2.202 (feh1p): Nr. 202 Der Reichskanzler an den Preußischen Minister des Innern. 10. März 1921

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 2). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

   Das Kabinett Fehrenbach  Konstantin Fehrenbach Bild 183-R18733Paul Tirard und General Guillaumat Bild 102-01626AOppeln 1921 Bild 146-1985-010-10Bild 119-2303-0019

Extras:

 

Text

RTF

Nr. 202
Der Reichskanzler an den Preußischen Minister des Innern. 10. März 1921

R 43 I /2324 , Bl. 7–8 Entwurf

[Betrifft: Abwehr der Bestrebungen, die Stadt Berlin aus dem Vorsitz des Pr. und Dt. Städtetages zu verdrängen]

Nach hierher gelangten Mitteilungen1 bestehen Bestrebungen, der Stadt Berlin den Vorsitz in den Vorständen der beiden (Preußischen und Deutschen)[557] Städtetage dadurch zu nehmen, daß der Oberbürgermeister von Berlin nicht wieder zum ersten Vorsitzenden gewählt wird, sei es, daß ihm nur der stellvertretende Vorsitz übertragen werden soll, sei es, daß der Vorsitz im Gegensatz zur bisherigen Übung in einem Turnus von dem Oberbürgermeister einer anderen Stadt übernommen werden soll. Es muß andererseits damit gerechnet werden, daß sich die Berliner Behörden entschließen, alsdann die Mitgliedschaft der Stadt Berlin in beiden Städtetagen überhaupt aufzugeben und daß auch andere Städte dem Beispiel Berlins folgen.

In diesen Bestrebungen des Deutschen und Preußischen Städtetages spiegelt sich offensichtlich der Kampf wider, der gegen Berlin in weiten Kreisen des Reiches geführt wird. Schon seit den ersten Kriegsjahren und ständig in den folgenden Jahren rechnet man es sich in anderen Städten geradezu zum guten Ton an, Berlin in jeder Weise herabzuziehen. Die Verunglimpfung Berlins ist Mode geworden. Dabei bietet der äußerliche Anstrich des Straßen- und Vergnügungslebens in gewissen Teilen Berlins vielfach den Anlaß. Auch die politische Unzufriedenheit mit dem neuen Verfassungszustand äußert sich mit Vorliebe in Angriffen gegen Berlin.

Die Reichsregierung hält es für geboten, dieser Bewegung entgegenzutreten. Die nicht einseitig angemaßte, sondern in den Tatsachen begründete Bedeutung der Hauptstadt des Deutschen Reiches muß im Deutschen Reiche überall wieder klar zum Bewußtsein gelangen und nicht unter kleinlichen Anwürfen zurücktreten. In Berlin liegt das Schwergewicht der deutschen geschichtlichen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung. Die Stadt hat sowohl im Kriege wie nach dem Kriege ganz besonders leiden müssen. In dem Wettbewerb der deutschen Städte um die hingebungsvollste, unermüdlichste, entbehrungsvollste Arbeit in ihren Mauern steht Berlin an erster Stelle. In keiner anderen Stadt, um nur ein Beispiel zu nennen, hat die Masse neben allen anderen Entbehrungen und Nöten unter den Anstrengungen und Nachteilen der großen Entfernungen bei ihrer Arbeit unter den jetzigen erschwerten Bedingungen so zu leiden wie in Berlin; in keiner Stadt auch so unter dem Zustrom vergnügungshungriger Ausländer und Inländer, von Ententekommissionen und dergl. Die höchste Achtung gebührt im ganzen Reiche dieser Stadt und der großen Masse ihrer Bevölkerung, die unter diesen Umständen sich moralisch aufrechterhalten und unbeirrt ihr schweres Tagewerk getan hat. Aber auch der wirtschaftliche Aufschwung, auf den das Reich früher oder später hofft, muß nach der tatsächlichen Bedeutung Berlins als wirtschaftlicher und politischer Zentrale von Berlin getragen werden und hier seine Vorbereitung finden. Wenn auch Berlin die äußerliche Sonderstellung verloren hat, die es als kaiserliche und königliche Residenz genoß, so ist Berlin doch nach wie vor die Hauptstadt des einigen[558] Deutschen Reiches, und sie ist es umsomehr, als das Band der Länder untereinander ein immer engeres und festeres sowohl durch die gemeinsame Not wie durch die Änderungen der verfassungsmäßigen Verhältnisse geworden ist.

Die Reichsregierung kann es nicht ruhig ansehen, daß nunmehr auch in den Kreisen des Deutschen Städtetages Maßnahmen erwogen werden, die auf eine Brüskierung Berlins hinausgehen. Ich bitte Sie daher, Herr Minister, auch namens der Reichsregierung, mit dem Städtetag Fühlung zu nehmen und dafür Sorge zu tragen, daß der gegen Berlin geplante Vorstoß unterbleibt2.

F[ehrenbach]

Fußnoten

1

Am 3.3.1921 hatte der Berliner OB Böß in einem Schreiben an den RK über Bestrebungen berichtet, die Stadt Berlin aus dem Vorsitz des Pr. und Dt. Städtetages zu verdrängen. Im einzelnen hatte Böß dem RK mitgeteilt, daß die Stadt Berlin seit Bestehen des Pr. und Dt. Städtetages den Vorsitz in beiden Organisationen innegehabt habe. Innerhalb der Städtetage bestehe jedoch die Absicht, von dieser Übung abzugehen. So solle die Stadt Berlin in Zukunft im Pr. Städtetag lediglich den stellvertretenden Vorsitz erhalten, während der Vorsitz selbst unter den Städten im Turnus wechseln sollte. Auch im Dt. Städtetag sollte der Vorsitz in Zukunft wechseln. Böß hatte erklärt, daß die Möglichkeit bestehe, daß sich die Stadt Berlin aus beiden Organisationen zurückziehen und daß andere Städte diesem Beispiel folgen würden. Der Berliner OB hatte darauf hingewiesen, daß es im Interesse der RReg. und der Pr. Regierung sein müsse, die bisherige Stellung der Reichs- und Landeshauptstadt zu wahren. Er halte es daher für notwendig, diese Angelegenheit rechtzeitig zur Kenntnis der RReg. zu bringen (R 43 I /2324 , Bl. 5).

2

Am 31.3.1921 übersandte der PrIM dem RK die Abschrift eines Schreibens, das er am Tag zuvor an den Essener OB Luther gerichtet hatte (R 43 I /2324 /9). Luther wurde von MinR Brecht in einer handschriftl. Notiz als „führendes Mitglied“ des Städtetages bezeichnet (R 43 I /2324 , Bl. 13).

In dem Schreiben an Luther wies der PrIM zunächst darauf hin, daß die vielfach erhobene Kritik an der kommunalpolitischen Entwicklung Berlins durchaus begründet sei. Der PrIM fuhr dann fort: „Ich würde es aber für sehr bedenklich halten, wenn man den heutigen Stand der Dinge zur Grundlage von Beschlüssen und Maßnahmen machen wollte, die, ohne an den heutigen Verhältnissen etwas zu bessern, die Interessen der Allgemeinheit nur gefährden könnten. Eine solche Maßnahme würde ich in der Verdrängung Berlins aus den bisher innegehabten Posten in der Vertretung der Städtetage erblicken. In unserer von politischen Leidenschaften bewegten Zeit würde eine derartige Maßnahme als gegen die sozialistische Mehrheit der Berliner Stadtvertretung gerichtet betrachtet werden und könnte dadurch zum Austritt anderer Stadtgemeinden oder doch zu leidenschaftlichen und nutzlosen Debatten auf den Vertretertagen selbst führen.“ Der PrIM bat Luther, seinen Einfluß im Städtetag dahin geltend zu machen, daß jede unliebsame Weiterung vermieden werde (R 43 I /2324 , Bl. 10–11).

Am 15. 4. teilte der Berliner OB dem RK dann mit, daß der Pr. und Dt. Städtetag auf seinen Sitzungen am 17. und 18. 4. in der Frage des Vorsitzes in den beiden Organisationen eine für Berlin annehmbare Regelung beschlossen habe (R 43 I /2324 , Bl. 13).

Extras (Fußzeile):