1.11.6 (str2p): 6. Das Kabinett tritt sodann in die Besprechung der politischen Lage ein.

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Die Kabinette Stresemann I und II. Band 2Gustav Stresemann und Werner Freiherr von Rheinhaben Bild 102-00171Bild 146-1972-062-11Reichsexekution gegen Sachsen. Bild 102-00189Odeonsplatz in München am 9.11.1923 Bild 119-1426

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6. Das Kabinett tritt sodann in die Besprechung der politischen Lage ein19.

19

Dieser Tagesordnungspunkt ist teilweise abgedruckt in Vermächtnis I, S. 160 ff. Eine Parallelüberlieferung befindet sich in BA: NL Saemisch  158, S. 77/78.

Der Reichskanzler berichtet über die Besprechung, die der deutsche Geschäftsträger in Brüssel mit dem belgischen Ministerpräsidenten gehabt habe20. Er verliest das Telegramm des deutschen Geschäftsträgers. Aus Paris habe er nur eine kurze Meldung, daß die Besprechung des dortigen Geschäftsträgers mit dem französischen Ministerpräsidenten im wesentlichen ergebnislos verlaufen sei21. Der französische Ministerpräsident behaupte, daß der passive Widerstand noch nicht beendet sei. Er berufe sich dabei hauptsächlich auf die Gehaltsvorauszahlungen in der Pfalz. Demgegenüber könnten wir jetzt unbedingt die Erklärung abgeben, daß der passive Widerstand de facto aufgegeben sei. Für uns handle es sich nunmehr um Beantwortung der Frage, in welcher Form die Arbeit im besetzten Gebiet wieder aufgenommen werden solle. Der Beantwortung dieser Frage hätten vor allem auch die Besprechungen gegolten, die die Vertreter der Industrie in Düsseldorf mit dem General Degoutte gepflogen hatten22. Die Industrievertreter ihrerseits behaupteten, sie hätten der Regierung vorher von ihrer Absicht Nachricht zukommen lassen. Tatsächlich habe es sich folgendermaßen verhalten: Während einer der letzten Kabinettssitzungen des vorigen Kabinetts, in der bereits über die Demission des Kabinetts verhandelt worden sei, sei ihm gemeldet worden, daß die Vertreter der Ruhrindustrie den Herrn Reichskanzler zu sprechen wünschten. Der Herr[529] Reichskanzler habe antworten lassen, daß er gegenwärtig nicht zur Verfügung stehe, da er während der Dauer der Kabinettssitzung nicht abkömmlich sei. Er bitte die Herren, nach der Sitzung erneut vorzusprechen. Inzwischen sei die Demission des Kabinetts erfolgt23. Der Herr Reichskanzler habe sich daher nicht mehr für autorisiert gehalten, die Besprechung mit den Industrievertretern trotzdem noch abzuhalten. Die Industrievertreter seien zudem bei ihm auch nicht mehr vorstellig geworden. Herr Stinnes habe ihn daraufhin später von Düsseldorf aus telefonisch über seine Unterhaltungen mit dem General Degoutte verständigt und ihn gebeten, die Verhandlungsmöglichkeiten nicht zu erschweren. Am Sonntag, den 7. Oktober, habe sodann eine Besprechung bei ihm mit Herrn Stinnes unter Anwesenheit des Staatssekretärs von Maltzan stattgefunden24. In dieser Besprechung habe Stinnes die Frage der Gewährung eines Übergangskredits an die Industrie, die Frage der Bezahlung der Kohlensteuer und der Regelung der Arbeitszeit angeschnitten. Der Reichskanzler habe angeregt, daß Herr Stinnes diese Fragen in Form eines Briefes an den Reichskanzler festlegen solle. Herr Stinnes habe dies getan25. Der Brief sei von ihm lediglich dem Herrn Reichswirtschaftsminister, dem Herrn Reichsfinanzminister und dem Herrn Staatssekretär von Maltzan zugeleitet worden. Wie er in die Öffentlichkeit gekommen sei, habe der Reichskanzler eingangs erwähnt26.

20

S. hierzu wie zur Besprechung des deutschen Geschäftsträgers in Paris mit Poincaré die Meldungen von Agence Belge und Havas in Vermächtnis I, S. 160.

21

v. Hoesch hatte am 10.10.23 die entsprechende Mitteilung telefonisch gemacht (R 43 I /39 , Bl. 390), vgl. auch Dok. Nr. 128, Anm. 18.

22

S. dazu Dok. Nr. 111, 120 u. 121.

23

S. Dok. Nr. 121 mit Anm. 2.

24

S. Anm. 15 zu Dok. Nr. 111.

25

S. Anm. 2 zu Dok. Nr. 120.

26

S. o. TOP 1.

Otto Wolff, der Leiter des Phönixkonzerns, habe ihm ebenfalls über seinen, in französischen Blättern zuerst veröffentlichten Vertrag, den er mit General Degoutte abgeschlossen habe, Mitteilung gemacht27. Der Vertrag sei effektiv, aber noch nicht unterschrieben.

27

S. dazu Dok. Nr. 123.

Der Reichskanzler verliest den Vertrag.

Der Reichskanzler habe Herrn Otto Wolff daraufhin gesagt, daß sein Abkommen für das Reich zwar keine finanzielle Belastung bedeute, daß es aber die Autorität der Regierung schwer geschädigt habe. Herr Otto Wolff habe geantwortet, daß es für ihn notwendig gewesen sei, seine Werke wieder in Ordnung zu bringen. Er müsse darauf hinweisen, daß er mehr als 100 000 Arbeiter beschäftige. Der Reichskanzler selbst sei der Auffassung, daß dieses Vorgehen der Industrie und namentlich das des Herrn Otto Wolff sicherlich mit veranlaßt habe, daß aus Paris eine negative Antwort auf die Anfrage der Deutschen Regierung zu erwarten sei28. Der französische Ministerpräsident[530] werde sich ohne weiteres auf die eingeleiteten Sonderverhandlungen berufen, die viel mehr in seinem Sinne seien, als Verhandlungen mit der Deutschen Regierung. Das Beispiel des Herrn Otto Wolff werde sicherlich wirken und ein ähnliches Vorgehen anderer Industriegruppen im besetzten Gebiet nach sich ziehen29. Er müsse die Aufmerksamkeit des Kabinetts noch auf eine besondere Mitteilung des Herrn Otto Wolff hinlenken. Bei den Verhandlungen mit General Degoutte habe dieser durchblicken lassen, daß die deutsche Eisenindustrie ihre Leistungsfähigkeit nicht höher als die französische Eisenindustrie entwickeln dürfe. Die Leistungsfähigkeit der französischen Eisenindustrie sei aber gegenwärtig nur 40%. Werde die deutsche Eisenindustrie tatsächlich auf diese Höhe ihrer Leistungsfähigkeit beschränkt, so bedeute das eine Lahmlegung der deutschen Ruhrwirtschaft, die jegliche Leistung von Reparationen von vornherein unmöglich mache. Sein Standpunkt in der Frage, ob Reparationen geleistet werden könnten, sei daher der, daß wir betonen müßten, wir wünschten in die Lage versetzt zu werden, Reparationen zu leisten durch Wiederherstellung der Wirtschaft im Ruhrgebiet.

28

Entsprechend berichtete die „Zeit“, Nr. 235 vom 11.10.23: „Die Informationen der Pariser Presse weisen deutlich darauf hin, daß die französische Regierung durch den Schritt der Industriellen im Ruhrgebiet veranlaßt, ganz von der Idee abgekommen ist, mit der deutschen Regierung zu verhandeln, bis Abmachungen mit den deutschen Industriegruppen erreicht sind, die Frankreich eine Sonderstellung im Ruhrgebiet einräumen. Der ‚Temps‘ ist in dieser Beziehung ganz deutlich, indem er über das Wolff-Abkommen schreibt, die Rechte Frankreichs und Belgiens seien durch das Abkommen vollkommen gewahrt, da ihnen der ihnen zustehende Anteil an den deutschen Kohlenlieferungen gesichert sei. Italien und England würden keine Kohlen erhalten. Italien nicht, weil es ein Sonderabkommen mit der Reichsregierung getroffen habe, und England nicht, weil es genügend eigene Kohle im Lande habe. – Wie Havas mitteilt, ist das Abkommen mit der Wolff-Gruppe gestern [9. (!) 10.] der Reparationskommission unterbreitet worden. Auch wird von Havas bestätigt, daß der Harpener Bergbau-Verein der französischen Ingenieurkommission mitgeteilt habe, daß er die Reparationslieferungen wieder aufnehmen könne […].“

29

S. Dok. Nr. 153.

Eine Bezahlung der Kohlensteuer durch das Reich könne aus finanziellen Gründen ebensowenig in Frage kommen, wie die Gewährung eines Übergangskredits an die Industrie in der Höhe, wie er von den Industriellen verlangt würde. Die Industriellen bezifferten ihren Bedarf auf etwa 150–200 Millionen Goldmark. Geben wir den großen Werken Kredite, so würde das zweifellos Kreditforderungen aller anderen, auch der kleineren Werke nach sich ziehen30.

30

In der Aufzeichnung Saemischs werden Stresemanns Ausführungen zusammengefaßt: „Poincarés Standpunkt ist dilatorisch mit der Fiktion, der passive Widerstand sei noch nicht zu Ende. Belgien denkt [?] dagegen an Verhandlungen. Ungünstig wirken die privaten Abkommen der deutschen Industrie (Phönix) mit den französischen Behörden. Daneben will Frankreich die Industrie des Ruhegebietes drosseln (entsprechend der französischen Eisenproduktion). Daher Wiederaufnahme der Reparationslieferungen pro tempore unmöglich, da bisher keinerlei Entgegenkommen Frankreichs. Kreditforderung der Stinnes-Gruppe (150 Goldmillionen) ist unmöglich (finanziell u. wegen der Konsequenzen).“ Zu den Finanzvorstellungen der Ruhrindustrie s. a. die Aufzeichnung Ritters in Anm. 13 zu Dok. Nr. 121.

Der Reichsminister der Finanzen Eine klare Entscheidung, ob finanzielle Unterstützungen in Form von Krediten und ähnlichem an das Ruhrgebiet noch geleistet werden könnten, sei unbedingt notwendig. Am 20. Oktober 1923 sollten die Zahlungen für die Kohle- und Stahlfinanz aufhören, am 31. Oktober die Zahlungen aus der Lohnsicherung31. Wenn wir nicht mehr zahlen, müßten wir es den Industriegruppen überlassen zu sehen, wie sie mit den Franzosen fertig würden. Wie der Herr Reichskanzler gesagt habe, seien für Kohle, Eisen und Stahl Kredite in Höhe von 150–200 Millionen verlangt. Demgegenüber müsse er betonen, daß er keine Möglichkeit sehe, solche Summen überhaupt noch aufzubringen. Hinzu komme die weitere Verschlechterung der Mark. Nur verschwindende Devisenbeträge, die er im einzelnen nicht angeben dürfe, seien noch vorhanden, um eine Stützungsaktion der Mark irgendwie durchzuführen. Große Entschlüsse in zwei Richtungen müßten gefaßt werden: erstens, an Rhein[531] und Ruhr dürfe nichts über die vereinbarten Zahlungen hinaus mehr geleistet werden; zweitens, die Währungsfrage müsse mit allen zusammenhängenden Fragen beschleunigt durchgeführt werden. Er selbst werde in den nächsten Tagen auf Grund des Ermächtigungsgesetzes einen Vorschlag über die Errichtung einer Währungsbank zur Beschlußfassung vorlegen32. Außerdem werde er schon in der nächsten Kabinettssitzung einen Gesetzentwurf über die Umstellung sämtlicher Steuern auf Gold vorlegen33; ferner über die Einstellung der Erhebung solcher Abgaben, die unter den gegenwärtigen Verhältnissen nichts mehr einbringen; ferner über das Zurückstellen solcher Gesetzentwürfe, die in Anbetracht der finanziellen Notlage doch nicht mehr ausgeführt werden könnten. Er bitte nun auch die anderen Herren Ressortminister ihrerseits, möglichst beschleunigt Entwürfe über Änderung der Demobilmachungsverordnung und über das Arbeitszeitgesetz einzubringen.

31

S. Dok. Nr. 107 mit Anm. 11.

32

S. Dok. Nr. 136, P. 8.

33

S. Dok. Nr. 128, P. 2.

Der Reichsarbeitsminister bemerkt hierzu, daß die Neufassung der Demobilmachungsverordnung vorbereitet und morgen fertiggestellt werde34.

34

S. hierzu Dok. Nr. 130, P. 2 a.

Der Reichsminister für Wiederaufbau35: Er habe die Empfindung, daß in der Ruhrfrage durch die Verhandlungen der Industriellen die Regierung stark ausgeschaltet worden sei. An und für sich habe er gegen die Versuche der Industriellen, auf eigene Verantwortung das Wirtschaftsleben wieder in Gang zu bringen, nichts einzuwenden. Bedenklich sei jedoch die Form, wie verhandelt worden sei, und die Gegenstände, über die man verhandelt habe. Er habe den Eindruck, daß ein Konflikt mit den Industriegruppen dann unvermeidlich sei, wenn diese etwa die Bezahlung vereinbarter Reparationslieferungen von der Regierung verlangen sollten. Was die Bezahlung der Reparationslieferungen anbelange, so halte er es für zweckmäßig, wenn von der Regierung betont würde, daß wir nach finanzieller Gesundung grundsätzlich bereit seien, die Reparationen zu bezahlen.

35

Hierzu lautet die Aufzeichnung Saemischs: „Keine grundsätzlichen Bedenken gegen Verhandlungen der Industrie mit Franzosen, wohl aber gegen Art u. Befehl [?] derselben. Regierung muß die Verhandlungen wieder in die Hand bekommen.“

Er fragt, ob die Bezahlung von Reparationskohle durch Goldanleihe möglich sei.

Am Ende seiner Ausführungen geht er kurz auf die Reparationslieferungen an Italien ein36.

36

S. hierzu Dok. Nr. 97 mit Anm. 14.

Der Reichsminister der Finanzen erwidert, daß eine Bezahlung von Reparationslieferungen durch Goldanleihe nicht in Frage komme.

Der Reichsarbeitsminister37: Man müsse die Verhandlungen, die in Düsseldorf[532] gepflogen worden seien, richtig bewerten. In der Presse wurden sie vielfach so dargestellt, als ob sie gleichfalls Verrat seien. Dem könne er nicht beipflichten. Gegen solche Presseberichte müsse man vorgehen. Eine Möglichkeit, die Kohlensteuer zu bezahlen, Reparationszahlungen zu leisten oder Industriekredite zu geben, sehe er gegenwärtig nicht.

37

In der Aufzeichnung Saemischs heißt es zu den Ausführungen von Brauns: „Die Industriellen haben nicht ohne Vorwissen des Kanzlers verhandelt. Bis 20. Oktober können die Dinge von der Regierung nicht in Ordnung gebracht werden, so daß Verhandlungen der Industriellen verständlich sind (am 20. Oktober fallen die Kredite des Reichs fort). Schreiben der Industriellen ist ein Fragebogen der durch den Reichskanzler [unleserlich] ist. Besprechung in Brüssel ist unerheblich gegenüber Paris. Grundsätzlich Bereitwilligkeit zu Reparationszahlungen, aber im Augenblick unmöglich. Ebensowenig ist Zahlung der Kohlensteuer für die rückliegende Zeit [unleserlich] möglich.“

Der Reichswirtschaftsminister38: Die Hauptfrage sei: soll man heute in die Ruhr noch einen Heller hineinstecken oder nicht? Hierüber müsse absolute Klarheit geschaffen werden. Er selber sei der Auffassung, daß kein Pfennig mehr hineingesteckt werden dürfe, komme, was wolle. Man müsse dann folgende Weisung an die Industriegruppen geben: Wir raten Euch, mit den Besatzungsmächten in Verbindung zu treten; wir gestatten Euch, in Wirtschaftsfragen zu verhandeln, nicht aber in politischen Fragen. Die Vorwürfe gegen die Industrie in der Presse müßten aufhören. Sein Vorschlag habe vielleicht das Ergebnis, daß wir das Ruhrgebiet zunächst verlieren. Handelten wir nicht so, so würden wir unter Umständen aber auch das unbesetzte Gebiet verlieren.

38

Die Aufzeichnung Saemischs lautet: „Über Frage, ob über 20. 10. hinaus etwas in die Ruhr gegeben werden soll, muß Klarheit geschaffen werden. K. hält es für unmöglich, ist für selbständige Verhandlung der Industriellen mit den Franzosen in wirtschaftlichen Fragen; politische Fragen – wie Bahn – sind ausgeschaltet. Demobilmachungsbestimmungen müssen ihnen preisgegeben werden. Ruhrgebiet ist verloren.“

Vorsorge getroffen werden müsse für die Unterbringung weiterer Ausgewiesener aus dem besetzten Gebiet. Ein klarer Bescheid müsse auch an Frankreich gegeben werden. Wir seien grundsätzlich bereit zu Reparationsleistungen, wir könnten sie aber gegenwärtig aus finanziellen Gründen nicht zahlen.

Der Reichskanzler schließt an diese letztere Äußerung an und betont nochmals, daß das eine, nämlich Leistungen von Reparationen, das andere, die Wiederherstellung der Wirtschaft im Ruhrgebiet notwendigerweise bedinge39.

39

In der Aufzeichnung Saemischs wird festgehalten: „Kredite an Industrie und keine Reparationszahlungen schließen sich aus“.

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete berichtet, daß fortgesetzt Klagen und Forderungen von Einzelpersonen, Gemeinden oder sonstigen Verbänden bei ihm vorgebracht würden. Zumeist handele es sich um finanzielle Forderungen. Aus alledem, was ihm zu Gehör komme, ergebe sich, daß die Lage in den besetzten Gebieten nahezu verzweifelt sei40. Er halte sich für verpflichtet, dieses dem Kabinett ausdrücklich zur Kenntnis zu bringen, ehe man sich entschließe, die finanziellen Unterstützungen für das besetzte Gebiet völlig abzubauen41. Unerhört sei auch das Vorgehen Frankreichs im Ruhrgebiet.[533] Die Bedrückung der Franzosen nähme trotz des Abbaues des passiven Widerstandes ihren Fortgang und öffentliche Gelder würden nach wie vor beschlagnahmt42. Er glaube, daß man absichtlich der Bevölkerung alle Leistungen und Bedrückungen auferlege, weil man damit die Berliner Regierung moralisch verpflichten wolle, alles das zu zahlen. Bezüglich der Verhandlungen der Industrievertreter mit dem General Degoutte glaube er auch, daß die öffentliche Meinung der Absicht der verhandelnden Industriellen nicht gerecht werde.

40

In einem Schreiben an den RK vom 4.10.23 hieß es über die Stimmung im Rheinland: „Am Rhein sieht es traurig aus, ich habe keine Hoffnung mehr, es geht schlimm schief, Berlin verkennt die Lage vollständig und dadurch zieht sich alles in die Länge und das ist gerade das Unglück, weil das rheinische Volk am Ende seiner Nerven ist“ (R 43 I /215 , Bl. 267).

41

Aus einem Schreiben des Arbeitgeberverbandes Neuwied-Andernach vom 10.10.23 ohne Angabe des Adressaten geht hervor, daß auf eine durchgreifende Änderung der Richtlinien, die das RArbMin. erarbeitet hatte, nicht mehr gerechnet wurde. Es wurde aber hervorgehoben, „daß es für die seit fast 9 Monaten schwer leidende Rheinische Bevölkerung unfaßlich ist, sich vom Reiche so gut wie ohne jedes Übergangsstadium auf Selbsthilfe gesetzt zu sehen, wo sämtliche private Hilfsquellen ausgeschöpft sind und an eine Wiederaufnahme produktiver Arbeit angesichts des Zustandes der Eisenbahn und angesichts des Verhältnisses zwischen Reichseisenbahnverwaltung und Regiebahn auf lange Wochen hinaus in nennenswertem Umfange nicht zu denken ist.“ Im einzelnen wurden dann gefordert und begründet: ein Ernährungskredit, produktive Kredite für den wirtschaftlichen Wiederaufbau, die Wiederaufnahme des Eisenbahnverkehrs, die Beseitigung der Demobilmachungsbestimmungen über Wiedereinstellung bzw. Entlassung von Arbeitern und Abänderung des Arbeitszeitgesetzes (R 43 I /215 , Bl. 290–294). Diese Darstellung und Forderungen wurden in der Rkei überreicht und dazu „eine erschütternde Darstellung der Not in den Betrieben der dortigen Belegschaften als Folge der plötzlichen Krediteinstellung“ gegeben (Vermerk Kieps vom 12.10.23; R 43 I /215 , Bl. 295).

42

Meldungen in der „Zeit“ ergeben, daß die Ausweisungen aus dem besetzten Gebiet von den französischen Behörden fortgesetzt worden waren. Am 8. 10. wurde aus Mainz berichtet, daß französische Sicherheitspolizei in einem D-Zug auf der Strecke Köln–Berlin bei Vohwinkel 231 Billionen Mark und in Bochum am 6. Oktober 2 Billionen Mark beschlagnahmt habe (Zeit, 10.10.23, Nr. 234). Vom Präsidenten des Landesfinanzamts Würzburg war dem RFM am 6.10.23 mitgeteilt worden: „Der Kreisdelegierte der Pfalz, General de Metz, hat einem Beamten der Pfalz mitgeteilt, daß eine Notifikation über die Einstellung des passiven Widerstands in Koblenz noch nicht erfolgt sei; der Rheinlandkommission sei eine offizielle Mitteilung hierüber noch nicht zugekommen. Die Folge ist: ‚la guerre continue.‘ – Damit würde es wohl im Zusammenhang stehen, daß in der letzten Zeit zahlreiche Ausweisungen verfügt wurden“ (R 43 I /189 , Bl. 215).

Der Reichsverkehrsminister berichtet über die von der Regieverwaltung geforderte Eidesleistung43. Der Eid werde von den Eisenbahnbeamten, die sich der Regie zur Verfügung stellten, nach wie vor gefordert. Die Franzosen behaupteten dazu, es handele sich hierbei nicht etwa um einen politischen Eid, der den Beamten gegenüber den Besatzungsbehörden verpflichte, sondern lediglich um einen Diensteid44.

43

S. dazu zuletzt Dok. Nr. 115.

44

In einer Unterredung eines Vertreters des Oberpräsidiums in Koblenz mit dem Generalsekretär der Rheinlandkommission Isambert hatte dieser erklärt, „es handele sich jetzt um Diensteid (serment professionnel), indem die Beamten sich verpflichten, ihren Dienst treu und gewissenhaft zu erfüllen. Von einer Huldigung an die Besatzung oder überhaupt von einem politischen Charakter der Verpflichtung sei keine Rede. Über diesen Punkt bestehe bis hinauf zu Herrn Poincaré kein Mißverständnis.“ Dieser Eid werde auch von Zoll- und Forstbeamten verlangt (Niederschrift eines Telefonats vom 9.10.23, die der Rkei durch den RMbesGeb. am 11.10.23 übersandt wurde; R 43 I /215 , Bl. 301/302).

Im übrigen könne er sich nicht auf den Standpunkt des Herrn Reichswirtschaftsministers stellen. Trotz der großen finanziellen Notlage, in der sich das Reich befinde, sei ihm der Gedanke unerträglich, nunmehr Ruhr- und Rheingebiet finanziell völlig aufzugeben. Er bitte zu prüfen, ob nicht gemeinsam mit der Industrie im Anleihewege Geldmittel für einen Anlaufkredit aufgebracht werden könnten.

Weiter geht er auf die Verhandlungen, die gegenwärtig in Mainz über die Wiederinbetriebnahme der Eisenbahnen stattfänden, ein. Er bitte, mit Genehmigung des Kabinetts zu diesen Verhandlungen den Staatssekretär Stieler entsenden zu dürfen45.

45

Dazu die Aufzeichnung Saemischs: „Oeser einstweilen nicht für Vorschlag Koeth. Für Anleihe zu Gunsten der Ruhr. Verhandlungen wegen Feststellung des Eisenbahnverkehrs mit dem besetzten Gebiet sind notwendig […]“.

[534] Der Reichskanzler bemerkt hierzu, man müsse an dem grundsätzlichen Standpunkt festhalten, daß es für uns unmöglich sei, den Franzosen nunmehr die Regie einzurichten, die dann von ihnen später ohne unsere Mitwirkung betrieben würde. Wenn der Staatssekretär Stieler nach Mainz gehe, so dürfe er sich dort lediglich informatorisch betätigen und sich im wesentlichen zuhörend verhalten46.

46

Die Aufzeichnung Saemischs lautet hier: „Stresemann [unleserlich] die Stinnes Gruppe, tadelt die Wolff Gruppe, die einen Vertrag getätigt hat. Über Eisenbahn kann nur Reich verhandeln, aber nur dann wenn grundsätzlich verhandelt werden kann. Sonst bringen wir die Regie zu Gunsten der Franzosen in Ordnung.“

Der Reichswehrminister geht auf die gegen die Presse vorgebrachten Beschwerden bezüglich der Berichterstattung über die Düsseldorfer Verhandlungen ein. Er schlägt vor, die Berliner Presse und führenden Korrespondenten zusammentreten zu lassen und vor die Frage zu stellen, ob sie gewillt seien, entsprechend einer vorherigen Verständigung im Sinne der Regierung zu berichten; sonst müsse man sie unter Vorzensur stellen.

Der Reichskanzler wendet sich gegen den Vorschlag des Reichswehrministers. Die ersten Presseberichte über die Düsseldorfer Verhandlungen seien aus Paris gekommen. Damit sei wohl auch die teilweise irreführende Berichterstattung zu erklären. Er habe heute die Presse über den wahren Sachverhalt persönlich aufgeklärt47.

47

Hierzu lautet die Aufzeichnung Saemischs: „Geßler für gewisse Form der Presse-Zensur (Schmidt heftig dagegen), damit das Gefühl gestärkt wird, daß die Regierung führt. – Stresemann will Beruhigung [?] der Presse selbst im Reichstag [?] schaffen.“

Der Reichsarbeitsminister kommt kurz auf die zur Verhandlung stehende Hauptfrage über die Gewährung von Krediten an die Industrie zurück und bemerkt, daß die Industrie auf diese Frage und auf die im Schreiben von Herrn Stinnes aufgeworfenen weiteren Fragen eine klare Antwort nach Eingang der Stellungnahme aus Paris erwarte.

Der Reichskanzler erklärt hieran anknüpfend, daß das Kabinett erst nach Eingang des Berichts über die Rücksprache des deutschen Geschäftsträgers in Paris mit dem französischen Ministerpräsidenten endgültig Entscheidung treffen könne48.

48

S. Dok. Nr. 128.

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