1.244.1 (bru2p): Gemeinsame Erklärung deutscher Wirtschaftsverbände.

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[1766]Gemeinsame Erklärung deutscher Wirtschaftsverbände.

I. Das deutsche Volk steht vor der Erschöpfung seiner wirtschaftlichen Kräfte. Wenn es nicht gelingt, noch im letzten Augenblick durch ein entschlossenes Eingreifen eine neue Steigerung der Arbeitslosigkeit zu verhüten und die Grundlagen für ihre dauernde Verminderung zu schaffen, drohen unserem Vaterlande die schwersten Gefahren für alle materiellen, ideellen und kulturellen Werte der Nation. Der Zustand der deutschen Wirtschaft ist so bitter ernst, die Kapitalzerstörung und die innere Aushöhlung der wirtschaftlichen Substanz ist so weit fortgeschritten, daß ein Ausweg nur noch möglich erscheint, wenn die Reichsregierung in kraftvoller Entschlossenheit und in voller Unabhängigkeit von Interessenten- und Parteipolitik den Weg zu sofortigem Handeln findet.

II. Die unterzeichneten Verbände der deutschen Wirtschaft haben sich seit 19252 in zahlreichen Erklärungen und Mahnungen bemüht, die Regierungen und die Parlamente davon zu überzeugen, daß die bisherige Politik nicht nur wirtschafts-, sondern auch volksschädlich gewirkt hat. Ihre Ratschläge sind immer wieder mißachtet worden. Wenn sie in diesen, für das Schicksal deutscher Gegenwart und Zukunft entscheidenden Tagen nochmals einheitlich ihre Stimme vor dem deutschen Volk, der Reichsregierung und den Parteien erheben, so fordern sie Beachtung und Gehör als Sprecher des staatsbürgerlichen Willens von Millionen deutscher Bürger. Es sind nationales Verantwortungsgefühl und tiefe menschliche Sorge um das seelische und wirtschaftliche Sein der unter den gegenwärtigen Notständen besonders schwer leidenden Arbeitslosenmassen, die sie zu dieser Erklärung veranlassen.

III. Die Verblendung der Politiker hat die Welt und hat Deutschland in die schwerste Not gestürzt. Die deutsche Wirtschaft ist durch die gewaltpolitischen äußeren Eingriffe eines großen Teils ihrer notwendigen Grundlagen beraubt worden. Die unheilvollen Wirkungen dieser Eingriffe sind durch die Weltwirtschaftskrise noch verschärft worden. Darüber hinaus ist die Privatwirtschaft durch zahllose, ihre nationale und soziale Leistungsfähigkeit zerstörenden gesetzgebenden Maßnahmen im Innern in ihrer freien Beweglichkeit gehemmt worden. Es beruht auf einer völligen Verkennung der Zusammenhänge, wenn die Privatwirtschaft für die gegenwärtigen Zustände verantwortlich gemacht wird. Gewiß sind Fehler und Mißgriffe vorgekommen, die der verantwortungsbewußte Teil der deutschen Wirtschaft verurteilt und bedauert. Es ist aber Verleumdung, einzelne Verfehlungen in hetzerischer Verallgemeinerung dem gesamten deutschen Unternehmertum zur Last zu legen. Ferner ist ein großer Teil der Maßnahmen, die zu Fehldispositionen und zu Verlusten in der Wirtschaft selbst geführt haben, erst verursacht worden durch das selbstverständliche Bestreben, dem ungeheuren Druck der in den letzten Jahren in Erscheinung getretenen staatlichen Belastungen und Zwangseingriffe auszuweichen. Man darf nicht einen Kapitalismus schmähen, den man eines großen[1767] Teiles seiner Wesensart entkleidet hat. Wohl aber ist schärfste Kritik am Platze gegenüber einem politisch diktierten Wirtschaftssystem, welches zwischen Kapitalismus und Sozialismus hin und her schwankt, und zur Folge hat, daß dem Kapitalismus die Fehler des Sozialismus zur Last gelegt werden.

Die deutsche Politik muß erkennen, daß es zwischen sozialistischen und kapitalistischen Wirtschaftsmethoden keinen Kompromiß gibt. Sie muß sich offen und rückhaltlos zu einem Weg ganz bekennen. Daß jede verantwortungsbewußte Entscheidung nur zugunsten des individualistischen Wirtschaftssystems fallen kann, ist uns angesichts der erwiesenen schöpferischen Lebenskraft der freien Wirtschaft und des völligen sozialen und wirtschaftlichen Versagens aller kollektivistischen Versuche unzweifelhaft.

IV. Die Wirtschaft muß ihrerseits alles daransetzen, Handlungen im eigenen Lager zu vermeiden, die im Widerspruch zum individualistischen Wirtschaftssystem stehen. Ebenso wie jeder neue Staatseingriff in die Wirtschaft grundsätzlich abgelehnt werden muß, muß auch jede Fehlleitung wirtschaftlicher Kräfte durch Subventionen unterbleiben. Darüber hinaus hat die Wirtschaft die Pflicht, alle Wege zu beschreiten, die eine Auflockerung des Preisniveaus herbeizuführen geeignet sind. Damit steht aber in unlösbarem Zusammenhang, daß die Regierung sofort und umfassend die wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Maßnahmen durchführt, ohne die die notwendige Kostensenkung und Kostenauflockerung unmöglich ist.

V. Die wirtschaftspolitische Entwicklung der Nachkriegszeit ist gekennzeichnet durch das Bestreben, den Auswirkungen der außen- und innenwirtschaftlichen Belastungen durch eine staatliche Zwangspolitik, durch eine übertriebene Ausweitung der Sozialversicherung und durch eine Überspannung des Fürsorgeprinzips zu entgehen. Die aus diesen Tendenzen entstandenen Eingriffe haben die bestehende Not der wirtschaftlich Schwachen wesentlich mit verschuldet und die Zahl der Arbeitslosen gesteigert. Parallel damit hat der Aufwand der gesamten öffentlichen Hand einen Umfang angenommen, der eine ausreichende innerdeutsche Kapitalbildung unmöglich gemacht, die Rentabilität der meisten Unternehmungen vernichtet und insbesondere die Existenzgrundlagen der mittleren und kleinen Betriebe völlig erschüttert hat. Während im Jahre 1913 der reine Finanzbedarf des Reiches, der Länder und Gemeinden 16,2% des damaligen Volkseinkommens (7,2 von 44,5 Milliarden Mark) ausmachte, stand im Jahre 1928/29 nach amtlichen Berechnungen einem Volkseinkommen von 69 Milliarden ein reiner Finanzbedarf von 20,8 Milliarden = 30,1% gegenüber. Der steuerliche Zuschußbedarf in Reich, Ländern und Gemeinden erreichte 1930/31 ein Ausmaß von über 17 Milliarden Mark gegen 5,4 Milliarden Mark 1913. In diesen wenigen Ziffern wie in der Tatsache, daß die Gesamtzahl der Arbeitslosen von 841 000 Mitte 1927 auf fast 5 Millionen Ende Februar d. Js. gestiegen ist und auch jetzt schon wieder die 4-Millionen-Grenze überschritten hat, prägt sich die unheilvolle Entwicklungslinie der deutschen Wirtschaft aus. Diese Entwicklung hat die volkswirtschaftlichen Grundlagen zerrüttet, eine ausreichende Kapitalbildung verhindert, die Kapitalflucht verstärkt, das Zinsniveau unwirtschaftlich in die Höhe getrieben und dazu geführt,[1768] daß die Ergiebigkeit der Steuerquellen in einem Tempo und Ausmaß zurückgeht, hinter dem alle bisherigen Ausgabensenkungen weit zurückbleiben. Dieser Zustand ist nur dadurch zu beseitigen, daß an die Stelle kapitalzerstörender Eingriffe solche Maßnahmen gesetzt werden, die nach jeder Richtung die Kapitalbildung zu fördern und das inländische und ausländische Vertrauen wiederherzustellen geeignet sind. Die ist gerade jetzt umso notwendiger, als die Vorgänge in England neue schwere Auswirkungen für die deutsche Wirtschaft mit sich bringen.

VI. Die unterzeichneten Verbände der deutschen Wirtschaft stehen auf dem Standpunkt, daß zur Verhütung eines völligen Zusammenbruchs der deutschen Wirtschaft, zur durchgreifenden Verringerung der Arbeitslosigkeit und zur Erhaltung der Betriebsstätten die Wirtschaft selbst alle Mittel der Selbsthilfe ausschöpfen muß. Die Selbsthilfemaßnahmen können aber nur dann einen Erfolg haben, wenn zur gleichen Zeit für unsere innere Wirtschaftsführung folgende oberste Erfordernisse umfassend und schnell verwirklicht werden:

1. Ein weiterer umfangreicher Aufgaben- und Ausgabenabbau in der gesamten öffentlichen Hand, damit sich die Reparationsentlastung sofort in einer Senkung der die wirtschaftlichen Gestehungskosten besonders belastenden Steuern auswirken kann; erforderlich ist ferner, auch zur Erhaltung der Grundlagen unserer Kreditwirtschaft, eine Befreiung des bebauten Grundbesitzes von der Hauszinssteuer.

2. Eine Anpassung der Löhne und Gehälter an die gegebenen Wettbewerbsverhältnisse. Die Hauptvoraussetzung für eine individuellere Lohngestaltung ist eine Reform des Tarif- und Schlichtungswesens, durch die die Institution der Verbindlichkeitserklärung beseitigt und die eigene Verantwortung der Parteien wiederhergestellt wird.

3. Anpassung der weit überhöhten Belastungen an das wirtschaftlich Mögliche und durchgreifende Verwaltungsvereinfachungen auf allen Gebieten der Sozialversicherungen einschließlich der Arbeitslosenversicherung. Gerade weil wir die Sozialversicherung erhalten wollen, halten wir es für unumgänglich notwendig, daß sie unverzüglich mit den wirtschaftlichen Kräften unseres Volkes in Einklang gebracht wird.

4. Senkung der Tarife der Reichsbahn, der Reichspost und der gemeindlichen Versorgungsbetriebe, mindestens entsprechend den seit 1929 eingetretenen erheblichen Preissenkungen.

5. Befreiung des deutschen Geldmarktes vom Druck der öffentlichen schwebenden Schulden durch eine unter Wahrung der Gläubigerrechte erfolgende Konsolidierung dieser Schulden.

6. Endgültige Beseitigung aller Reste der Zwangswirtschaft, insbesondere auch der Zwangswirtschaft im Wohnungswesen3.

Zusammen mit der Erfüllung dieser Forderungen müssen alle zukünftigen Akte der Gesetzgebung und Schritte der Verwaltung aufgebaut sein auf dem Grundsatz der Sicherung des Privateigentums und der Rechtssicherheit. Ferner[1769] ist es eine grundlegende Notwendigkeit, die Währung gesund zu erhalten und die Gefahren, die ihr von der Beibehaltung einer falschen Finanz- und Wirtschaftspolitik drohen, rechtzeitig zu beseitigen. Wir halten zwar für die Privatwirtschaft eine Ausweitung des Kreditvolumens für dringend erforderlich, aber wir lehnen ganz entschieden jedes Währungsexperiment ab. In der Handelspolitik muß eine Linie verfolgt werden, die der Aufrechterhaltung und Erweiterung der deutschen Ausfuhr ebenso Rechnung trägt wie der Aufrechterhaltung und Erweiterung des Binnenmarktes.

VII. Der wirtschaftliche Erfolg der vorgeschlagenen Maßnahmen hängt davon ab, in welchem Tempo und Umfang sie durchgeführt werden. Ganz gleich, ob die Reichsregierung ein einheitliches Programm verkündet oder nicht, das Entscheidende ist, daß die einzelnen Sofortmaßnahmen der gekennzeichneten wirtschaftspolitischen Linie entsprechen und sich ihr organisch einreihen. Es wäre falsch und bedauerlich, wenn die Reichsregierung ihre Kräfte durch unorganische Einzelmaßnahmen verzettelte. In den großen Zusammenhang der dargestellten Linie gehört auch die Aufgabe der Reichsreform, die nicht etwa deswegen zurückgestellt werden darf, weil im Augenblick andere Aufgaben zu erledigen seien. Auch in diesem Punkte ist ein entschlossenes Vorgehen zu verlangen. Wenn die Regierung in der gekennzeichneten Richtung schnell handelt, dann, aber auch nur dann, kann sie der Gefolgschaft aller verantwortungsbewußten, an die Zukunft des deutschen Vaterlandes glaubenden deutschen Staatsbürger sicher sein.

Nach der Auffassung der unterzeichneten Wirtschaftsverbände hängt die ganze, staatliche, wirtschaftliche und kulturelle Zukunft Deutschlands von folgenden beiden höchsten Grundsätzen ab, denen sich in dieser Stunde alle Berufszweige, Volksschichten und Parteien unterordnen müssen:

dem freiheitlichen Grundsatz der von den schöpferischen Kräften der Einzelpersönlichkeit des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers getragenen Privatwirtschaft und dem bindenden Grundsatz der nationalen Idee und der nationalpolitischen Verantwortung4.

Berlin, den 29. September 1931.

Centralverband des Deutschen Bank- und Bankiersgewerbes

Deutscher Handwerks- und Gewerbekammertag

Deutscher Industrie- und Handelstag

Hansa-Bund für Gewerbe, Handel und Industrie

Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels

Reichsgrundbesitzerverband

Reichsverband des Deutschen Handwerks

Reichsverband der Deutschen Industrie

Reichsverband des Deutschen Groß- und Überseehandels

Reichsverband der Privatversicherung

Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände.

Fußnoten

2

Vgl. die Zusammenfassung des Finanz- und Wirtschaftsprogramms des RdI vom 15.12.25 in Schultheß 1925, S. 195 f. Vgl. auch diese Edition, Die Kabinette Luther I/II, Dok. Nr. 258.

3

Vgl. zu diesen Forderungen Dok. Nr. 475, Anm. 2.

4

Zur Reaktion des StSRkei auf diese Eingabe s. Dok. Nr. 499.

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