2.193.1 (mu21p): Kassenlage.

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Kassenlage1.

1

Vgl. hierzu die Vorlage des StS Pünder vom 29. 4., Dok. Nr. 187.

Der Reichsminister der Finanzen gab einen umfassenden Überblick über die gegenwärtige Lage der Reichsfinanzen und ihre voraussichtliche zukünftige Entwicklung. Er schätzte den Mehrbedarf in nächster Zeit auf 260 und den Rückgang der Steuereinnahmen auf etwa 140 Millionen RM. Die Inanspruchnahme des Überschusses über den Ansatz der Lohnsteuer, der nach der lex Brüning in Höhe von 75 Millionen für die Knappschafts- und Invalidenversicherung in Anspruch genommen werde, vermindere den erhofften Mehrertrag von 150 Millionen RM. Auf der Ausgabenseite sei mit keinen Ersparnissen mehr zu rechnen. Die vorhandenen Reste würden verschwinden und neue nur in geringem Umfange entstehen. Mit erheblichen Anforderungen für die Erwerbslosenfürsorge, deren Ansatz von 150 Millionen schon in der Hauptsache in Anspruch genommen sei, müsse gerechnet werden.

Die Darlehen der Banken (180 Millionen RM) seien nach drei Monaten bereits zurückzuzahlen. 200 Millionen Schatzanweisungen müßten eingelöst werden. Der Kassenbedarf steige Ende April auf 850 Millionen. Genaue Aufstellung werde vorgelegt werden.

Der Reichsminister der Finanzen berichtete dann über seine Verhandlungen mit den Banken.

Es werde erwogen, einen Teil der Vorzugsaktien der Reichsbahn flüssig zu machen. Öffentliche Körperschaften, Sparkassen und Versicherungsanstalten sollten in etwa 1½ Jahren ungefähr 400 Millionen RM Vorzugsaktien übernehmen. Der Zuwachs der Sparkasseneinlagen betrage jährlich ungefähr 1 Milliarde RM. Davon müßten 25% in mündelsicheren Papieren angelegt werden, drei Fünftel hiervon in Reichs- und Länderanleihen. Die Verhandlungen würden mit Aussicht auf Erfolg fortgesetzt2.

2

Zu der Absicht der RReg., „die im Reichsbesitz befindlichen 7%igen Reichsbahnvorzugsaktien an öffentliche Sparkassen, Girozentralen, Länder- und Kommunalbanken und an Träger der Sozialversicherung zu verkaufen“, erklärte Generaldirektor Dorpmüller, daß sich die RB ausdrücklich alle Rechte zum Rück- und Vorkauf der Aktien vorbehalte (7.5.29, Schreiben an den RFM; R 43 I /2362 , Bl. 57).

Darüber hinaus müßten einige 100 Millionen sofort beschafft werden. In Frage komme die Beleihung der Vorzugsaktien durch ein Bankenkonsortium. Ob dieses einen Vorschuß hierauf gewähren würde, war noch nicht festzustellen. Die Reichsbank müßte dann die Vorzugsaktien lombardieren.

[629] Weiter käme in Frage, daß die Banken ausländisches Kapital aufnehmen.

Die Reichsbank habe es abgelehnt, die Lombardverpflichtung zu übernehmen. Ob die Banken jetzt Auslandskredit bekämen, sei fraglich, jedenfalls werde es sehr teuer sein. Ihnen müßte ein Anreiz gegeben werden durch Einräumung einer Option auf die Vorzugsaktien. Dies sei auch aus reparationspolitischen Gründen unmöglich. Gegen Auslandsverschuldung beständen im gegenwärtigen Augenblick auch grundsätzliche Bedenken.

Ausgabe von Schatzanweisungen auf drei bis sechs Monate könnte nur mit einem Agio von 3 oder 6%, also bei einer Gesamtverzinsung von 12% im Jahre erfolgen. Außerdem würde verlangt, daß sie als Zahlung auf die Steuern angenommen würden. Solche Bedingungen könnten nicht angenommen werden.

So bliebe nur ein Weg. Es müsse eine Reichsanleihe von 500 Millionen zu einem Kurs von 100, mindestens 98% und einer Verzinsung von 7% aufgenommen werden. Sie müsse von der Einkommen-, Vermögen- und Erbschaftsteuer, nicht dagegen von der Körperschaftsteuer freigestellt werden. Dann hielten der Reichsbankpräsident und die Banken den Absatz für gesichert; sie würde geflüchtetes Auslandskapital zurückbringen und die Politik der Reichsbank durch deflatorische Wirkungen unterstützen. Der Steuerausfall könne auf insgesamt etwa 10 Millionen geschätzt werden. Die Gesamtverzinsung belaufe sich dann auf 9%. Nach fünf Jahren müsse die Konvertierung erfolgen, um die Steuerfreiheit zu beseitigen.

Durch die Anleihe und die Flüssigmachung von Vorzugsaktien würden die Kassenschwierigkeiten voraussichtlich bis zum Ende des Etatsjahres behoben werden.

Der Reichsminister der Finanzen verlas dann den Entwurf eines Gesetzes für Maßnahmen zur Besserung der Kassenlage, der die beiden Vorschläge enthielt. Er erbat die Genehmigung des Kabinetts zur Vorlage des Entwurfes an den Reichstag und zu vertraulichen Besprechungen hierüber mit den Mitgliedern des Haushaltsausschusses3.

3

Nach § 1 des GesEntw. wurde der RFM ermächtigt, einen Kredit von 500 Mio RM im Anleiheverfahren und unter Befreiung von Vermögens-, Erbschafts- und Einkommensteuer aufzunehmen. § 2 des Entwurfs regelte den Verkauf der RB-Vorzugsaktien (als RR-Drucks. Nr. 55 in R 43 I /2362 , Bl. 60).

Der Reichswirtschaftsminister äußerte Bedenken wegen der 9%igen Verzinsung. Die Ausgabe zu einem Kurse von 89% könne nicht in Frage kommen. Durch die Anleihe würde der Kurs der festverzinslichen Papiere stark gedrückt werden. Durch Aufsaugen von Kapital würden der Reichsbank Kreditrestriktionen erspart werden. Die Geldverknappung würde aber die Wirtschaft außerordentlich schädigen. Er bat um Vertagung der Entschließung zwecks eingehender Prüfung des Vorschlages.

Auch der Reichsminister des Auswärtigen teilte diese Bedenken. Der Kredit des Reichs würde erschüttert. Die Anleihe sei in hohem Grade unsozial; wenn die Pariser Verhandlungen günstig ausgingen, sei die Unterbringung einer Anleihe zu wesentlich besseren Bedingungen zu erhoffen.

[630] Der Reichsminister der Finanzen beurteilte die Wirkung der Anleihe auf die anderen festverzinslichen Papiere weniger ungünstig. Sie seien beim gegenwärtigen Kursstande tatsächlich bereits zu etwa 9% verzinslich und müßten zudem in verhältnismäßig kurzer Frist zu Pari zurückgezahlt werden.

Durch die neue Anleihe würde die Devisennachfrage verringert.

Während die Steuerfreiheit in Deutschland ein Novem sei, seien in Amerika die Staatsanleihen sämtlich steuerfrei, in Frankreich zum Teil.

Die Vertagung des Beschlusses könne nicht erfolgen, weil das Geld in nächster Zeit gebraucht werde und auf andere Weise nicht beschafft werden könnte.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft sah in der Anleihe ein ausgezeichnetes Geschäft für die Banken und das mobile Kapital. Den anderen Kreisen würden die Vorteile nicht zugute kommen. Sie würden deswegen Schwierigkeiten machen. Der Realkredit, insbesondere der Landwirtschaft, würde stark beeinträchtigt werden.

Er halte es für richtiger, daß das Reich die Gehälter am Anfang des Monats nur zur Hälfte auszahle, dadurch würde in die Erscheinung treten, daß die Ablehnung der vom Kabinett vorgeschlagenen Steuern durch den Reichstag unrichtig war.

Der Reichsminister der Justiz bat ebenfalls um Vertagung der Entscheidung.

Auf Anfragen des Reichsministers für die besetzten Gebiete erklärte der Reichsminister der Finanzen daß das Bankenkonsortium bereit sein werde, ohne besondere Bedingungen sofort auf die Anleihe einen Vorschuß von 150 bis 200 Millionen RM zu gewähren. Der Gesetzentwurf müsse am 8. und 9. im Reichsrat verabschiedet werden. Der Reichsbankpräsident habe zwar mit Kreditrestriktionen gedroht, werde aber, wenn die Anleihe aufgelegt würde, voraussichtlich davon absehen können. – Es sei unmöglich, daß der Reichstag weiter finanzpolitische Entscheidungen gegen die Reichsregierung treffe. Nach der Entscheidung in Paris müsse von ihm verlangt werden, daß er den Etat in kürzester Frist verabschiede. Gleichzeitig müsse ihm ein umfassendes Finanzprogramm vorgelegt werden, von dessen Annahme das Kabinett sein Verbleiben im Amte abhängig machen müsse.

Durch eine Auslandsanleihe, der der Reichsbankpräsident entschieden widersprochen habe, würde keinesfalls das Geld so rasch beschafft werden können, wie es notwendig sei. Es würde wesentlich teurer sein als die Inlandsanleihe. Für diese habe sich Schacht mit großer Wärme eingesetzt.

Staatssekretär Popitz erklärte, daß trotz der berechtigten schwerwiegenden Bedenken die Anleihe sofort beschlossen werden müsse. Es gäbe keinen anderen Weg, um eine Katastrophe zu vermeiden. Die Zahlungsfähigkeit des Reiches stände unmittelbar bevor. Eisenbahn, Post und Preußenkasse müßten dem Reich die dargeliehenen Mittel belassen. Die Schatzwechsel, die fällig würden, müßten sofort anderweitig untergebracht werden; wenn dies nicht bis 10. Mai möglich wäre, könnte das Reich seinen Zahlungsverpflichtungen vorübergehend nicht nachkommen. Dadurch würde eine Wirtschaftskrisis schlimmster Art veranlaßt werden.

Eine Verschiebung des Zahlungstermins für die Beamtengehälter würde die Kassenlage nicht verbessern. Das Defizit würde weiter anwachsen. Aussetzen[631] der Gehaltszahlungen würde auch in den Ländern und Gemeinden erfolgen müssen, da diesen dann auch vom Reiche keine Überweisungen zugingen. Durch den Gesetzentwurf würden der Reichstag und die Öffentlichkeit über den Ernst der Lage eindringlich unterrichtet werden. Ein Initiativantrag im Reichstag wäre nicht möglich, da die Abgeordneten es ablehnen würden, die Verantwortung dafür zu übernehmen, daß kein anderer Weg mehr offen sei.

Die Minister der Länder müßten zur Beratung des Gesetzentwurfes nach Berlin geladen werden, um die Beschlußfassung des Reichsrats zu beschleunigen. Innerhalb von zwei Wochen müsse der Gesetzentwurf verabschiedet und müßten auch die Vorarbeiten der Banken vollendet sein.

Der Reichsminister des Innern erklärte sich trotz der schwerwiegenden Bedenken mit dem Vorschlage des Reichsministers der Finanzen einverstanden. Er bat aber, daß bei der Einbringung der Vorlage auf das in Aussicht stehende umfassende Finanzprogramm hingewiesen werden solle. Insbesondere solle bei der Verhandlung mit dem Reichstage der enge Zusammenhang dieses Entwurfes mit dem Finanzprogramm entschieden betont werden.

Auch der Reichsarbeitsminister sprach sich für den Vorschlag des Reichsministers der Finanzen aus, obwohl gerade seine Arbeitsgebiete durch die Anleihe in stärkster Weise leiden würden.

Der Reichsminister der Finanzen hielt es nicht für möglich, dem Vorschlage des Reichsministers für die besetzten Gebiete folgend die Finanzminister der Länder einzuladen, bevor das Kabinett zu dem Entwurf endgültig Stellung genommen habe. Der Beschluß des Kabinetts müsse vorliegen, besonders auch bei den Verhandlungen mit den Parteien, da die Reichsregierung sonst die Initiative an diese abgäbe.

Der Reichskanzler hielt die Anleihe für den einzigen Ausweg aus den bestehenden Schwierigkeiten. Das Defizit würde bis zum Jahresschluß auf etwa 2 Milliarden RM ansteigen. Bei der Vorlage müsse das Finanzprogramm angekündigt werden, das gegebenenfalls auch eine Kürzung der Gehälter, gestaffelt nach drei Stufen, die Ablehnung weiterer Gelder für die Erwerbslosenversicherung und den Erlaß neuer Steuern sowie die Erhöhung der Umsatzsteuer vorsehen müsse, falls die Verhandlungen in Paris nicht günstig ausliefen.

Der Reichskanzler stellte fest, daß der Reichsminister der Finanzen ermächtigt ist, den von ihm vorgeschlagenen Entwurf eines Gesetzes für Maßnahmen zur Besserung der Kassenlage den gesetzgebenden Körperschaften gegenüber zu vertreten. Er wird dabei darauf hinweisen, daß die Reichsregierung ein umfassendes Programm weiterer finanzieller Maßnahmen vorlegen wird. Die Finanzminister der Länder sollen zum 7. Mai nach Berlin eingeladen werden, um über den Gesetzentwurf zu verhandeln. Das Reichsfinanzministerium wird in den am Sonntag, dem 5. Mai, erscheinenden Blättern eine Pressenotiz über den Entwurf veröffentlichen4.

4

Von den Ländern wurde gegen den Ges.Entw. der Vorwurf erhoben, durch ihn würden die Länder um die Möglichkeit gebracht, ihren Anleihebedarf zu decken. Auch Länderanleihen müßten kapitalsteuerfrei aufgelegt werden können (Vermerk in der Rkei über die Sitzung im RFMin am 7. 5.; R 43 I /2362 , Bl. 58 f.). Mit der Erweiterung des § 1, daß auch den Ländern steuerfreie Anleihen in Höhe von 40% der Reichsanleihe zugestanden werden, stimmte der RR am 10. 5. dem GesEntw. zu (RT-Drucks. Nr. 1016, Bd. 436 ). Der RT nahm das Gesetz am 15. 5. an (RT-Bd. 424, S. 1939  f.; veröffentlicht im RGBl. I, S. 95). Die Zeichnungen der Anleihe brachten lediglich einen Betrag von 183 Mio RM, so daß nur der Bankvorschuß von 120 Mio RM, der am 25. 7. fällig war, zurückgezahlt werden konnte (Bericht des Bankkommissars im Bericht des Reparationsagenten vom 1.7.29, S. 206). – Stresemann, der anscheinend nicht während der ganzen Kabinettssitzung anwesend war, bat den StSRkei, ins Protokoll aufzunehmen, daß der RAM im Falle seiner Anwesenheit gegen die Auflegung der Anleihe gestimmt hätte. Stresemann teilte weiter mit, daß er jedoch von seiner Haltung keinen öffentlichen Gebrauch machen werde (6. 5.; Pol.Archiv: Nachlaß Stresemann  302). Bei Verhandlungen Schwerin v. Krosigks mit Schacht in Paris sprach sich der RbkPräs. gegen Auslandskredite aus und war für eine Verschiebung der Gehaltszahlungen und der Überweisungen (Fernschreiben vom 22. 5.; R 2 /2925 , Bl. 29).

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