1.169 (str2p): Nr. 282 Der Reichskanzler an den Staatsgerichtshof des Deutschen Reiches. 30. November 1923

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[1172] Nr. 282
Der Reichskanzler an den Staatsgerichtshof des Deutschen Reiches. 30. November 1923

R 43 I /2309 , Bl. 338–339

Betrifft: Verfassungsrechtliche Streitsache aus Artikel 19 Abs. 1 der Reichsverfassung zwischen der Regierung des Freistaates Sachsen und der Reichsregierung1.

1

Diese Gegenerklärung ist im RJMin. entworfen worden.

Zu dem Antrag der Sächsischen Regierung vom 6. November 19232 auf Feststellung der angeblichen Verfassungswidrigkeit verschiedener Maßnahmen des Reichs beehre ich mich, meine Stellungnahme wie folgt mitzuteilen.

2

S. Dok. Nr. 226.

1. Mein Schreiben an den Herrn Sächsischen Ministerpräsidenten Dr. Zeigner vom 27. Oktober 1923, mit welchem ich den Herrn Ministerpräsidenten aufforderte, unter Bezugnahme auf das dem Geist und Wortlaut der Reichsverfassung widersprechende Verhalten der kommunistischen Regierungsmitglieder diese zum Austritt aus der sächsischen Regierung zu veranlassen, ist im Einvernehmen mit der Reichsregierung abgefaßt worden3. Nach Artikel 15 der Reichsverfassung hat die Reichsregierung das Recht, die Landesregierungen zu ersuchen, Mängel, die bei der Ausführung der Reichsgesetze hervorgetreten sind, zu beseitigen. Ein solcher Mangel liegt vor, wenn Mitglieder einer Landesregierung an den Grundlagen der Weimarer Verfassung rütteln und sich in einer Weise betätigen, die dem Geist und dem Wortlaut der Verfassung, also des obersten Reichsgrundgesetzes, zuwiderläuft. Die Abstellung dieses Mangels konnte – das lag in der Natur der Sache – nur durch den Rücktritt der Regierungsmitglieder erfolgen, die ihn durch ihr eigenes Verhalten hervorgerufen haben. Eine Änderung des Verhaltens dieser Regierungsmitglieder war schon deshalb nicht zu erwarten, weil es durchaus den Grundsätzen der Partei entsprach, welcher sie angehörten. Es muß daher entschieden in Abrede gestellt werden, daß das Schreiben vom 27. Oktober 1923 in irgend einer Weise über die Rechte hinausging, welche der Reichsregierung zustehen. Diese Annahme ist schon deshalb irrig, weil das Schreiben des Reichskanzlers nicht als Rechtshandlung, sondern als politischer Schritt anzusehen ist, der als solcher nicht der rechtlichen Nachprüfung unterliegt, da er keinen Eingriff enthielt, sondern einen solchen erst in Aussicht stellte, und zwar keinen unzulässigen Eingriff.

3

S. Dok. Nr. 186, P. 2; Dok. Nr. 188.

2.4 Nachdem die Sächsische Regierung der in meinem Schreiben vom[1173] 27. Oktober enthaltenen Aufforderung nicht nachgekommen war, hat der Herr Reichspräsident am 29. Oktober 1923 <auf meinen Antrag und unter meiner verantwortlichen Mitzeichnung>5 auf Grund des Artikel 48 Abs. 2 der Reichsverfassung eine Verordnung erlassen, durch die er den Reichskanzler ermächtigte, für die Geltungsdauer der Verordnung Mitglieder der Sächsischen Regierung ihrer Stellung zu entheben und andere Personen mit der Führung der Dienstgeschäfte zu betrauen.

4

Zu diesem Punkt hatte StS Meissner in einem Schreiben an den StSRkei v. 24.11.23 ausgeführt, der RPräs. wünsche eine eindeutige Darlegung, daß er in der Frage der VO v. 29.10.23 gemeinsam mit dem RK die Verantwortung trage, „während für die zu Punkt 1, 3 und 4 angeführten Maßnahmen die Verantwortung nur den Herrn Reichskanzler und die Reichsregierung trifft; für die Übertragung der Ermächtigung der Verordnung des Reichspräsidenten vom 29. Oktober an einen Reichskommissar und für die Maßnahmen desselben wie auch des Inhabers der vollziehenden Gewalt ist der Herr Reichspräsident nicht mehr verantwortlich. Ich wäre dankbar, wenn diese Trennung der politischen und rechtlichen Verantwortlichkeit auch in der mündlichen Verhandlung in Erscheinung treten würde“ (R 43 I /2309 , Bl. 332).

5

Handschriftlich eingefügt.

Auch diese Verordnung steht mit den Bestimmungen der Verfassung im Einklang. Artikel 48 Abs. 2 der Reichsverfassung ermächtigt den Reichspräsidenten, alle Maßnahmen zu treffen, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlich sind. Dieses Recht findet seine Schranken lediglich in den Bestimmungen der Reichsverfassung, deren vorübergehende Außerkraftsetzung in Artikel 48 nicht besonders gestattet ist.

Daß die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Sachsen gestört war und daß diese Störung auf das Verhalten der kommunistischen Regierungsmitglieder wesentlich zurückzuführen war, dürfte auch sächsischerseits kaum bestritten werden. Sollte dies wider Erwarten doch geschehen, so ist die Reichsregierung bereit, hierfür weiteres Beweismaterial anzuführen. Die Berufung der Sächsischen Regierung auf Artikel 17 der Reichsverfassung geht gleichfalls fehl. Zwar ist es richtig, daß durch eine Verordnung auf Grund des Art. 48 die Bestimmungen des Art. 17 nicht verletzt werden dürfen, da dieser Artikel nicht zu denen gehört, deren Suspendierung der Art. 48 gestattet. Durch die Verordnung des Reichspräsidenten vom 29. Oktober 1923 wird aber auch der Artikel 17 nicht verletzt. Die in dieser Verordnung zugelassenen Maßnahmen sind, wie alle auf Grund von Art. 48 zulässigen Maßnahmen, nur solche vorübergehender Natur. Die Verordnung spricht dies selbst aus durch die Worte „für die Dauer der Geltung dieser Verordnung“. Daraus folgt, daß die durch die Verordnung zugelassene Übertragung der Führung der Dienstgeschäfte der Minister auf andere Personen nicht etwa als Bestellung einer neuen Landesregierung, d. h. als Definitivum anzusehen ist, sondern daß es sich hier lediglich um eine vorübergehende Maßnahme gehandelt hat, durch welche nicht die staatsrechtliche Stellung der Minister, sondern die Führung ihrer Geschäfte vorübergehend auf andere Personen übertragen wurde. Wäre nicht vor Außerkrafttreten der Verordnung die Sächsische Regierung, die nicht abgesetzt, sondern nur suspendiert war, freiwillig zurückgetreten, und hätte nicht der Sächsische Landtag aus eigenem Antriebe eine neue Regierung gewählt, so wäre beim Außerkrafttreten der Verordnung des Reichspräsidenten vom 29. Oktober 1923 die alte Landesregierung ipso jure wieder in ihre nur ruhenden Rechte eingetreten6.

6

Der RIM hatte in einem Schreiben an den StSRkei v. 22.11.23 über den Verfassungsstreit ausgeführt, die Geltung der VO und der Umfang der Ermächtigung sei verfassungsrechtlich begründet. „Soweit mir bekannt hat jedoch der Herr Reichskommissar Dr. Heinze das Ministerium Zeigner nicht nur vorübergehend vom Dienst suspendiert, sondern – wie es scheint – endgültig abgesetzt. Sollte die Sächsische Regierung diesen Gesichtspunkt, den ich in der Gegenerklärung mit Absicht nicht erwähnt habe, zur Geltung bringen, so dürfte es zweckmäßig sein, sofort zuzugeben, daß eine endgültige Absetzung der Regierung nur durch den Landtag selbst erfolgen konnte und daß die Reichsregierung nur die Zulässigkeit einer Enthebung im Rahmen der Verordnung des Reichspräsidenten vertrete. Anderenfalls würde die Rechtslage ungünstig sein.“ Außerdem stellte der RIM fest, daß der RKom. die Absetzung vormittags ausgesprochen habe, obwohl die VO im RGBl. erst abends 21 Uhr erschienen sei (R 43 I /2309 , Bl. 330). S. dazu RIM an StSRkei, 31.10.23 (Dok. Nr. 209).

[1174] Die Bestimmung des Artikel 17, daß die Landesregierung des Vertrauens der Volksvertretung bedarf, ist also durch die Verordnung vom 29. Oktober 1923 nicht verletzt worden. Landesregierung blieb auch nach dem 29. Oktober zunächst das Ministerium Dr. Zeigner, das nur für die Geltungsdauer der Verordnung seiner Geschäfte tatsächlich enthoben war und dessen Regierungsgewalt infolgedessen ruhte. Eine neue Landesregierung, die etwa das Vertrauen der Volksvertretung nicht gehabt hätte, ist von dem mit der Ausführung der Verordnung des Reichspräsidenten betrauten Organ nicht bestellt worden. Von diesem sind vielmehr lediglich einstweilige Amtsverweser anstelle der an der Wahrnehmung der Ministergeschäfte vorübergehend behinderten Minister bestellt worden. Die endgültige Absetzung der Landesregierung und ihr Ersatz durch eine neue ist entsprechend den Vorschriften der sächsischen Verfassung durch eigene Entschlüsse des Sächsischen Landtags erfolgt.

Eine Verordnung ähnlichen Inhalts hatte der Reichspräsident bereits am 22. März 1920 gegenüber Thüringen erlassen (Reichsgesetzblatt S. 343).

3. Die Sächsische Regierung wendet ferner ein, daß die Verordnung des Reichspräsidenten vom 29. Oktober 1923 nur den Reichskanzler zur Vornahme der darin bezeichneten Maßnahmen ermächtigt und daß eine Delegation dieses Rechtes auf einen Reichskommissar unzulässig sei. Wenn daher auch die vom Herrn Reichspräsidenten erlassene Verordnung gültig sei, so sei doch die Reichsregierung in der Ausführung der Verordnung über deren Rahmen hinausgegangen. Ein Eingehen auf die Frage, ob bei Ausführung der Verordnung eine Delegation zulässig sei oder nicht, dürfte sich indessen erübrigen, da der Reichskommissar in meinem Auftrage und im Einverständnis mit mir gehandelt hat und dies auch außen offensichtlich war.

4. Schließlich beanstandet die Sächsische Regierung noch die Verordnung, die der Generalleutnant Müller als Inhaber der vollziehenden Gewalt am 29. Oktober 1923 erlassen hat und durch die bis auf weiteres den Zusammentritt des Landtages verboten hat. Generalleutnant Müller hat den Zusammentritt vorübergehend verboten, weil er eine Störung der Tätigkeit des Reichskommissars befürchtete. Die Reichsregierung hat sofort, nachdem sie den Bericht des Generalleutnants Müller erhalten hatte, die Wiederaufhebung der Verfügung veranlaßt, weil sie – unbeschadet der rechtlichen Frage der Zulässigkeit eines solchen Verbots – den Zusammentritt und die Verhandlungen des Landtags nicht hindern wollte, sondern sie im Gegenteil begrüßte und wünschte. Es besteht daher in diesem Punkte zwischen der Reichsregierung und der sächsischen Regierung keine verfassungsrechtliche Streitigkeit; die Reichsregierung hat vielmehr das, was die sächsische Regierung wünschte,[1175] die Zulassung des Zusammentritts des Landtags und die Aufhebung der dagegen gerichteten Verfügung, sofort nach Kenntnis veranlaßt7.

7

Hierzu hatte der RIM am 22.11.23 (s. o. Anm. 6) gemeint, „daß die vorübergehende Schließung des Landtags durch den Generalleutnant von [!] Müller verfassungsrechtlich nur schwer zu begründen ist und daß ich es daher für richtiger gehalten habe, die Erwiderung darauf zu beschränken, daß der Zusammentritt von der Reichsregierung noch rechtzeitig wieder gestattet worden ist und daß daher in dieser Hinsicht eine verfassungsrechtliche Streitigkeit, die der Entscheidung bedurfte im Sinne des Artikels 19 der Reichsverfassung nicht vorliegt.“

Es wird beantragt, von einer mündlichen Verhandlung abzusehen und den Antrag der Sächsischen Regierung auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Maßnahmen der Reichsregierung als unbegründet zurückzuweisen8.

8

Im Juli 1924 beantragten RK Marx und MinPräs. Heldt beim StGH, „bis auf weitere Anregung“ einer Partei dem Streitfall vorerst keinen Fortgang zu geben; und im Frühjahr 1926 zog MinPräs. Heldt die Klage zurück (3.7.24; 25.2.26; R 43 I /2310 , Bl. 177, 260).

i. m. gez. Dr. Stresemann

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