1.70.1 (bru2p): Abschluß der Aussprache über die Notverordnung.

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Abschluß der Aussprache über die Notverordnung.

Der Reichskanzler stellte den Entwurf über die Arbeitszeit zur Erörterung1.

[1172] Ministerialdirektor SitzlerSitzler erläuterte kurz die Hauptfragen der Arbeitsstreckung – Überstunden. Letztere sollen von einem gewissen Maße genehmigungspflichtig sein.

Der Reichsminister des Auswärtigen äußerte Sorgen wegen der Wirkung der vorgeschlagenen Regelung auf die Arbeitslosigkeit. Einzelnen Betrieben sei es möglich, durch die Streckung neue Arbeitskräfte einzustellen, z. B. bei den Ölmühlen, die in dieser Richtung mit Erfolg vorgegangen seien. Eine Verallgemeinerung durch Zwang würde die Industrie in bedenklichem Maße beunruhigen.

Wenn der Reichsregierung eine Ermächtigung gegeben wäre, müßte die Regierung davon Gebrauch machen.

Staatssekretär Dr. TrendelenburgTrendelenburg schloß sich diesen Ausführungen an. Er befürchtete von einer gesetzlichen Einschränkung der Arbeitszeit allzustarke Hemmnisse für die Wirtschaft und meinte, daß die Frage nur individuell gelöst werden könne, nicht aber für ganze Berufsgruppen.

Reichsbankpräsident Dr. LutherLuther erklärte, daß es vom Standpunkt des Kredits am besten sein werde, das Thema überhaupt nicht zu regeln. Man müsse es freiwilliger Übereinkunft überlassen, inwieweit man die Arbeitszeit einschränken wolle.

Der Reichsarbeitsminister führte aus, daß er gegen die Gedankengänge von Staatssekretär Dr. Trendelenburg Bedenken habe. Eine individuelle Regelung sei für die Gewerbeaufsichtsbeamten undurchführbar. Er persönlich dränge auch gar nicht allzu stark auf den Erlaß von Vorschriften über die Arbeitszeit, aber die freien Gewerkschaften hätten sich nun mal auf die Sache festgebissen und infolgedessen sei die Angelegenheit politischer Natur geworden2. Wenn der Reichskanzler glaube, die Sozialdemokratie bei der Stange halten zu können, ohne in der Frage der Arbeitszeit Bestimmungen zu treffen, so hänge er persönlich gar nicht an der Sache. Dann aber könne selbstverständlich auch in der Frage der kleinen Renten in der Unfallversicherung jetzt nichts geschehen.

Der Reichskanzler erwiderte, daß die Frage der Arbeitszeit zum mindesten in den der neuen Notverordnung beizugebenden Geleitworten der Reichsregierung behandelt werden müsse. Die Frage der kleinen Renten in der Unfallversicherung könne für die Gesamtreform der Sozialversicherung zurückgestellt werden, die ja erst im Herbst in Angriff genommen werde.

[1173] Der Reichsarbeitsminister sprach sich sodann dafür aus, in die Begleitworte der Reichsregierung einen kräftigen Appell nach freiwilliger Einschränkung der Arbeitszeit aufzunehmen. Auch auf die Arbeiten in den öffentlichen Betrieben müsse man einwirken und zu diesem Zweck mit den Ländern verhandeln. Er werde die Schlichter anweisen, das Arbeitszeitproblem bei den zu fällenden Schiedssprüchen mit zu berücksichtigen. Ferner habe er den deutschen Vertreter auf der Arbeitszeitkonferenz in Genf, Herrn Reichsminister a. D. Dr. Brauns angewiesen, einer internationalen Kürzung der Arbeitszeit zuzustimmen. Letzteres werde allerdings nur eine Geste bleiben, da aus einer internationalen Regelung nach seiner Überzeugung nichts werden würde.

Demgegenüber führte der Reichskanzler aus, daß es ihm lieber sei, wenn über die Frage der Verkürzung der Höchstarbeitszeit etwas in der Verordnung selbst enthalten wäre, etwa in dem Sinne, daß die Vorschrift des § 8 des vom Reichsarbeitsminister vorgelegten Entwurfs in erster Linie auf die öffentlichen Betriebe anzuwenden sei.

Ministerialdirektor SitzlerSitzler führte ergänzend aus, daß sich die Bestimmungen des § 8 bei der großen Mehrzahl der Betriebe ohne weiteres durchführen lassen würden. Durch die Aufsicht solle lediglich verhütet werden, daß Mißbräuche aufträten.

Staatssekretär Dr. TrendelenburgTrendelenburg wünschte die Bestimmungen auf die Betriebe der öffentlichen Hand und auf Betriebe der Binnenwirtschaft zu beschränken.

Auf Anregung des Reichskanzlers wurden die Bestimmungen über die Mehrarbeit aus dem Entwurf herausgenommen. In die Begleitworte der Reichsregierung zur Notverordnung soll folgender Beschluß aufgenommen werden:

Zum Zwecke der Mehrbeschäftigung von Arbeitnehmern haben die Betriebe und Verwaltungen des Reichs die regelmäßige Arbeitszeit auf 40 Stunden wöchentlich herabzusetzen und zu diesem Zwecke, soweit die Arbeitszeit tarifvertraglich geregelt ist, mit den Arbeitnehmerverbänden in Verhandlungen einzutreten. Die Beibehaltung einer längeren Arbeitszeit ist nur zulässig, soweit die Verkürzung nach der Eigenart des Betriebes wegen unüberwindlicher technischer oder zwingender wirtschaftlicher Schwierigkeiten oder wegen notwendiger engerer Zusammenarbeit mit Beamten nicht durchführbar ist. Auf ein entsprechendes Vorgehen der Länder, Gemeinden und sonstigen Körperschaften des öffentlichen Rechts ist mit allen Mitteln hinzuwirken3.

Verdingungsordnung, Ordnungsstrafen, Nachtbackverbot.

Ministerialrat JostenJosten erläuterte den Entwurf von Bestimmungen über das Verdingungswesen und die Maßnahmen, die zur Förderung der Preissenkung geplant sind4. Zur Beruhigung des Einzelhandels soll auch über die Frage der Inseraten- und Abonnementspreise der Zeitungen vor dem Vorläufigen Reichswirtschaftsrat in Rede und Gegenrede verhandelt werden5.

[1174] Staatssekretär Dr. TrendelenburgTrendelenburg äußerte Bedenken gegen die Vorschriften über das Verdingungswesen. Sie würden, ähnlich wie 1925, die Betroffenen verärgern6. Der sachliche Zweck könne durch entsprechende Ausgestaltung der Bedingungen erreicht werden, die die vergebenden Stellen festsetzen. Darüber könne auch mit dem Städtetag verhandelt werden. Im Manifest der Reichsregierung werde das anzukündigen sein.

Der Reichspostminister möchte eine Lockerung der Bindungen, die aus Anlaß von Ausschreibungen eingegangen werden. Dadurch würde ein Druck auf die hohen Forderungen und Preise ausgeübt. In gleichem Sinne sprach sich der Reichswehrminister aus.

Ministerialdirektor ErnstErnst (Preußen) hielt den Widerstand des Gewerbes gegen Verdingungsbestimmungen für stärker, als gegen die Neuregelung des Ordnungsstrafenwesens und die Aufhebung des Nachtbackverbots. Letzteres könne für die dreischichtigen Betriebe aufgehoben, für die anderen könne die Anfangszeit von 5 auf 4 Uhr morgens vorgezogen werden. Auch das müsse durch die Notverordnung geschehen.

Der Reichsarbeitsminister wehrte sich auch gegen diesen Vorschlag. Er würde praktisch der allgemeinen Aufhebung des Nachtbackverbots gleichkommen. Seine Aufhebung auf bestimmte Zeit sei praktisch nicht durchführbar, weil die Großbetriebe ihre Anlagen entsprechend umgestalten müßten.

Der Reichskanzler erklärte, er sei bereit, dem Vorschlage über die Umgestaltung des Ordnungsstrafrechts zuzustimmen und auf die Vorschriften über das Verdingungswesen zu verzichten, wünsche dann aber eine Regelung der Arbeitszeit. Im Einvernehmen mit dem Vertreter der Preußischen Staatsregierung soll die Reichsregierung ermächtigt werden, über die Handhabung des Ordnungsstrafrechts in den Innungen Bestimmungen zu treffen. Die Reichsregierung kann diese Ermächtigung an die Landesregierungen oder an andere Stellen delegieren.

Die Frage soll in der Kabinettssitzung am Nachmittage endgültig entschieden werden7.

Fußnoten

1

Der Entw. enthielt Änderungen der VO über die Arbeitszeit in der Fassung des Gesetzes vom 14.4.27 (RGBl. I, S. 110 ) und der VO über die Arbeitszeit in den Bäckereien und Konditoreien in der Fassung des Gesetzes vom 16.7.27 (RGBl. I, S. 183 ). Der Entw. machte Vereinbarungen der Tarifpartner über Mehrarbeit von der Genehmigung der Gewerbeaufsichtsämter abhängig. Die Genehmigung sollte nur dann erteilt werden, wenn den Arbeitgebern andere Maßnahmen, insbesondere die Neueinstellung von Arbeitnehmern, nicht zugemutet werden konnte. Die VO sollte auch für laufende Tarifverträge gelten. Als Höchststrafe für Arbeitszeitvergehen sah der Entw. 10 000 RM vor. In dem Abschnitt über die Mehrarbeit in Bäckereien und Konditoreien wurden die Lehrlinge vom Anspruch auf eine angemessene Vergütung bei der Ableistung von Überstunden ausgeschlossen. Schließlich enthielt der Entw. die Ermächtigung für die RReg., für einzelne Gewerbe, Gewerbezweige, Verwaltungen oder Gruppen von Arbeitnehmern die wöchentliche Arbeitszeit auf 40 Stunden herabzusetzen (R 43 I /1450 , S. 59–67).

2

Der ADGB hatte am 30.5.31 noch einmal die allgemeine gesetzliche 40-Stunden-Woche gefordert; die bisherigen Maßnahmen der RReg. hätten den Umfang der Arbeitslosigkeit nicht verändert. Der Lohnabbau habe zur Schwächung der Kaufkraft geführt und dadurch die Senkung der Steuereingänge und Vergrößerung des Haushaltsdefizits zum wesentlichen Teil verursacht. „Was an Kaufkraft übrig blieb, wurde von der Agrarpolitik aufgezehrt. Durch den Auftrieb der Preise wichtigster Nahrungs- und Futtermittel auf das Zweibis Dreifache der Weltmarktpreise erhält die Großlandwirtschaft auf Kosten der städtischen Bevölkerung eine Subvention, die den Ausgaben für die so oft ungerechtfertigt angegriffene Arbeitslosenversicherung mindestens gleichkommt.“ Neben der Einführung der 40-Stunden-Woche und der Abkehr von der bisherigen Agrarpolitik hatte der ADGB die Erhaltung der sozialen Versicherungs- und Versorgungsleistungen durch zusätzliche Finanzierung aus Reichsmitteln, weitere Zuschläge zur Einkommen-, Vermögens-, Erbschafts- und Tantiemensteuer und die Aufnahme von Auslandsanleihen gefordert (Schreiben Leiparts an den RK vom 30.5.31, mit Paraphe Brünings, in R 43 I /2369 , Bl. 185–187, Zitat, Bl. 185).

3

Vgl. WTB Nr. 1173 vom 6.6.31, hier in R 43 I /2369 , Bl. 269–270, Schultheß 1931, S. 123.

4

In R 43 I nicht ermittelt.

5

S. Dok. Nr. 321, Anm. 8.

6

Vgl. diese Edition, Die Kabinette Luther I/II, Dok. Nr. 267.

7

S. Dok. Nr. 323.

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