1.61 (str2p): Nr. 175 Der Reichsfinanzminister an den Reichskanzler, 24. Oktober 1923

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 10). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Stresemann I und II. Band 2Gustav Stresemann und Werner Freiherr von Rheinhaben Bild 102-00171Bild 146-1972-062-11Reichsexekution gegen Sachsen. Bild 102-00189Odeonsplatz in München am 9.11.1923 Bild 119-1426

Extras:

 

Text

RTF

Nr. 175
Der Reichsfinanzminister an den Reichskanzler, 24. Oktober 1923

R 43 I /190 , Bl. 25–281

1

Dies Schreiben wurde zusammen mit dem Schreiben des RFM vom 16.11.23 (Dok. Nr. 264) am 26.11.23 vom RK an die Rkei gegeben.

[Betrifft: Leistungen des Reichs an die besetzten Gebiete.]

Meine Stellungnahme als Finanzminister über weitere Leistungen des Reiches an die besetzten Gebiete darf ich schriftlich in folgender Weise zusammenfassen.

1. Was die Zahlung solcher Leistungen anbetrifft, die grundsätzlich im ganzen deutschen Staatsgebiet gewährt werden, so werden diese Leistungen, falls nicht politische Änderungen eintreten und so lange die wirtschaftliche Möglichkeit irgend gegeben ist, selbstverständlich auch im besetzten Gebiet zu bewirken sein. Ich nenne als Hauptbeispiel die Erwerbslosenfürsorge und die Zahlungen an die Reichsbediensteten. Dabei bin ich einverstanden, daß der Zuschlag, der[750] bei den Beamtengehältern gewährt wird2, zur Zeit 15. v. H., in jeweils gleicher Höhe auch auf die Sätze für die Erwerbslosenfürsorge des unbesetzten Gebietes aufgeschlagen wird3. Ausdrücklich hervorheben muß ich aber, daß nach dem völlig trostlosen Zustand unserer Finanzen der Zeitpunkt nicht fern sein wird, wo das Reich völlig außer Stande sein wird, seine Zahlungen weiter zu leisten, wobei ich darauf hinweisen darf, daß jetzt fast in jeder Kabinettssitzung Zahlungseinstellungen von großer Bedeutung beschlossen werden. Selbstverständlich ist, daß soziale Fürsorgeleistungen, die auf besonderen Einrichtungen beruhen, solange fortgesetzt werden, wie die entsprechenden Einnahmen aus dem besetzten Gebiet diesen Einrichtungen zufließen.

2

Zur Situation der Beamten s. Dok. Nr. 144, P. 5; Dok. Nr. 172, P. 4 u. 7.

3

Zur Situation der Erwerbslosen s. Dok. Nr. 130, P. 2 b; Dok. Nr. 172, P. 8; Dok. Nr. 227, P. 79.

2. Hinsichtlich derjenigen Zahlungen in das besetzte Gebiet hinein, die auf den besonderen Verhältnissen des besetzten Gebiets beruhen, gehe ich auf Grund des Ergebnisses der heutigen Ministerbesprechung und insbesondere der Erklärungen des Herrn Reichskanzlers4 davon aus, daß in den nächsten Wochen eine volle Klärung in der Weltöffentlichkeit darüber herbeigeführt wird, daß, wenn uns nicht eine wirksame Hilfe von außen, besonders von seiten der Ententemächte, zuteil wird, es für uns völlig unmöglich ist, die mit der Besetzung in Zusammenhang stehenden Leistungen weiter zu vollbringen. Im einzelnen sind zwei Gruppen der Leistungen zu unterscheiden:

4

S. Dok. Nr. 173.

A) Solche Leistungen, die zwar auf der Besetzung beruhen, aber irgendwie unmittelbar der deutschen Bevölkerung zugute kommen. Für diese Leistungen soll folgendes gelten:

a) Die Entschädigung für das Sonderverfahren ist bereits in der Weise geregelt, daß Schäden, die vor dem 28. September 1923 eingetreten sind, bis zum 31. Oktober und Schäden aus dem Oktober bis zum 30. November angemeldet werden müssen. Für Schäden nach dem 31. Oktober wird Entschädigung nicht mehr gezahlt. Die Schadenssumme ist begrenzt auf 5000 Goldmark. Darüber hinaus werden nur 50% der Schadenssumme gezahlt. Höchstsumme für die Auszahlung ist 200 000 Goldmark. Ratenzahlung bis zu 20 000 Goldmark im Monat.

b) Okkupationsleistungsgesetz. Für lfd. Leistungen (Quartiergewährung), lfd. Lieferungen und dergl. dürfen Beträge bis zu 5000 Goldmark für das Jahr, gerechnet vom Beginn der Leistung und für die einzelne Leistung, für einmalige Leistungen und Beschädigungen dürfen Beträge bis zu 5000 Goldmark für den Einzelfall in voller Höhe ausgezahlt werden. Darüber hinaus dürfen nur 50% des 5000 Goldmark übersteigenden Vergütungsbetrages zur Auszahlung gelangen. Soweit diese Beträge über 200 000 Goldmark hinausgehen, wird die Auszahlung bis auf weiteres ausgesetzt.

Für entgangene Gewinne oder für allgemeine Geschäftsentschädigung wird eine Vergütung nicht mehr gewährt. Eine Vergütung nach dem O.L.G. ist überhaupt nur zu gewähren, wenn die Leistung nicht länger als drei Monate zurückliegt. Bei künftigen Leistungen beträgt die Ausschlußfrist für laufende Leistungen drei Monate, für einmalige Leistungen 1 Monat.

[751] c) Für Leistungen nach dem Besatzungspersonenschädengesetz5 soll eine Änderung nicht eintreten.

5

S. die Gesetze vom 2.3.19 (RGBl., S. 261 ) und vom 27.3.20 (RGBl., S. 357 ).

d) Die Entschädigungen für Ausgewiesene werden dahin eingeschränkt, daß nur Schäden bis zu 10 000 Goldmark voll ausgezahlt werden. Darüber hinaus nur 50%, und zwar in monatlichen Ratenzahlungen von nicht mehr als 40 000 Goldmark, über 200 000 Goldmark werden Auszahlungen nicht mehr geleistet. Schadensanmeldungen sind bei Vermeidung des Ausschlusses spätestens vier Wochen nach Bekanntwerden des Schadensfalles anzumelden.

e) Die Fürsorgetätigkeit für Ausgewiesene6 wird nach der bisherigen grundsätzlichen Regelung beibehalten; jedoch hat eine scharfe Kontrolle über die Notwendigkeit der einzelnen Ausgaben stattzufinden.

6

Gesetz vom 17.2.22 (RGBl., S. 624 ).

f) Soweit Bauten in Betracht kommen, die zugunsten der Bevölkerung errichtet worden sind, z. B. Wohnungsbauten mit Rücksicht auf die ungeheuren Quartierbeanspruchungen durch die Besatzungsmächte, so sollen diese Bauten nur dann eingestellt werden, wenn dies wirtschaftlich vertretbar erscheint7. Deshalb werden in der Regel Bauten dann eingestellt werden, die nur bis zum Sockelgeschoß hochgeführt worden sind und andere Bauten zum Beispiel nur in solchen Fällen, in denen nicht etwa durch Verderben an Holzbestandteilen ein übermäßig großer Schaden entstehen würde. Noch nicht in Angriff genommene, aber bereits genehmigte Bauten dürfen nicht begonnen werden, auch wenn die Projektierungsarbeiten bereits vollendet sind.

7

Vgl. dazu die Bestimmungen über Notstandsarbeiten in der Anlage zum Schreiben des RArbM an den RMbesGeb. vom 3.10.23 (Dok. Nr. 107).

B) Was die Leistungen an die Besatzung anbetrifft, so sind m. E. grundsätzlich solche Leistungen und Zahlungen zu unterscheiden, die zur Zeit unterbrochen sind, und Zahlungen und Leistungen, die zur Zeit erfolgen. Es erfolgen zur Zeit Naturallieferungen für Lebens- und Futtermittel, sowie die Ausführung von Bauten verschiedener Art im altbesetzten Gebiet. Ferner werden die Markvorschüsse an Frankreich und Belgien seit dem Einbruch in das Ruhrgebiet eingestellt. Ich muß als Finanzminister nach wie vor die Wiederaufnahme der Markvorschüsse gegenüber Frankreich und Belgien auf das dringendste widerraten, weil ich befürchten muß, daß dann, wenn auch entgegen dem Willen der Regierung, rein tatsächlich eine Politik eingeleitet wird, die uns auf die Bahn einer fortschreitenden Wiederaufnahme von Zahlungen an die Entente drängt. Ein Satz, der über jeden Zweifel feststeht, ist der, daß, solange wir nicht die freie Verfügung über Rhein und Ruhr wieder haben, an irgendwelche Zahlungen auf Grund des Vertrages von Versailles unmöglich zu denken ist. Ich bemerke dabei, daß auch, wenn wir diese Verfügung wiederbekommen, es einer langen Anlaufsfrist bedürfen wird, bis einigermaßen erhebliche Zahlungen aus der deutschen Volkswirtschaft wieder herausgeholt werden können, nachdem der Ruhreinbruch mit seinen weiteren Folgen die besten Werte der deutschen Volkswirtschaft auf das schwerste beschädigt hat. Was die bisher noch geleisteten Zahlungen anbetrifft, so nehme ich an, daß sie und ebenso die etwa vorübergehend[752] im Falle einer solchen Entscheidung des Herrn Reichskanzlers wieder aufgenommenen Markvorschüsse auf jeden Fall sofort in Wegfall kommen, wenn, wie oben bemerkt, in den nächsten Wochen volle Klarheit darüber geschaffen ist, daß wir irgendwelche Hilfe von Ententeseite nicht zu erwarten haben8. Hinsichtlich der Bauten auf Grund des Okkupationsleistungsgesetzes, die unmittelbar für die Entente ausgeführt werden, wird es jedenfalls auch schon jetzt unmöglich sein, irgendwelche neuen Bauten – wie Kasernenbauten – in Angriff zu nehmen.

8

S. hierzu die grundsätzliche Stellungnahme des RFM vom 13.10.23 in Dok. Nr. 133; dazu auch Dok. Nr. 156 mit Anm. 5.

Den9 gesamten Inhalt dieses Briefes bitte ich, sehr geehrter Herr Reichskanzler, als eine richtlinienartige Niederschrift des die Finanzen betreffenden Teils des heutigen Kabinettsbeschlusses zu betrachten. Für die Verwertung nach außen muß ich mir die Vorlage einer ausgearbeiteten Fassung vorbehalten10.

9

Am Briefkopf vermerkte Luther hs.: „Ich bitte ergebenst, den Schlußabsatz zu beachten.“

10

S. die Verwendung des Schreibens in den Ausführungen des RK in Hagen am 25.10.23 (Dok. Nr. 179).

Dr. Luther

Extras (Fußzeile):