1.174.2 (mu22p): 2. Bericht über das deutsch-polnische Abkommen.

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Kabinett Müller II. Band 2 Hermann Müller Bild 102-11412„Blutmai“ 1929 Bild 102-07709Montage  von Gegnern des Young-Planes Bild 102-07184Zweite Reparationskonferenz in Den Haag Bild 102-08968

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[1417]2. Bericht über das deutsch-polnische Abkommen.

[Der RAM berichtet über Entstehungsgeschichte und Inhalt des Abkommens sowie über die Nachverhandlungen und betont, die Gründe, die die RReg. zur Annahme veranlassen. Seinen Ausführungen liegt die RR-Drucks. Nr. 16 mit Denkschrift zugrunde.]2

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Die RR-Drucks. Nr. 16 stimmt mit der RT-Drucks. Nr. 1621, Bd. 439  wörtlich und in der Seitenzählung überein.

Der Reichskanzler bemerkte anschließend, daß der Zweck der heutigen Aussprache in erster Linie dahin gehe, den Parteiführern den Standpunkt der Reichsregierung darzulegen. Von den Parteien werde heute noch keine abschließende Stellungnahme erwartet, zumal da die Parteien noch nicht im Besitz des endgültigen Wortlauts des Abkommens und der dazugehörigen Denkschrift der Reichsregierung seien.

An den Vortrag des Reichsaußenministers schloß sich sodann eine eingehende Aussprache an, insbesondere zur Frage des Erbantritts der „Optantensöhne“.

Der Abg. Ulitzka stellte zunächst einige Fragen zum Tatbestand der Abmachungen.

Ministerialdirektor Trautmann machte daraufhin aufklärende Darlegungen über die Einzelheiten3.

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Ulitzkas Frage betraf die nach Deutschland abgewanderten Söhne von Optanten, die nach dem Tode des Vaters in Polen das Erbe übernehmen wollten. In Wiederholung von Ausführungen des AA vom 14.11.29 hieß es in einer Denkschrift vom 6.12.29 hierzu: „Die Besorgnis, daß im Zusammenhang mit den Niederlassungsbestimmungen des demnächst abzuschließenden Handelsabkommens von polnischer Seite Einwendungen gegen die Rückkehr der Optanten erhoben werden könnten, kann als unbegründet angesehen werden. Die deutschen und polnischen Unterhändler haben festgestellt, daß die Zulassung der Ansiedlersöhne sich ohne weiteres aus dem Vertragstext ergibt und etwaige Bestimmungen im Niederlassungsvertrag nicht Platz greifen, weil das Abkommen als lex specialis vorgreift“ (R 43 I /123 , Bl. 506-520, hier: Bl. 506-520).

Der Reichsminister der Finanzen verbreitete sich eingehend über die im Gesetzentwurf über die Abkommen zur Regelung von Fragen des Teils 10 des Vertrages von Versailles vorgesehenen Schadloshaltung der durch das Liquidationsabkommen geschädigten Reichsdeutschen4. Er erwähnte insbesondere auch, daß er mit den 3 Hauptgeschädigten, nämlich der Dessauer Gasgesellschaft, ferner mit dem Hause Thurn und Taxis für den Verlust der Herrschaft Krotoschin und schließlich mit der Hohenzollernschen Hausverwaltung wegen Herbeiführung eines Vergleichs in aussichtsreichen Verhandlungen stehe.

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Siehe dazu das „Schlußprotokoll zu Artikel II der deutsch-polnischen Übereinkunft vom 31.10.29“ (RGBl. 1930 II, S. 551 ).

Der Abgeordnete Ulitzka nahm sodann als erster zu dem Abkommen kritisch Stellung. Er meinte, daß durch den Vortrag des Reichsministers des Auswärtigen über das in der Sache Erreichte seine bisherigen Bedenken noch keineswegs völlig ausgeräumt seien. Auch die in den Nachverhandlungen erreichte Auslegung für den Begriff „Vergehen“ als Voraussetzung für die polnische Einschränkung des Verzichts auf das Wiederkaufsrecht sei noch nicht[1418] absolut befriedigend5. Das Bedenkliche an dem Abkommen bleibe, daß Deutschland den Polen materielle Opfer bringen müsse, und daß es dagegen nur das Versprechen von Sicherungen eintausche. Die materiellen Opfer müßten vorgeleistet werden. Die Unzufriedenheit mit dem Abkommen erwachse weniger aus der Art und Weise wie die Einzelheiten in dem Abkommen geregelt seien, als aus dem mangelnden Vertrauen in die Vertragssicherheit des Gegners. Wenn auch die ursprünglichen Bedenken der Zentrumsfraktion gegenüber dem nunmehr fertig vorliegenden Abkommen gemildert seien, so dürfe er doch nicht verschweigen, daß in seiner Fraktion noch starke Skepsis hinsichtlich des Wertes des Abkommens herrsche. Er könne deshalb heute noch keine bindende Stellung zum Abkommen nehmen und müsse die Entscheidung seiner Fraktion vorbehalten. Hinzufügen wolle er aber noch folgendes. Wenn Deutschland bereit sei, für das Abkommen materielle Opfer zu bringen, dann müsse darüber hinaus konsequenterweise auch dafür Sorge getragen werden, daß das Deutschtum in Polen wirklich gefestigt werde, und man müsse für diesen Zweck auch weitere finanzielle Opfer bringen. Zum Beispiel nehme das Minderheitsschulwesen in Polen eine Entwicklung, die die Errichtung von deutschen Privatschulen zur unbedingten Notwendigkeit machten.

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Im Erbfall bei den Rentengütern dürfe der Nachfolger durch gerichtlichen Entscheid nicht „wegen Verbrechen oder Vergehen“ verurteilt sein, hatte es in einer Note Zaleskis an Rauscher vom 31.10.29 geheißen (R 43 I /123 , Bl. 429 f., hier: Bl. 429 f.). Zur Interpretation hatte Zaleski ausgeführt: „Der Begriff ‚Vergehen‘, wie er in der Note vom 31.10.29 gebraucht ist, umfaßt nur solche Vergehen, die gegen den Staat gerichtet sind, z. B. Fahnenflucht, Verleitung dazu, ‚Geheimbündelei‘, Entziehung von der Wehrpflicht, Verleitung dazu oder andere staatsfeindliche Handlungen.“ Vergehen gegen Zoll- und fiskalische Bestimmungen würden nur bei Rückfallhandlungen gewertet (1.2.30; R 43 I /123 , gefunden in R 43 I /124 , Bl. 125, hier: Bl. 125).

Der Reichsminister des Auswärtigen erwiderte, daß die Reichsregierung selbstverständlich den Schutz und die Festigung der deutschen Minderheit in Polen nachdrücklichst weiter fördern werde.

Der Abgeordnete von Rheinbaben trug vor, es sei nicht zu leugnen, daß durch die Nachverhandlungen mancherlei erreicht worden sei. Ein abschließendes Urteil über das Abkommen sei ihm aber erst dann möglich, wenn ihm die nunmehr feststehenden Texte wirklich in die Hand gegeben worden seien und er dadurch Gelegenheit bekomme, die Abmachungen gründlich zu studieren. Bevor dies geschehen sei, könne er auf seine alten Bedenken noch nicht verzichten. Er warf dann noch die Frage auf, wie die Reichsregierung sich zu den bekannt gewordenen Gutachten von Simons, Triepel und Kaufmann stelle6.

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Siehe Dok. Nr. 426, P. 1.

Der Abgeordnete Koch-Weser erklärte, daß auch seine Fraktion erhebliche Bedenken gegen das Abkommen habe. Nach seiner Meinung sei aber jetzt der Zeitpunkt gekommen um zu entscheiden, ob die Bedenken so stark seien, daß sie eine Ablehnung des Abkommens erforderlich machten. Bezüglich des Begriffs „Vergehen“ als Voraussetzung für den polnischen Verzicht auf das Wiederkaufsrecht sehe er die Hauptbedenken als beseitigt an. Nicht so vollkommen behoben seien die Bedenken gegen die Grenzzonen-Verordnung und die[1419] Bestimmungen über die Besitzbefestigung7. Sein Urteil gehe dahin, daß die Bedenken gegen das Abkommen zwar groß seien, daß es aber an der Zeit sei, diese Bedenken zu überwinden.

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Nach der poln. Grenzzonenverordnung vom 23.12.27 und ihrer Novelle vom 16.3.28 galten folgende Bestimmungen: „In der sogenannten Grenzzone (30 km) kann Personen, die durch ein Gericht oder durch die Verwaltungs-, Zoll- oder Finanzbehörden wegen staatsfeindlicher Tätigkeit, Schmuggel, unerlaubter Grenzüberschreitung und dgl. verurteilt sind, das Wohnen oder der Aufenthalt in der Grenzzone auf die Dauer von 1–3 Jahren verboten werden; einzelnen Ausländern kann durch die Wojewodschaft der Besitz, die Pachtung, Nutzung und Verwaltung von Grundstücken und Grundstücksteilen untersagt werden; ferner können in dem sogenannten Grenzstreifen (2–6 km) Gebäude und Grundstücke oder Teile von Grundstücken zu Gunsten des Fiskus enteignet werden, schließlich ist auch wegen geringfügiger Verletzung der Grenzzonenverordnung die Ausweisung vorgesehen.“ Das AA hatte dazu berichtet, Polen lehne jede Modifizierung ab, die VO sei aber bisher nicht zum Nachteil von Reichsdeutschen angewendet worden. „Bis zum heutigen Tage sind keine Beschwerden von deutschen Reichsangehörigen über die Anwendung der Grenzzonenverordnung zur Kenntnis des AA gelangt“ (Denkschrift v. 7.12.29; R 43 I /123 , Bl. 506-520, hier: Bl. 506-520). Weiterhin hatte Zaleski dem dt. Gesandten Rauscher versichert, die polnische Agrarreform solle nicht „unparitätisch“ gegen Deutschstämmige oder Liquidationsbefreite angewendet werden. „Der Jahresplan für die Anwendung der Agrarreform wurde übrigens bekanntlich schon im Jahre vor der Anwendung veröffentlicht; sollte daher einmal dieser Plan wirklich die Reichsdeutschen besonders ungünstig behandeln, so stünde der Deutschen Regierung der Weg der diplomatischen Intervention immer offen. – Tatsächlich haben sich die Befürchtungen über eine den deutschen Grundbesitz vernichtende Durchführung des polnischen Agrarprogramms nicht bewahrheitet“ (a.a.O.).

Der Abgeordnete Zapf erklärte, die Bedenken seiner Fraktion gegen das Abkommen seien durch das heute Gehörte wesentlich geschwächt. Gleichwohl müsse er sich die Stellungnahme seiner Fraktion noch ausdrücklich offen halten. Wenn ein politisches Junktim zwischen der Annahme des Young-Planes und der Annahme des deutsch-polnischen Abkommens bestehe, so würden sich die Erwägungen seiner Fraktion wohl in der Hauptsache um diesen Punkt bewegen.

Der Reichsminister des Auswärtigen ging sodann noch auf die Frage des Abgeordneten von Rheinbaben wegen der Gutachten von Simons, Triepel und Kaufmann ein und legte den Standpunkt der Reichsregierung dar. Er erklärte, daß die Reichsregierung einen von den Gutachten abweichenden Standpunkt vertrete, und daß sie beabsichtige, Gegengutachten von den Professoren Anschütz und Schmidt erstatten zu lassen. Sie sei der Überzeugung, daß diese den Standpunkt der Reichsregierung für den richtigen hielten.

Der Reichskanzler schloß die Aussprache mit dem ausdrücklichen Hinweis, daß für die Reichsregierung die Annahme des deutsch-polnischen Abkommens eine unverzichtbare Forderung sei, und aus einer etwaigen Ablehnung des Abkommens durch den Reichstag die letzten Konsequenzen ziehen werde.

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