr. 18.

Diesem Devisenbedürfnis des Reichs steht ein Eingang an Devisen aus dem Export von 60 Millionen monatlich gegenüber.

4. Eine Gesamtübersicht über den Haushalt des Reichs für den August ergibt folgendes:

Ausgaben

Einnahmen

zu decken durch Schatzanweisungen

1.–10. August

63 Billionen

3,6 Billionen

59,4 Billionen

11.–16. August

262 Billionen

16 Billionen

246 Billionen

Die Ausgaben für die darauf folgenden Tage sind:

17. August 26, 18. August 27, 19. 33 und 20. 82 Billionen. Die schwebende Schuld erhöhte sich seit dem 31. März 192213 von 271 Milliarden auf 117 Billionen.

13

Darüber hs. (von Erkelenz): „bis zum?“

Der Reichsfinanzminister meint, daß dieser Stand der Reichsfinanzen, der die schlimmsten Erwartungen übertreffe, in seinen einzelnen Ziffern aus außenpolitischen und innenpolitischen Gründen dem Haushaltsausschuß zur Zeit nicht mitgeteilt werden dürfe14.

14

Vgl. o. Anm. 1.

Es müßten die folgenden Maßnahmen unverzüglich getroffen werden, nur mit dem Ziel, die Reichsfinanzen so lange aufrecht zu erhalten, bis eine außenpolitische Entlastung eingetreten sei15.

15

Zur Behandlung der folgenden Maßnahmen im Kabinett s. Dok. Nr. 13.

Zunächst müsse das Reich sich einen Devisenfonds von schätzungsweise 200–300 Goldmillionen verschaffen, der bei der Goldanleihe nicht eingehen werde. Darum solle auf Grund der letzten Vermögenssteuererklärung die Verpflichtung zur Einzahlung eines bestimmten Betrages an Devisen auferlegt werden. Wer dazu nicht imstande sei, müsse eine eidesstattliche Versicherung abgeben. Falsche Angaben würden als Meineid, eventuell mit Vermögenskonfiskation verfolgt. Die Devisen würden gegen Goldanleihe oder auf Gutschrift auf Goldkonto der Reichsbank abgegeben oder gegen Lohnfondssteuer angerechnet. Die Ergänzung zu dieser Maßnahme sei eine Änderung der Politik der Reichsbank. Sie müsse zu Goldkonten und Goldkredit übergehen und als Vorschuß auf die eingehenden Devisen Goldbestände zur Verfügung stellen.

Abgeordneter Wels behauptete, daß diese Maßnahmen nicht genügen. Er forderte Beschlagnahme sämtlicher Devisen, ohne sich sehr klar darüber auszudrücken, wie dann der Devisenbedarf der Industrie gedeckt werden sollte. Er machte mit großem Nachdruck geltend, daß seine Partei das Kabinett Stresemann unterstütze, weil es das letzte nur mögliche verfassungsmäßige Kabinett sei. Die Sozialdemokratie sei bereit, auch unter Umständen mit Waffengewalt gegen bolschewistische Arbeiterunruhen die Republik zu verteidigen. Sie[59] aber verlangen, daß alles geschähe, um die Interessen des Staates gegenüber den Führern der Wirtschaft durchzusetzen.

Der Kanzler erwiderte, daß er in seiner Besprechung mit den Wirtschaftsführern16 keinen Zweifel darüber gelassen habe, daß auch er dieses Kabinett als das letzte verfassungsmäßige Kabinett ansähe. Die von der Reichsregierung vorgesehenen Maßnahmen würden mit größtem Nachdruck durchgeführt werden. Sie bedeuteten eine Devisenbeschlagnahme in dem Umfang, in dem sie zunächst für den Bedarf des Reichs erforderlich sei, seien also von dem Gedankengang des Herrn Wels keineswegs so weit entfernt. Der Zweck müsse sein, mit rasch wirkenden Mitteln sich eine Atempause zu sichern, die außenpolitisch zur ehrenvollen Liquidation der Ruhrfrage ausgenutzt werden müsse. Er beabsichtige, von England, das die Aufrechterhaltung des passiven Widerstandes wünsche, nicht nur eine theoretische Unterstützung durch Noten, sondern eine praktische durch Gewährung von Kohlenkrediten zu verlangen17. Er werde in einer Rede am Freitag Poincaré antworten18.

16

S. Anm. 37 zu Dok. Nr. 13.

17

Vgl. Dok. Nr. 16.

18

Stresemann bezieht sich hier auf die Rede vor dem DIHT am 24.8.23; s. dazu Schultheß 1923, S. 158 ff.

Von Raumer betonte, daß er hinsichtlich der Schärfe des Vorgehens noch radikaler sei als Minister Hilferding. Es seien aber die Devisen, insbesondere die sich im Publikum zu Spekulationszwecken befänden, nicht durch Zwangsmaßnahmen herauszuholen, sondern nur, wenn man eine andere Anlage vorteilhafter gestalte. Das würde geschehen durch Goldkonten der Reichsbank19, denn das Publikum würde Wertbeständigkeit plus Verzinsung der Wertbeständigkeit ohne Verzinsung vorziehen. Darum würden die Goldkonten automatisch die Devisen aus dem Publikum herausziehen. Wenn die Löhne heute zum Teil über dem Friedensstand wären, so beruhte das auf der Einkalkulierung der Geldentwertung, die wegfallen würde, wenn wir zu gefestigteren Zuständen kämen. Die Arbeiterschaft müsse aber auch sich mit der Notwendigkeit der Konjunkturausnutzung durch Überstunden vertraut machen20. Da wir durch niedrige Produktionskosten nicht mehr unterbieten könnten, könnten wir nur durch kürzere Lieferungsfristen unterbieten.

19

Vgl. hierzu Dok. Nr. 16 und 24.

20

S. hierzu die Äußerung Helfferichs vor der Arbeitsgemeinschaft deutschnationaler Industrieller am 18.8.23. Auf die Frage, ob die Gewerkschaften, an der projektierten neuen Währungsbank wie die anderen Berufsstände zu beteiligen seien, meinte er: „Gewerkschaftsfrage: keine Leistung ohne Gegenleistung. Leistet Arbeiterschaft Überstunden – dann –“ (R 13 I /278 , Bl. 200).

In der weiteren Aussprache trat – auch bei der Sozialdemokratie – Zustimmung zu den Vorschlägen des Kabinetts hervor. Es herrschte Einmütigkeit darüber, daß, ohne Rücksicht auf prinzipielle Meinungsverschiedenheiten über die Brauchbarkeit der vorgeschlagenen Maßnahmen für die Dauer, sie im Augenblick zu unterstützen seien. Es herrschte auch Übereinstimmung darüber – im Gegensatz zu der ursprünglichen Meinung Wels – daß die einzelnen Ziffern zwar vertraulich den Parteiführern noch einmal übergeben werden sollten, als aktenkundiger Nachweis der Verschlampung, in der das neue Kabinett die[60] Zustände vorgefunden habe21, daß es aber aus innenpolitischen und außenpolitischen Gründen nicht wünschenswert sei, diese Ziffern in die Öffentlichkeit kommen zu lassen.

21

S. die Äußerungen Hilferdings vor dem Haushaltsausschuß am 23.8.23, abgedruckt bei Beusch, Währungszerfall und Währungsstabilisierung, S. 110 ff. Vgl. hierzu die ausführlichen Verteidigungsbemühungen des ehem. RFM Hermes in einer Aufzeichnung vom 21. 9. und einem Schreiben an MdR Ersing vom 19.10.23 (Der Nachlaß des Reichskanzlers Wilhelm Marx, Teil III, S. 85–108, 110–119).

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