1.1.3 (ma31p): 3. Der Streit mit der Reichsbahn-Gesellschaft und mit Preußen

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 8). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Marx III und IVDas Kabinett Marx IV Bild 146-2004-0143Chamberlain, Vandervelde, Briand und Stresemann Bild 102-08491Stresemann an den Völkerbund Bild 102-03141Groener und Geßler Bild 102-05351

Extras:

 

Text

3. Der Streit mit der Reichsbahn-Gesellschaft und mit Preußen

Bald nach dem Amtsantritt des dritten Kabinetts Marx brach ein Streit mit der Reichsbahn-Gesellschaft aus, der, durch die Wahl Dorpmüllers zum Generaldirektor ausgelöst, die konfliktträchtige Problematik des durch den Dawes-Plan geschaffenen Sonderverhältnisses zwischen der Reichsbahn und der Reichsregierung sichtbar werden ließ. Bei der Inkraftsetzung des Dawes-Plans war die Reichsbahn als Reparationspfand und Träger beträchtlicher Reparationszahlungen aus der Reichsverwaltung herausgelöst, in eine selbständige Betriebsgesellschaft umgewandelt und der Leitung eines Verwaltungsrats sowie der Kontrolle der Reparationsgläubiger unterstellt worden. Das Reich besaß gegenüber der weitgehend autonomen Gesellschaft nur beschränkte, im Reichsbahngesetz vom 30. August 1924 fixierte Zuständigkeiten, vor allem das Recht zur Genehmigung von Tarifänderungen,[XXVII] zur Ernennung der Hälfte der Verwaltungsratsmitglieder und zur Bestätigung des Generaldirektors. Wegen der hervorragenden reparations-, verkehrs- und wirtschaftspolitischen Bedeutung der Eisenbahn, aber auch wegen der sich häufenden Klagen über die Geschäftsführung der Reichsbahn-Gesellschaft war die Reichsregierung bestrebt, die ihr verbliebenen Kompetenzen voll auszuschöpfen und ihren Einfluß auf die Leitung des Unternehmens nach Möglichkeit zu verstärken.

Angesichts der schweren Erkrankung des amtierenden Generaldirektors Oeser schien sich dem Kabinett bei der anstehenden Wahl eines Nachfolgers die Gelegenheit zu bieten, diesen wichtigen Posten mit einem Politiker seines Vertrauens zu besetzen; im Gespräch waren der frühere Reichskanzler Luther und der derzeitige Verkehrsminister Krohne. Als Oeser am 3. Juni 1926 starb, wählte der Verwaltungsrat der Reichsbahn-Gesellschaft jedoch, ohne die Stellungnahme des Gesamtkabinetts abzuwarten, bereits am folgenden Tag den bisherigen Vizegeneraldirektor Dorpmüller, einen Eisenbahnfachmann, zum neuen Generaldirektor. Das Kabinett fühlte sich durch die überstürzt vollzogene Wahl eines ihm unerwünschten Kandidaten brüskiert und beschloß, den Antrag der Reichsbahn auf Bestätigung Dorpmüllers zurückzustellen und zunächst mit dem Verwaltungsrat über die grundsätzliche Bereinigung der bestehenden Differenzen zu verhandeln35. Zu diesem Zweck stellte Verkehrsminister Krohne einen Katalog sämtlicher Gravamina zusammen. Darin wurde der Reichsbahn-Gesellschaft vorgeworfen, sie habe es an der gebotenen Rücksicht auf die Interessen der Reichspolitik und der deutschen Wirtschaft fehlen lassen, sie habe ihre Informationspflicht gegenüber dem Verkehrsminister vernachlässigt und sich allzu ängstlich an den Intentionen der ausländischen Überwachungsorgane orientiert36. Bei den folgenden Verhandlungen mit dem Verwaltungsratspräsidenten v. Siemens und führenden deutschen Verwaltungsratsmitgliedern machte das Kabinett die Bestätigung Dorpmüllers als Generaldirektor von der Erfüllung bestimmter Forderungen abhängig. Der Verwaltungsrat sollte sich verpflichten, in Zukunft vor der Wahl des Generaldirektors und der Direktoren rechtzeitig die Stellungnahme der Reichsregierung einzuholen; insbesondere sollten der Reichsverkehrsminister und seine Kommissare das Recht erhalten, an den Sitzungen des Verwaltungsrats mit beratender Stimme teilzunehmen, weil nur so eine engere Zusammenarbeit erreicht werden könne. Die deutschen Verwaltungsratsmitglieder erkannten diese Forderungen auch als berechtigt an, wegen der Vorbehalte der ausländischen Vertreter im Verwaltungsrat wichen sie jedoch einer Festlegung aus und empfahlen dem Kabinett, die Entscheidung der Reparationskommission einzuholen37.

35

Dok. Nr. 11; 22, P. 1; 25, P. 1.

36

Dok. Nr. 28.

37

Dok. Nr. 33; 38, P. 4; 49; 51; 52, P. 1; 60; 63, P. 2.

Bevor das geschehen konnte, ging ein Schreiben des Treuhänders für die Eisenbahnobligationen, Delacroix, vom 17. Juli an den Reichskanzler ein, das die weiteren Erörterungen stark präjudizierte. Delacroix erklärte sich mit dem Wunsch der Regierung hinsichtlich der Direktorenwahl im wesentlichen einverstanden, dagegen lehnte er die ständige Beteiligung des Verkehrsministers an den Verwaltungsratssitzungen ab, weil dies im Reichsbahngesetz nicht vorgesehen sei; in Betracht[XXVIII] kämen nur „Anhörungen“ des Ministers in besonderen Fällen, wobei die Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit des Verwaltungsrats unbedingt respektiert werden müsse38. Minister Krohne, über die Intervention des alliierten Treuhänders und das „pflaumenweiche“ Verhalten der deutschen Verwaltungsratsmitglieder verärgert, hätte die Verhandlungen am liebsten abgebrochen. Aber mit der Zeit setzte sich die Bereitschaft zur Verständigung und die Einsicht durch, daß der von den Exekutivorganen der Reparationsgläubiger vertretene Rechtsstandpunkt nicht ohne weiteres ignoriert werden konnte und daß andererseits das Votum von Delacroix immerhin positive Ansatzpunkte für eine Kompromißlösung enthielt. Nachdem Hindenburg und Marx auf eine Beendigung des Konflikts gedrängt hatten, kam schließlich eine Vereinbarung zwischen der Reichsregierung und dem Verwaltungsrat zustande, die die Modalitäten der Direktorenernennung im Sinne der Regierung regelte und – als Ersatz für die nicht genehmigte Zulassung des Verkehrsministers zu den Verwaltungsratssitzungen – gemeinsame Beratungen des Ministers, des Verwaltungsratspräsidenten und des Generaldirektors vorsah, ferner Sonderbesprechungen zwischen dem Minister und dem Verwaltungsrat. Mit der Unterzeichnung dieser Vereinbarung am 16. Oktober 1926 und der kurz danach erfolgten Bestätigung Dorpmüllers durch den Reichspräsidenten galt das Einvernehmen mit der Reichsbahn als wiederhergestellt39. Bedenken der Reparationskommission gegen die Vereinbarung konnten vom Kabinett mit der Versicherung zerstreut werden, daß die in Aussicht genommene Regelung sich strikt an die Bestimmungen des Reichsbahngesetzes halte40.

38

Dok. Nr. 59.

39

Dok. Nr. 65; 69, P. 1; 85; 89, Ministerbesprechung, P. 3; 90, P. 2; 91.

40

Dok. Nr. 119, P. 2c; 121.

Die Besetzung einer Stelle im Verwaltungsrat der Reichsbahn-Gesellschaft war Gegenstand einer sich über mehrere Jahre hinziehenden Kontroverse zwischen dem Reich und Preußen, die ungeachtet des anscheinend nebensächlichen Anlasses von beiden Seiten mit bemerkenswerter Unnachgiebigkeit ausgetragen wurde. Nach dem Tod eines Verwaltungsratsmitgliedes, das seinerzeit vom Reich im Einvernehmen mit Preußen bestellt worden war, schlug die Preußenregierung anstelle eines Vertreters der Wirtschaft einen aktiven Ministerialbeamten als Nachfolger vor und machte, als ihr Personalvorschlag vom Reichskabinett aus reparationspolitischen Erwägungen nicht akzeptiert wurde, einen förmlichen Rechtsanspruch auf einen eigenen Verwaltungsratssitz geltend. Die Reichsregierung wies diesen Anspruch als unbegründet zurück; andernfalls hätte sie auch den anderen Ländern mit früherem Eisenbahnbesitz – Bayern, Württemberg, Sachsen und Baden – das gleiche Recht einräumen müssen, was dazu geführt hätte, daß die Vertretung des Reichs im Verwaltungsrat zugunsten der Länder erheblich eingeschränkt worden wäre. Nach vergeblichen Verständigungsversuchen mit Preußen besetzte das Kabinett Marx im Juli 1926 die vakante Verwaltungsratsstelle mit dem ehemaligen Reichskanzler Luther. Preußen sah darin einen einseitigen Willkürakt des Reichs und erhob Klage beim Staatsgerichtshof. Das Gericht erkannte im Mai 1927 den preußischen Anspruch auch als rechtens an, indes erklärte die Reichsregierung, das Gerichtsurteil vorläufig nicht ausführen zu können, weil es ihr nicht möglich sei, eine[XXIX] Verwaltungsratsstelle für Preußen freizumachen41. Nach weiteren Auseinandersetzungen, in deren Verlauf auch die anderen Eisenbahnländer mit eigenen Besetzungsansprüchen hervortraten, konnte der Konflikt mit Preußen schließlich im Dezember 1928 beigelegt werden. Beim turnusmäßigen Ausscheiden mehrerer Verwaltungsratsmitglieder erhielt Preußen einen eigenen Ratssitz, nachdem es hierfür einen Kandidaten nominiert hatte, der dem Reichskabinett wie auch den Aufsichtsinstanzen der Reparationsgläubiger genehm war42.

41

Dok. Nr. 25, P. 2; 27, P. 2; 44, P. 1; 52, P. 2; 54; 56; 68, P. 10; 130, P. 3; 192, P. 3; 278, P. 4; 318, P. 4; 319, P. 2; 334, Ministerbesprechung, P. 2; 369, P. 1.

42

Diese Edition, Das Kabinett Müller II, Dok. Nr. 83; 84, P. 1.

Extras (Fußzeile):