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1. Agrarpolitische Antrage.
a) Erhöhung des Weizenzolles.
Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft wies auf die bedrohliche Lage hin, in die der Weizenmarkt durch die äußert billigen russischen Angebote gebracht werde1. Die Russen forderten für die Tonne frei Bremen[452] 90 bis 95 RM. Sie hätten in den letzten drei bis vier Wochen 770 000 t verladen, als deren Empfänger nur Deutschland und England und in geringerem Maße Holland in Frage kämen. Ein erheblicher Teil befinde sich bereits in deutschen Freilägern. Leider hätten auch deutsche Banken russisches Getreide lombardiert.
Im Einvernehmen mit dem Reichsminister der Finanzen beantrage er die Heraufsetzung des Zolles von 15 auf 18,50. Eine weitere Erhöhung, die zunächst geplant sei, könne nicht erfolgen. Solange der Zoll für Weizengrieß gegenüber Frankreich mit 18,75 gebunden sei2.
Die Heraufsetzung des Zolles werde das deutsche Preisniveau nicht wesentlich erhöhen, da Inlandsgetreide in starkem Maße angeboten werde.
Der Reichsminister der Finanzen unterstützte den Antrag als eines der Mittel im Kampf gegen das russische Dumping. Die Praxis der Russen gehe dahin, langfristige Verträge über Rohstofflieferungen abzuschließen und dann den Weltmarkt durch Schleuderverkäufe zu deroutieren. Große Werke der deutschen Papierindustrie seien so durch Abschlüsse über Papierholzlieferungen in schwerste Bedrängnis geraten. Sie könnten jetzt in Deutschland 1 Million Raummeter Papierholz zu einem um 6 Millionen billigeren Preise kaufen als mit den Russen vereinbart worden sei. Ähnlich liege es auf dem Weizenmarkte.
Der Reichsarbeitsminister hielt die Steigerung der Agrarzölle nicht für vereinbar mit der Absicht, das Gehalts- und Lohnniveau auf den Stand von 1927 herabzudrücken. Bei Weizen könne allerdings wohl mit Recht darauf hingewiesen werden, daß anders die Tendenz, den Weizenanbau zum Nachteil des Roggenanbaus zu steigern, nicht ausreichend wirksam werden würde.
Ähnlich sprach sich Staatssekretär Dr. Trendelenburg aus. Er hielt auch eine Erhöhung des Weizenpreises für unwahrscheinlich. Schwerste Bedenken hatte er dagegen, die Weizenzollerhöhung in der Öffentlichkeit mit dem russischen Dumping zu begrüßen. In Genf habe sich der Reichsminister des Auswärtigen entschieden dagegen gewehrt, daß er sich einem gemeinsamen Vorgehen der beteiligten Staaten gegen das russische Dumping anschließen solle. Wenn die Zollerhöhung mit diesem Dumping begründet würde, so seien schwerste Folgen für den Wirtschaftsverkehr mit Rußland zu erwarten. Besser könne die Zollerhöhung damit begründet werden, daß andere Länder sich gegen die russische Getreideeinfuhr absperren und daß dadurch die Gefahr bestünde, der Überschuß werde den deutschen Markt überfluten. Jedenfalls möchte mit der deutschen Delegation in Genf die Verbindung aufgenommen werden, wenn die Begründung in irgendeiner Weise bedenklich erscheine.[453] Nicht nur der Bedarf der Russen an Devisen bestimme die Ausfuhrpolitik der Russen, sondern vor allem auch die Absicht, die Weltwirtschaft dort zu stören, wo sie besonders empfindlich sei. Vielleicht hofften sie dadurch Kredite zu erlangen, die gegen die Verpflichtung gegeben würden, solche Störungsversuche zu unterlassen.
Hinsichtlich der Durchschnittspreise für Weizen erklärte Ministerialdirektor Ernst, daß amtliche Unterlagen vom Börsenkommissar geliefert und wöchentlich zur Errechnung des Durchschnittspreises sowie jährlich zur Festsetzung des Jahresdurchschnittspreises verwendet würden. Im Vorjahre sei ein Durchschnittspreis von etwa 225 RM erreicht worden.
Der Reichskanzler würdigte die Bedenken des Reichsarbeitsministers gegen die Zollerhöhung und hielt eine Heraufsetzung des Weizenzolles über 18,50 RM nicht mehr für möglich. Eine starke Wirkung der Heraufsetzung in der Öffentlichkeit erwartete er nicht.
Die Getreidezollerhöhung soll am 27. 9. abends im Reichsanzeiger veröffentlicht werden3. Die Presseabteilung soll einige Zeitungen vertraulich über die Zusammenhänge verständigen.
b) Gefrierfleisch.
In der Öffentlichkeit soll die Weizenzollerhöhung zugleich mit der Regelung eines Ersatzes für das zollfreie Gefrierfleisch bekanntgegeben werden4. Nach eingehender Aussprache hatte der Reichsminister der Finanzen schließlich zugestimmt, daß eine Vorlage der Reichsregierung über die Einführung eines Gutscheinsystems dem Überwachungsausschuß des Reichstags zugeleitet würde. Durch das Gutscheinsystem soll den Personenkreisen, die bisher zollfreies Gefrierfleisch erhalten haben, der Bezug von frischem Rindfleisch unter Ermäßigung des Preises um 20 Pfg. für das Pfund ermöglicht werden. Die Maßnahmen sollen baldigst in die Wege geleitet werden. Sie werden bis 1. April 1931 eine Aufwendung von 10 Millionen RM erforderlich machen.
Damit soll ein Versprechen eingelöst werden, das die Reichsregierung im Reichstage bei der Aufhebung des zollfreien Gefrierfleischkontingents gegeben hat5. Gerechnet wird mit einer halben Million Pfund Rindfleisch, die bis zum Ende des Etatsjahres verbilligt werden soll. Durch die Heraufsetzung des[454] Weizenzolles wird eine Steigerung der Reichseinnahmen um etwa 20 Millionen RM erwartet.
c) Vermahlungszwang.
Von der Absicht des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft, die Quote für die pflichtmäßige Vermahlung von Inlandsweizen auf 80% festzusetzen, nahm das Kabinett Kenntnis6.
Fußnoten
- 1
Der REM hatte am 23.9.30 dem StSRkei eine Begründung für die Erhöhung der Zollsätze für Weizen und Spelz von 15 auf 20 RM je dz übersandt. In der Begründung hatte der REM ausgeführt, daß die Weltmarktpreise für Weizen vom 1. 1.–1.9.30 um 50 bis 100 RM je t gefallen seien; der Preisverfall sei einmal auf die sehr guten amerik. Ernten, zum anderen auf das Verhalten Rußlands zurückzuführen, das aus politischen Gründen seinen Weizen weit unter den Produktionskosten anbiete. Ebenso ungünstig sei die Preisentwicklung für inländischen Weizen verlaufen. Seit Ende April sei der Berliner Weizenpreis um 50 RM je t, der Hamburger Weizenpreis um 60 RM je t gefallen. Zum Schutz der dt. Landwirtschaft müsse die im April begonnene Aktion, den dt. Weizen durch Zollerhöhungen von den Schwankungen des Weltmarktpreises loszulösen, fortgesetzt werden (R 43 I/2426, Bl. 32–37). Material des REMin. vom 17.9.30 zur Erhöhung des Weizenzolls befindet sich auch in R 43 I/2544, Bl. 203–206.
- 2
Der Zollsatz für Weizengrieß war durch das dt.-frz. Handelsabkommen vom 17.8.27 auf 18,75 RM je dz festgelegt worden: s. Tarifnr. 164 in RGBl. 1927 II, S. 768.
- 3
S. Dt. Reichsanzeiger u. Pr. Staatsanzeiger Nr. 226 vom 27.9.30, S. 1 und RGBl. 1930 I, S. 458.
- 4
Mit Gesetz vom 15.4.30 (RGBl. I, S. 131) war die zollfreie Einfuhr von Gefrierfleisch mit Wirkung vom 1.7.30 außer Kraft gesetzt worden. Bis zum 30.9.30 hatte die RReg. die zollfreie Einfuhr von 12 500 t Gefrierfleisch als Übergangsregelung zugelassen. In einer Eingabe an den REM vom 2.9.30 hatte der Dt. Städtetag wegen der ständig anwachsenden Zahl der Unterstützungsempfänger eine Verlängerung der zollfreien Einfuhr bis zum 31.12.30 gefordert (Abschrift der Eingabe in R 43 I/2544, Bl. 180–182). In einem Schreiben vom 4.9.30 an den RFM hatte der REM vorgeschlagen, den Minderbemittelten den Bezug von verbilligtem Frischfleisch durch Gutscheine zu ermöglichen. Für diese Aktion (Verbilligung von 100 Mio Pfd. Fleisch und Fleischwaren um je 20 Pf pro Pfd. sowie Druck und Versendung von Gutscheinen) wären jährlich 20.150.000 RM notwendig (Abschrift in R 43 I/2544, Bl. 193–196).
- 5
Vgl. hierzu die Erklärung des REM vom 14.4.30, RT-Bd. 427, S. 4975.
- 6
S. die 2. VO über die Änderung der Sätze für die Vermahlung von Inlandsweizen vom 27.9.30 (RGBl. I, S. 458).