Text
[288] Nr. 76
Der Reichsminister des Innern an Staatssekretär Bracht. 28. Januar 1924
R 43 I/1846, Bl. 90 f. Umdruck
Betr. Vorabstimmung in Hannover. | Sofort! |
Die Deutsch-Hannoversche Landespartei hat am 6. November 1923 den Antrag gestellt, in der Provinz Hannover mit Ausnahme des Regierungsbezirks Aurich eine Vorabstimmung darüber zuzulassen, ob eine Abstimmung über folgende Frage stattfinden soll:
„Soll die Provinz Hannover mit Ausnahme des Regierungsbezirks Aurich aus Preußen ausscheiden, um ein Land zu bilden?“
Der Antrag ist von mehr als 5000 Stimmberechtigten gestellt und in formeller Hinsicht nach genauer Durchprüfung der Unterlagen nicht zu beanstanden. Auf Grund des Gesetzes zur Ausführung des Artikel 18 der Reichsverfassung vom 8. Juli 1922 (Reichsgesetzblatt I S. 545) hat nunmehr die Zulassung zu erfolgen1.
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Zu den Einzelheiten der Zulassungs- und Abstimmungsprozedur s. auch die VO zur Ausführung des Art. 18 der RV (Neugliederungs-VO) vom 29.12.22 (RGBl. 1923, I, S. 26).
Wegen des Termins der Vorabstimmung bin ich mit der preußischen Staatsregierung in Verbindung getreten. Diese hat ernste Bedenken gegen eine Abstimmung, jedenfalls in der gegenwärtigen Zeit. Die Arbeitslosigkeit, der Beamtenabbau und die Grundsteuer haben in Hannover wie in allen Provinzen eine starke Mißstimmung erzeugt. Diese würde dazu beitragen, daß viele Stimmen aus allgemeiner Unzufriedenheit heraus für den Antrag abgegeben würden von Personen, die innerlich mit einer Abtrennung an sich nicht einverstanden seien. Man müsse bei der Vorabstimmung immerhin mit einem Achtungserfolg der Welfen rechnen, der nicht ohne Rückwirkungen auf jene Provinzen bliebe, wo aus diesen oder jenen Gründen mehr oder minder starke, unter dem Einfluß der politischen und wirtschaftlichen Lage wechselnde Abtrennungsbestrebungen bestehen, wie im Rheinland, oder zu befürchten sind, wie etwa in Nordschleswig und Ostpreußen. Eine Gefahr für Preußen und damit das Reich sei nicht von der Hand zu weisen. Die preußische Staatsregierung würde es daher begrüßen, wenn dem Zulassungsantrage unter den heutigen schwierigen außenpolitischen Verhältnissen keine Folge gegeben werden könnte.
Die Bedenken, die gegen die Vornahme einer Abstimmung unter den gegenwärtigen Verhältnissen vom gesamtdeutschen Standpunkte bestehen, sind mit den Führern der Deutsch-Hannoveraner wiederholt erörtert worden. Auf dringende Vorstellungen, namentlich aus dem besetzten Gebiete, haben sie im Vorjahre ihren Antrag zunächst zurückgezogen2. Indessen besteht die Partei[289] jetzt auf Vornahme der Vorabstimmung. Seit Wochen wird von den Welfen in ihrer Presse und in Vorstellungen bei der Reichsregierung mit Nachdruck auf baldige Anberaumung des Vorabstimmungstermins gedrängt. Eine rechtliche Handhabe, den Abstimmungskampf zu verhindern oder lange hinauszuschieben, steht der Reichsregierung nicht zur Verfügung. Denn wenn auch im Gesetze eine Frist für die Anberaumung der Vorabstimmung nicht festgelegt ist, wird sich die Reichsregierung doch dieser Anberaumung nicht entziehen können, wenn die Voraussetzungen für die Abstimmung einwandfrei feststehen.
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Am 18.12.22 hatte die Deutsch-Hannoversche Partei die Zulassung einer Vorabstimmung in den pr. Regierungsbezirken Stade und Lüneburg über die Frage beantragt, ob diese Regierungsbezirke aus Preußen ausscheiden und ein selbständiges Land bilden sollen. Der Antrag wurde mit Rücksicht auf die Ruhrbesetzung und den passiven Widerstand zurückgezogen.
In der Vorbesprechung mit den Vertretern der preußischen Staatsregierung haben diese es noch als tragbar erklärt, wenn die Vorabstimmung nach den Reichstagswahlen stattfindet3. Die Reichstagswahlen, mit denen unter Umständen gleichzeitig die preußischen Kommunalwahlen verbunden sein könnten, würden eine willkommene Gelegenheit sein, der oppositionellen Stimmung der Bevölkerung Ventil zu geben. Es könnte damit gerechnet werden, daß bei einer wenige Wochen nach der Wahl stattfindenden Vorabstimmung die Aussichten für Preußen erheblich günstiger sich gestalteten4. Unter der Voraussetzung, daß die Reichstagswahlen anfangs Mai stattfinden, müßte dann anfangs Juni die Vorabstimmung vorgenommen werden. Dies würde allerdings eine reichliche Hinausschiebung des Vorabstimmungstermins bedeuten und ließe sich zur Not noch mit der schwierigen finanziellen Lage begründen. In dem dem Reichskabinett vorgelegten Entwurf einer Verordnung über die Kosten des Volksbegehrens5 habe ich vorgeschlagen, daß künftig bei Vorabstimmungen auf Grund des Art. 18 der Reichsverfassung die baren Auslagen des Vorabstimmungsverfahrens von den Antragstellern getragen werden. Lediglich für das von den Welfen beantragte Vorabstimmungsverfahren sollten noch die bisherigen Vorschriften Geltung behalten, wonach die gesamten Kosten des Verfahrens der Reichskasse zur Last fallen. Wird die Vorabstimmung nach der Reichstagswahl vorgenommen, so könnten die Vorarbeiten für die Reichstagswahl auch für die Vorabstimmung nutzbar gemacht und damit ein Teil der Kosten eingespart werden. Der 8. Juni muß als Pfingstsonntag für eine Abstimmung ausscheiden. Der 15. Juni würde schon recht nahe dem Beginn der Ernte sein, so daß wohl nur der 1. Juni als Vorabstimmungstag in Betracht[290] kommt, und die Wahl des Reichstags etwa 4 bis 5 Wochen vorher, am 11. oder 4. Mai stattfinden müßte. Die preußischen Kommunalwahlen sind endgültig auf den 4. Mai festgesetzt.
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Hierzu Randbemerkung Brachts: „Die Welfen wollen vor den Reichstagswahlen“.
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In einem Schreiben an die Rkei vom 2. 2. spricht sich RMbesGeb. Höfle dafür aus, Preußen entgegenzukommen und die Vorabstimmung bis kurz nach den Reichstagswahlen zu verschieben. „Den preußischen Bedenken ist die Berechtigung nicht abzusprechen. Die Vorabstimmung ist nicht denkbar ohne Propaganda gegen Preußen, das gegenwärtig am Rhein einen schwierigen Kampf zu bestehen hat, den es auch im Interesse der dt. Sache führt. Die Propaganda gegen Preußen würde naturgemäß auf das besetzte Gebiet zurückwirken und dort den Separatismus begünstigen, vor allem aber auch die legalen Loslösungsbestrebungen, die mehr im Verborgenen betrieben werden, fördern. Zweifellos würde auch Frankreich aus der Abstimmung in Hannover Nutzen zu ziehen suchen. Schon allein die Tatsache, daß in einer wichtigen Provinz Preußens ein nennenswerter Bruchteil der Bevölkerung sich von Preußen loslösen will, wäre für Frankreich verwertbar. Auch Englands Stellung könnte zu unserem Nachteil berührt werden, da zwischen Hannover und England die bekannten alten Beziehung bestehen, so daß vielleicht auch in England eine gewisse antipreußische Propaganda einsetzen könnte.“ (R 43 I/1846, Bl. 95 f.).
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S. Dok. Nr. 84, P. 6.
Gegenüber dem Vorschlage Preußens ist zu bedenken, daß die der Vorabstimmung folgende Hauptabstimmung, mit der angesichts der Stärkeverhältnisse der Welfen immerhin zu rechnen sein wird6, frühestens 2 Monate nach der Vorabstimmung stattfinden kann. Wenn während der Ernte von einer Abstimmung abgesehen würde, so würde die Hauptabstimmung Ende September oder Anfang Oktober vorzunehmen sein, wo unter Umständen die Gesamtlage für Preußen wiederum ungünstiger sein kann als unmittelbar nach der Reichstagswahl. Ich möchte daher zur Erwägung anheimstellen, ob es nicht gerade im Interesse Preußens zweckmäßiger wäre, noch vor Ostern die Vorabstimmung vorzunehmen, alsdann die Reichstagswahlen folgen zu lassen und dann im Juni die Hauptabstimmung vorzunehmen. Da wohl sämtliche anderen Parteien im gegenwärtigen Augenblicke gegen die Aufrollung der hannoverschen Frage sein dürften, so würden sich die Deutsch-Hannoveraner, wenn sie auch in der Vorabstimmung das zur Vornahme der Hauptabstimmung erforderliche Drittel der Stimmen7 aufbrächten, doch einer erheblichen ablehnenden Mehrheit gegenübergestellt sehen. Wird dies stimmungsgemäß geschickt ausgenutzt, so könnten die aus dem Zustandekommen der Vorabstimmung etwa sich ergebenden Bedenken wohl abgeschwächt werden.
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Die Hauptabstimmung findet statt, wenn die zur Vorabstimmung gestellte Frage von einem Drittel der zum Reichstag wahlberechtigten Einwohner bejaht wird. Vgl. §§ 9, 10 des Gesetzes zur Ausführung des Art. 18 der RV vom 8.7.22 (RGBl. I, S. 545).
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Es muß heißen: der Stimmberechtigten; vgl. die vorige Anm.
Jedenfalls ist es geboten, der Deutsch-Hannoverschen Landespartei in kürzester Frist eine Entscheidung in dieser oder jener Richtung mitzuteilen, da ein weiteres Beharren im Schwebezustand wie gegenwärtig für die Reichsregierung nicht tragbar ist.
Ich bitte daher, die Angelegenheit alsbald zum Gegenstand einer Kabinettsberatung zu machen8.
Eine Aufzeichnung über die Entwicklung der Abstimmungsfrage ist beigefügt9.
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In der Anlage eine 4seitige Aufzeichnung „Zur Frage der Abstimmung Hannover“.
25 Abdrucke des Schreibens und seiner Anlage liegen bei.
Dr. Jarres